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Forderung nach Schuldenschnitt
"Griechenland nicht weiter Rattengift schlucken lassen"

Nach Meinung des Linken-Politikers Oskar Lafontaine kommt die Eurozone um einen Schuldenschnitt für Griechenland nicht mehr herum. Dies hätte eigentlich schon vor fünf Jahren passieren müssen, sagte der Fraktionschef der Linkspartei im Saarland im DLF. Ständige Rückzahlungsforderungen vergrößerten nur das Elend. Die Frage sei jetzt, ob die Griechen weiter "Rattengift" schlucken müssten.

Oskar Lafontaine im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Oskar Lafontaine bei einem Statement in der ARD-Talkshow "Anne Will".
    Oskar Lafontaine fordert weiter einen Schuldenschnitt für Griechenland. (dpa / Karlheinz Schindler)
    Lafontaine erinnerte damit an Worte des indischen Nobelpreisträgers Amartya Sen. Der Wirtschaftswissenschaftler hatte das Hilfsprogramm für Griechenland einst mit einer Mischug aus Anibiotika und Rattengift verglichen.
    Im DLF bezeichnete Lafontaine die bisherige Rettungspolitik der Eurozone als gescheitert. Schon 2010 sei bekannt gewesen, dass Griechenland zahlungsunfähig gewesen sei. Schon damals hätte man der Regierung in Athen einen Schuldenschnitt anbieten und dann sagen müssen: "Jetzt kommt ihr selber zurecht." Stattdessen habe die Bundeskanzlerin seither 60 Milliarden Euro an Krediten "in den Sand gesetzt". Ihre Aussage, wonach ein Schuldenschnitt gegen europäische Regeln verstoße, bezeichnete Lafontaine als Scheinargument; in der Eurozone werde seit Jahren gegen Richtlinien verstoßen. Die obersten Gerichte hätten das - unter Berücksichtigung der Realitäten - gebilligt.
    Der Linken-Fraktionschef im Saarland forderte die griechische Regierung auf, jetzt "wirkliche Reformen" durchzuführen. Die Reichen müssten besteuert und dazu der sogenannte Reederparagraph gestrichen werden. Ebenso sei es nötig, eine Steuer- und Katasterverwaltung aufzubauen.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Wird es ein drittes Hilfspaket geben und wird es möglich sein, Griechenland in der Eurozone zu halten? Die Lage ist derzeit so dramatisch, dass alles denkbar scheint. Ministerpräsident Tsipras hat gestern klar gemacht, Athen habe den Antrag auf Hilfe abgesandt. Doch ob dieser Antrag akzeptiert wird, das hängt davon ab, was Tsipras an Reformen liefert, und diese Liste muss heute um 24 Uhr vorliegen.
    Am Telefon ist jetzt Oskar Lafontaine, Vorsitzender der Linksfraktion im saarländischen Landtag, früher Ministerpräsident dort in diesem Bundesland, ehemaliger Bundesfinanzminister und Ex-SPD-Chef. Schönen guten Morgen, Herr Lafontaine.
    Oskar Lafontaine: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Herr Lafontaine, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der hat erstmals gestern eingeräumt, dass man auf ein Grexit-Szenario vorbereitet sei, und der CDU-Politiker Elmar Brok, der hat nach dem Auftritt von Tsipras gestern im Europaparlament gesagt, Tsipras wolle den Grexit, wir müssten jetzt deutlich machen, dass nur er die Verantwortung dafür trägt.
    Sind aus Ihrer Sicht also die Weichen auf Grexit gestellt?
    Lafontaine: Das kann man noch nicht sagen. Es spricht auch vieles dagegen, was man öffentlich hört. Insbesondere sind ja auch die Vereinigten Staaten interessiert - und das ist ja nicht unwichtig -, dass Griechenland im Euro bleibt. Insofern muss man jetzt abwarten.
    Aber man muss sehen, die Situation ist ja sehr, sehr schwierig, denn die Wirtschaftspolitik, die bisher völlig gescheitert ist, die ja die Verschuldung in Griechenland immer weiter nach oben getrieben hat und die die Arbeitslosigkeit mächtig gesteigert hat, hat der Nobelpreisträger Armatya Sen als Mischung aus Rattengift und Antibiotika bezeichnet.
    Es geht ja darum bei den sogenannten Reformen, dass die Griechen weiterhin Rattengift schlucken, und das ist natürlich eine ungemein schwierige Situation. Man muss also abwarten, wie weit sie noch bereit sind, Rattengift zu schlucken, um Griechenland im Euro zu halten.
    "Das war eine völlig unverantwortliche Politik"
    Heckmann: Sie sprechen von Rattengift. Auf der anderen Seite stehen Milliarden an Hilfszahlungen, an Krediten, und ist es nicht so, dass es die griechische Regierung gewesen ist, die immer wieder Zusagen nicht eingehalten hat, Termin um Termin hat verstreichen lassen und ständig mit völlig unzureichenden Vorschlägen in Brüssel erschienen ist.
    Lafontaine: Nun, diese Milliarden sind ja angehäuft worden, als es Tsipras noch gar nicht gab als Ministerpräsident, sondern sie sind ja in den vergangenen fünf Jahren angehäuft worden. Und wenn man nach diesen Milliarden fragt, muss man natürlich diejenigen fragen, die diese Kredite beschlossen haben, obwohl sie alle wussten, dass Griechenland seit 2010 zahlungsunfähig ist, also überschuldet ist.
