Freitag, 10. Mai 2024

Archiv


Folter im Namen des Antiterrorkampfes

Die Kaukasusrepubliken Dagestan und Tschetschenien gelten für den Kreml als Rückzugsort für islamistische Terroristen. Auch den Anschlag auf die Moskauer Metro sollen Frauen aus Dagestan verübt haben. Doch dem Terror ist mit Gewalt nicht beizukommen, sagen Mitglieder von Memorial - eine Menschenrechtsorganisation, die sich in Dagestan engagieren.

Von Gesine Dornblüth | 30.04.2010
    Katja Sokirjanskaja hat vorgeschlagen, sich in einem Café zu treffen. Sie bestellt Tee und Fettgebackenes - eine Erinnerung an ihre Kindheit, sagt die 34-Jährige und stellt nach dem ersten Bissen fest, dass das Gebäck früher besser geschmeckt habe.

    Das Gespräch über den Nordkaukasus möchte die Politologin auf Englisch führen, wegen der vielen Leute an den Nachbartischen.

    "Leider ist Russland ein autoritärer Staat. Die meisten Leute beziehen ihr Wissen aus dem staatlich gelenkten Fernsehen, und dementsprechend kennen sie nur die eine Seite der Medaille: den Terrorismus. Sie haben keine Ahnung davon, welche Ungerechtigkeiten im Nordkaukasus geschehen, und deshalb verstehen sie auch unsere Arbeit nicht."

    Katja Sokirjanskaja reist im Auftrag von Memorial durch den Nordkaukasus und geht Nachrichten über Menschenrechtsverletzungen nach, die russische Sicherheitskräfte im Rahmen ihrer sogenannten Antiterroroperationen begehen. Denn diese Verbrechen sind ihrer Meinung nach mit verantwortlich für den Terror kaukasischer Extremisten.

    Die russische Regierung hat ihren Antiterrorkampf zwar in Tschetschenien offiziell beendet, in den Nachbarrepubliken geht er jedoch weiter. Auch in Dagestan, woher die beiden mutmaßlichen Selbstmordattentäterinnen in der Moskauer Metro kamen.

    "All die schweren Menschenrechtsverletzungen, die wir in Tschetschenien seit über einem Jahrzehnt festgestellt haben, geschehen zurzeit auch in Dagestan: gewaltsames Verschwindenlassen, Entführungen, Massenhinrichtungen. Sehr verbreitet sind auch Folter, sexuelle Gewalt an Frauen und Männern, das Fabrizieren von Strafsachen."

    Sokirjanskaja spricht von Staatsterror im Nordkaukasus. Fromme Muslime stünden unter Generalverdacht. In Dagestan leben mehr als 100 Völker, die meisten sind muslimisch, viele von ihnen praktizieren einen sehr traditionellen Islam.

    "Der fundamentalistische Islam ist dort sehr heterogen. Es gibt verschiedene Bewegungen und Untergruppen, und längst nicht alle sind militant oder haben etwas mit Terrorismus zu tun. Aber sobald Frauen sich ganz verschleiern oder Männer sich sehr strikt an religiöse Regeln halten, werden sie für den Staat zu Tatverdächtigen und können willkürlich verhaftet und gefoltert werden."

    Katja Sokirjanskaja redet mit den Opfern und ihren Angehörigen und setzt sich bei den Behörden dafür ein, dass Ermittlungen aufgenommen werden. Wie zum Beispiel im Jahr 2008, als auf ihren Druck hin zwölf verschwundene Personen wieder gefunden wurden. Einige waren gefoltert worden.

    "Aber unsere Möglichkeiten, die Situation zu beeinflussen, sinken. Die Menschen wenden sich an uns, und sehr oft ist es schwer zu helfen. Es gab zum Beispiel einen Fall Ende Oktober 2008. Da verschwanden drei Männer aus einem Dorf in Dagestan, und noch am selben Tag hieß es im Fernsehen, sie seien bei einem Schusswechsel getötet worden. Aber die Angehörigen erhielten die Leichname, und die wiesen schlimme Spuren von Folter auf. Eine der Leichen hatte nicht mal eine Schussverletzung. Wir versuchen jetzt schon seit bald eineinhalb Jahren zu erreichen, dass Ermittlungen wegen Mordes eingeleitet werden. Wir haben Videoaufzeichnungen und andere Beweise dafür, dass diese Menschen umgebracht wurden. Aber bisher ohne Erfolg. Diese Straflosigkeit spielt den Radikalen in die Hände. Ihr Argument ist: Wenn solche Verbrechen an den Menschen in Dagestan geschehen, dann rechtfertige das den, wie sie es nennen, 'gerechten Krieg' gegen den russischen Staat."

    Katja Sokirjanskaja fährt seit drei Jahren nach Dagestan. Sie hat Dutzende Opfer der staatlichen Gewalt getroffen. Und sie befindet sich in einer Zwickmühle. Sie will deutlich machen, weshalb die Menschen dort in den Untergrund gehen, und die Ursachen bekämpfen. Das kann ihr aber schnell so ausgelegt werden, als würde sie den Terror der Extremisten rechtfertigen. Dabei hat sie nicht das geringste Verständnis für die Anschläge in Moskau und anderswo, bei denen unschuldige Menschen sterben.

    "Wir sind in einer schwierigen Situation. Diese Terrornetzwerke bestehen wirklich aus radikalen Leuten, und es ist überaus schockierend, was in Moskau geschehen ist. Ich stehe immer noch unter Schock. Natürlich hat der Staat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, seine Bürger vor Terroristen zu schützen, und er muss alle Mittel nutzen, um diese Terrornetzwerke zu bekämpfen, auch militärische Mittel. Aber es ist ganz klar, dass die Mittel, die der Staat bisher benutzt hat, nicht effektiv sind."