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Forderung nach Internationalem Strafgericht für Kolumbiens Ex-Präsidenten

Die Guerillagruppe M-19 besetzte am 6. November 1985 den Sitz des Obersten Gerichtes in Bogotá. Beim Gegensturm der Armee kamen Dutzende Geiseln im Kreuzfeuer ums Leben, mehrere Menschen verschwanden spurlos. Ein Gericht hat vor einigen Wochen in einem Urteil entschieden, dass ein Armeeoberst zwei Überlebende gewaltsam verschwinden ließ. Doch die Suche nach der Wahrheit ist noch nicht zu Ende.

Von Thomas Wagner, Bogotá |
    Cecilia Cabrera kann sich nicht erinnern, wie oft sie sich das Video schon angeschaut hat. Ein spanischer Fernsehsender machte die Aufnahmen am 7. November 1985. Ihr Ehemann Carlos ist darauf zu sehen. Es ist das letzte Lebenszeichen von ihm.

    "Man sieht hier Carlos, schau da ist er. Zwei Soldaten begleiten ihn. Es sind nur acht Sekunden, aber man sieht ihn die Treppe runterkommen. Es sind dieselben Gesichtszüge."

    Carlos Rodriguez hatte sich am Morgen des 6. November 1985 wie üblich mit einem Kuss verabschiedet. Das Ehepaar, er ist 29, sie 26, leitet seit fünf Monaten die Cafeteria im Obersten Gericht im Zentrum von Bogotá. Cecilia verspätet sich an diesem Tag. Das rettet ihr wahrscheinlich das Leben.

    "Meine Schwiegermutter musste an dem Morgen kurz raus, um etwas zu besorgen. Ich blieb deswegen länger zu Hause bei meiner Tochter und kam erst gegen elf Uhr Vormittag am Justizpalast an. Ich war zwei Straßenzüge vom Gebäude entfernt, da sah ich schon Leute schreiend fortlaufen. Eine Frau sagte mir, sie hätten den Palast besetzt. Alles war abgesperrt, man ließ mich nicht durch.”"
    Ein Kommando der linken Guerillagruppe M-19 hat nur wenige Minuten zuvor im Justizpalast 350 Geiseln genommen. Auch Carlos Rodriguez ist unter ihnen.

    Die 33 Rebellen fordern einen Prozess gegen den damaligen Präsidenten Belisario Betancur. Ihr Vorwurf: Trotz eines Friedensabkommens halte die Armee die Waffenruhe nicht ein.

    Die Kamerateams sind live dabei, als eine Stunde später Panzer durch den Haupteingang rollen. Die Armee hat mit der Rückeroberung begonnen. Chef der Operation vor Ort ist Oberst Plazas, der Schwiegersohn des Verteidigungsministers. 28 Stunden später hat die Armee das Gericht unter ihre Kontrolle gebracht.

    Die blutige Bilanz: 94 Tote, mehr als 60 davon Zivilisten, unter ihnen auch elf Verfassungsrichter. Die kolumbianische Nation ist erschüttert. Cecilia sucht derweilen verzweifelt nach ihrem Ehemann Carlos. Neben Carlos Rodriguez sind sieben Angestellte und drei Gäste der Cafeteria sowie eine Guerillakämpferin einfach verschwunden.

    Die Hinterbliebenen finden in den folgenden Jahren Hinweise darauf, dass die Armee zumindest einige von ihnen tötete. Regungslos liest Cecilia die Aussage eines Feldwebels vor:

    ""Oberst Plazas vermutete, dass in der Cafeteria vor der Besetzung Waffen deponiert worden waren. Er ließ Carlos Rodriguez als Komplizen foltern. Sie hängten ihn mehrere Male an den Daumen auf und schlugen ihm in die Hoden. Später rissen sie ihm die Fingernägel aus. Carlos starb während der Folter."

    Formell ist Kolumbien zu der Zeit ein demokratischer Rechtsstaat, doch viele Politiker und Teile von Armee und Polizei haben sich korrumpieren lassen. Die Drogenkartelle in Medellin und Cali haben Mittelsmänner in vielen staatlichen Institutionen.

    Gleichzeitig helfen Offiziere beim Aufbau paramilitärischer Verbände, um die Linksguerilla mit illegalen Methoden zu bekämpfen, sagt der Menschenrechtsverteidiger Rafael Barrios:

    "Die Besetzung des Justizpalastes teilt die Geschichte Kolumbiens in zwei Teile. Von da an beginnt die Armee, ihre Doktrin der inneren Sicherheit durchzusetzen. Und alles auszuschalten, was nach Guerilla oder Opposition ausschaut. Die Zahl der Gefolterten, und der unrechtmäßig Hingerichteten steigt."

    1991 spricht ein Militärgericht Oberst Plazas und weitere Offiziere frei. Sechs Jahre später entscheidet das Verfassungsgericht jedoch: Bei Menschenrechtsverletzungen müssen sich Soldaten vor einem normalen Gericht verantworten. Anlass für Cecilia, erneut Klage einzureichen.

    Schließlich wird 2005 eine Sonderstaatsanwältin beauftragt, den Fall der Verschwundenen aufzurollen, nun innerhalb der zivilen Justiz, sagt Rechtsanwalt Jorge Molano:

    "Zum ersten Mal nehmen die Ermittlungen eine Wendung. Die Staatsanwältin macht ihre Arbeit professionell. Sie beginnt, Zeugen und Angehörige zu befragen, und besucht die Garnisonen. Sie sucht dort Beweise, wo man sie suchen muss."

    Im Hause von Oberst Plazas findet sich das TV-Video, das zeigt, dass Carlos Rodriguez den Justizpalast lebend verließ. Ende Januar dann der Paukenschlag. Das Höchste Gericht von Bogotá verurteilt Plazas in zweiter Instanz zu 35 Jahren Haft. Laut Urteil ließ Plazas Carlos und die Guerrillera Irma Franco verschwinden. Der Verurteilte beteuert seine Unschuld:

    "Ich akzeptiere das Urteil nicht. Das ist das Gegenteil von Wahrheit. Ich glaube, dass die Justiz Opfer einer Infiltration durch die Feinde Kolumbiens geworden ist."

    Eigentlich hatten die Kolumbianer dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte aus dem Gedächtnis verdrängt. Nun holt es sie wieder ein, genau so, wie den damaligen Präsidenten Betancur. Er soll sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten, fordern die Richter. Das hat es in Kolumbien noch nie gegeben. Die Debatte um den Justizpalast wird weitergehen. Die Rechtsaufsicht der Regierung hat bereits Berufung gegen das Urteil eingelegt.