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Foltermord im Jugendknast

2006 vergewaltigten, folterten und zwangen drei Jugendliche einen Mithäftling in der Justizvollzugsanstalt Siegburg zum Selbstmord. Der Hochschulabschlussfilm "Picco" von Philip Koch lehnt sich an dieses Ereignis an, zeichnet die Geschichte aber nicht einfach nach, sondern nimmt uns mit in eine fremde gewalttätige Gegenwelt.

Von Josef Schnelle | 03.02.2011
    "Picco" - so nennt man im Jargon des Jugendknastes den Anfänger, den Frischling, denjenigen, der noch nicht weiß, wies läuft. In der Hierarchie des Gefängnisses steht er ganz unten. Er muss täglich Demütigungen ertragen und die unangenehmen Arbeiten verrichten. In der Gegenwelt der Gefängnisinsassen kommen die Wächter eigentlich nicht vor. Nur wenn was Besonderes passiert ist, geben sie Auskunft.

    "Was war denn da gestern los, Herr Dräger." - "Ne Selbsttötung." - "Wie? Juli." - "Hat noch nen Beamten verletzt."

    Kevin und Tommy wissen eigentlich genau, was los gewesen ist. Sie haben das verzweifelte Stöhnen ihres Mitgefangenen Juli genau gehört und sich denken können, was ihre sadistischen Zellengenossen Marc und Andy mit dem Jungen anstellen. Schließlich waren sie selber erleichtert gewesen, als die Aggressionen der geheimen Bosse des Knastes von ihnen, den natürlichen "Opfern" auf einen anderen übergegangen waren.

    2006 vergewaltigten, folterten und zwangen drei Jugendliche einen Mithäftling in der Justizvollzugsanstalt Siegburg zum Selbstmord. Der Hochschulabschlussfilm "Picco" von Philip Koch zeichnet aber nicht einfach diese konkrete Geschichte nach. Er nimmt uns vielmehr mit in eine fremde gewalttätige Gegenwelt. Schon hinter dem scheinbar harmlosen Jungsstreich, einen Brief von zu Hause zu stibitzen, lauert Schlimmeres.

    "Thomas, Post für Sie." - "Danke!" - " Mir brauchen Sie nicht zu danken." - "Was ist denn das?" - "Gar nichts. Ach hör doch auf." - "Jetzt bleib mal locker , wir erlauben uns nur einen kleinen Spaß."

    Wenn sich das Gefängnistor hinter Picco schließt und der Weg frei wird zum Innenhof, in dem die Jugendlichen ihre kleinen Freiheiten beim Hofgang genießen, wird klar, dass hier eine unkontrollierbares Aggressionszentrum entsteht. Die Verabredungen werden nur geflüstert. Und in Sekunden werden die internen Strafen der einsitzenden Gewaltherrscher hinter Gefängnismauern vollzogen. Ein ganzes Genre des Hollywoodfilms beschäftigt sich mit der rauen Welt des Knastes zwischen Widerstand und Widerwillen. Clint Eastwood floh aus Alcatraz und Robert Redford deckte als "Brubaker" die Missstände des Strafvollzugs auf. Dass auch in deutschen Gefängnissen das Leben kein Zuckerschlecken ist, war spätestens seid Burkhardt Driests autobiografischem Film "Die Verrohung des Franz Blum" 1974 bekannt. Gewalt, Vergewaltigung und Drogenhandel waren auch schon im Leben des ehemaligen Bankräubers und späteren Filmemachers in seiner Knastzeit Alltag. Die neue Welle der Gefängnisgewalt mit Morden und erzwungenen Selbsttötungen erreichte aber dennoch inzwischen ein besonderes Level der Grausamkeit. In die Enge getrieben von der Ausweglosigkeit der Gefängnissituation empfinden die Jugendlichen ihre Leben als surreale Konstruktion, in der es nicht Mal mehr die Hoffnung auf ein Leben danach, also außerhalb des Gefängnisses zu geben scheint.

    "Sag mal: Wie blöde bist du eigentlich. Du bist hier im Jugendknast. Keine Sau da draußen interessiert es, ob du wegen Raub, Drogen oder Mord hier drin bist oder wie lang. Du hast verkackt. Wir alle haben verkackt. Es gibt gar kein Draußen mehr. Auch nicht für dich. Krieg das mal in deine Birne Picco."

    Philip Koch setzt übrigens filmisch keineswegs auf spektakuläre Gewaltdarstellung, wie man angesichts des Themas annehmen könnte. In entscheidenden Szenen blickt die Kamera immer wieder weg. Manchmal hört man nur den Horror und das auch noch gedämpft aus Nebenräumen. Die Angst der betroffenen Junginsassen ist hingegen durch eine entsprechende schauspielerische Leistung vor allem von Hauptdarsteller Constantin von Jascheroff hautnah zu spüren. Ein erstaunlich kompromissloses und packendes Kino-Debüt angesichts eines schwierigen Stoffes, der mehr Auskunft über die innere Verfasstheit unserer Gesellschaft gibt, als manche Dokumentation. Und Fragen aufwirft: Wie entstehen Grausamkeit und brutale Gewalt und was verrät sie über den Rest der Gesellschaft? Ein anstrengender Film, der seinem Publikum auch ein ums andere Mal furchtbare Wahrheiten zumutet. Aber ein ungewöhnliches echtes Kinoerlebnis.