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Fontane-Handbuch

Am 4. Januar 1890 versammelte sich das literarische Berlin im Englischen Haus in der Mohrenstraße: Geburtstagsparty für einen älteren Herrn, der 70 wurde. Name dieses - mittlerweile ergrauten -Glückskind: Theodor Fontane. Man trug an jenem Festabend u.a. seine Ballade vom "Archibald Douglas" vor (wenn auch nicht, wie hier, in der Vertonung von Carl Loewe). Jedoch: Der Jubilar war verstimmt, denn: der Adel war nicht erschienen. All die Literaten waren Fontäne zwar lieb und teuer, doch die Anwesenheit der höheren Herrschaften wäre ihm zweifellos lieber gewesen, hatte er sie doch alle in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" gebührend bedacht. Selbst die Festrede des damaligen Kultusministers vermochte Fontanes Laune nicht entscheidend zu bessern.

Christoph Vratz |
    Nachzulesen ist diese Episode im neu erschienenen "Fontäne-Handbuch". Die Herausgeber sind zwei Fontäne-Koryphäen: Christan Grawe und Helmuth Nürnberger. Letzterer ist Eingeweihten bestens bekannt als einer der beiden Herausgeber der großen Fontane-Werkausgabe. Hier nun gibt es auf 1056 Seiten Fontäne satt. Bereits das Inhaltsverzeichnis lässt ahnen, mit welcher Akribie man sich dem Ex-Pharmazeuten Fontäne genähert hat. Einige der Überschriften lauten:

    Fontanes Beziehungen zu Zeitungen - Theodor Fontäne, die Juden und der Antisemitismus - Fontäne und Heine - Fontäne und Storm - Fontäne und die Religion - Fontäne und die zeitgenössische Kritik - Fontäne in den audiovisuellen Medien

    Dazu kommen Artikel zu Fontanes journalistischen Werken, zu den Tagebüchern und Briefen und -natürlich - zu seinen Romanen und Gedichten.

    Nähern wir uns dem opulenten Band.von der praktischen Seite. Angenommen, wir suchten Informationen zum Spätwerk dieses so spätberufenen Autors: zum "Stechlin", entstanden zwischen Herbst 1895 und Sommer 1897. Wir schlagen also das Register auf. Genauer gesagt: das Werkregister. Denn glücklicherweise gibt es auch ein Personenregister, das dem Leser gleichfalls Orientierungshilfe bietet. Also: "Der Stechlin", 60 Einträge. Alle Achtung. Ein Hinweis jedoch ist fett gedruckt und verweist auf ein größeres Kapitel. Dort finden sich auf siebzehn Seiten Angaben zur Entstehung und zur Rezeption des "Stechlin", Hinweise über Anregungen, die Fontäne zur Niederschrift seines Buches animiert haben, sowie ein längeres Kapitel über Struktur und Thematik (die anderen Kapitel zu Fontanes Romanwerk sind übrigens identisch angelegt). Dort lesen wir auf Seite 674:

    Die Doppeldeutigkeit der Bilder, die handelnden Personen als Figuren und als Ziffern, der Roman als ästhetisches Gebilde und kaschierte Autobiographie -[all dies] gilt im besonderen Maß für die weibliche Hauptfigur, Melusine. Auf autobiographischer Ebene dient s-ie der Mythi'sierung von Fontanes französischem Erbe, ist sie doch in ihrem Ursprung eine Gestalt aus der französischen Sagenwelt, die viele Vorlagen in seinem Werk hat.

    Anstelle der entsprechenden Beispiele folgt an dieser Stelle ein Literaturhinweis, und schon wenige Zeilen hebt sich das thematische Passepartout ab, auf dessen Hintergrund die Melusine-Figur zu verstehen ist: "Undine", wie sie Friedrich de la Motte Fouque und in ihren Vertonungen E.T.A. Hoffmann bzw. Albert Lortzing künsterlisch bedacht haben. Schließlich werden auch noch zwei Böcklin-Bilder in die Diskussion eingeschleust. Einzelbeobachtungen geraten stets in einen übergeordneten Kontext. Und das ist gut so.

    Inwiefern also kennzeichnet dieses Beispiel die Qualität eines Bandes, an dem insgesamt 24 Wissenschaftler mitgearbeitet haben? Das Buch lebt von seiner ungewöhnlich hohen Dichte an Informationen. Im Sinne eines Handbuches geht es weniger um die Zusammenfassung oder Analyse einzelner Textstellen, als vielmehr um die Einordnung ganzer Werke und Strömungen in die entsprechenden historischen und thematischen Zusammenhänge Es geht darum,die Quintessenz von Fragestellungen und Leitgedanken zusammenzutragen. Diesem Ziel wird das "Fontäne-Handbuch" auf glänzende Weise gerecht. Natürlich richtet es sich auch an Wissenschaftler oder Studierende, gleichzeitig zählt es zur unentbehrlichen Grundausstattung eines jeden Fontäne-Liebhabers. Und dazu bedarf es schließlich keines Germanistik-Studiums.

    Gewiss, einige Kleinigkeiten fallen negativ ins Gewicht, etwa dass die Loewe- und andere Vertonungen an keiner Stelle erwähnt werden oder auch die Tatsache, dass man auf Tabellenübersichten konstant verzichtet hat, obwohl sie (etwa bei den Fontäne-Verfilmungen) sicher nützlich gewesen wären. /Doch was wiegen diese Mikrogramm-Einwürfe angesichts der Kilogramm-Vorzüge, mit denen dieser Band wuchern kann?

    Der Alfred Kröner Verlag hat sich nach den analog konzipierten Handbüchern zu Shakespeare und Richard Wagner, Thomas Mann und Schiller nun mit Fontäne ein weiteres Standardwerk ins Programm geholt. Hier wird die Kultur der zweiten Hälfte des'19. Jahrhunderts in all ihrer Vielfalt dokumentiert. Fontanes geistige Welt wird lebendig, der Leser erhält zahlreiche Einblicke in die Kammern seines bunten Lebens, in die privaten ebenso wie in die öffentlichen - darunter eben auch die zu seinem 70. Geburtstag.

    Sogar dass das Publikum den Vortrag der "Douglas"-Ballade mit verfrühtem Applaus unsanft störte, wird dem Leser vertrauensvoll mitgeteilt...