    Insofern war das eine völlig unverantwortliche Politik auch hier in Deutschland. Es sind mehr oder weniger 60 Milliarden in den Sand gesetzt worden. Insofern war auch die Rede, die Herr Weber gestern im Europaparlament gehalten hat, ein Selbsttor, weil er die Frage aufgeworfen hat, ist Ihnen nicht klar, dass auch Krankenschwestern in der Slowakei oder Beamte in Finnland und so weiter das alles bezahlen müssen.
    Diese Frage muss er natürlich an Frau Merkel richten, denn die hat durch die Übertragung der privaten Schulden an die öffentliche Hand in Gesamteuropa diese Krankenschwestern, Beamten und so weiter zur Kasse gebeten.
    Heckmann: Aber Faktum ist ja, Herr Lafontaine, dass Athen diese Gelder haben wollte. Hätte man denn aus europäischer Sicht sagen sollen, nein, kommt nicht infrage, kommt selber zurecht?
    Lafontaine: Man hätte aus europäischer Sicht schon 2010 sagen sollen, dass man keinem überschuldeten Land immer weiter Kredite gibt. Das ist einfach völlig idiotisch, um es mal deutlich zu sagen. Sondern man hätte schon da über einen Schuldenschnitt sprechen müssen und sagen müssen, ihr kriegt einen Schuldenschnitt, aber dann kommt ihr selber zurecht.
    Heckmann: Namhafte Wissenschaftler fordern einen solchen Schuldenschnitt, also einen Erlass von Schulden, halten ihn für unvermeidlich. Auch IWF-Chefin Christine Lagarde hat jetzt eine Umschuldung, so wie sie es nennt, wieder ins Spiel gebracht. Allerdings muss man dazu sagen, es gab ja bereits einen Schuldenschnitt, und zwar in Höhe von rund 100 Milliarden Euro, auf Kosten der privaten Gläubiger, und der hat ja überhaupt gar nichts gebracht, Herr Lafontaine.
    Lafontaine: Ja. Es stimmt, dass der wenig gebracht hat. Und im Übrigen: Wenn man ihn näher sich betrachtet, dann ist das eben nicht auf Kosten der privaten Gläubiger, sondern es ging zunächst einmal um die Hälfte um die griechischen Banken. Das waren 50 Milliarden und die mussten dann sofort wieder rekapitalisiert werden von dem griechischen Staat. Davon hat er überhaupt nichts gehabt.
    Die nächsten 25 Milliarden kamen von der griechischen Rentenversicherung, auch davon hat er nichts gehabt. Es ging also um 25 Milliarden private gläubiger.
    Dazu könnte man auch noch einiges sagen. Aber selbst wenn die Vorbemerkung richtig wäre, dass es schon mal einen solchen Schnitt gab, das nützt ja alles nichts. Die Schuldensumme ist da und ein solcher Schnitt nützt nur etwas, wenn er wirklich Griechenland in die Lage versetzt, selbstständig wieder zu handeln. Das können sie derzeit nicht. Wenn man so will, ist die jetzige Regierung ja damit beschäftigt, fünf Monate lang von einem Gipfel zum anderen zu hetzen, die anderen auch, um zu betteln und zu versuchen, das Rattengift zu vermeiden. Es ist ihr aber nicht gelungen.
    "Wir kommen an einem Schuldenschnitt nicht vorbei"
    Heckmann: Das wird ja auch ganz zentral in die Mitte und ganz nach oben gestellt, diese Forderung nach einem Schuldenschnitt von Athens Seite. Die Frage ist allerdings, was soll das praktisch überhaupt bringen, denn die Rückzahlung der Kredite, die steht ja erst im Jahr 2020 folgende an.
    Lafontaine: Na ja. Das ist ja in dieser Form nur ein Teil der Wahrheit, denn jetzt geht es gerade darum, dass demnächst wieder gezahlt werden muss und demnächst wieder gezahlt werden muss und demnächst wieder gezahlt werden muss. Beim IWF hat es ja angefangen und die Griechen können die Zahlung für den IWF nicht aufbringen. Also es geht wirklich darum, ein Land nicht mit Rückzahlungen zu konfrontieren, die zu immer größerer Verelendung führen würden.
    Insofern kommen wir an einem Schuldenschnitt nicht vorbei. Das ist ja auch keine neue Erkenntnis. Das sagt man jetzt schon einige Jahre und jeder, der etwas von Wirtschaft versteht, sagt das so. Aber Frau Merkel und Herr Schäuble und andere wollten halt nicht zugeben, dass sie sehr viele Milliarden in den Sand gesetzt haben. Das kann man ja in der internationalen Presse lesen.
    Das Hauptproblem sind nach etwa der angelsächsischen Presse die Europäer, die nicht zugeben wollen, dass sie auf dem falschen Weg waren und zig Milliarden verschleudert haben.
    "Rettungspolitik verstößt gegen europäische Verträge"
    Heckmann: Die Bundesregierung lehnt einen Schuldenschnitt vor allem deswegen ab, weil sie sagt, dass ein solcher Schritt gegen die europäischen Verträge verstoße. Denn die Europäische Union, die ist nie als Transferunion gegründet worden. Darauf pochen ja nun auch die Briten ganz stark beispielsweise. Daran können Sie doch auch nicht vorbeiblicken, oder?
    Lafontaine: Die Bundesregierung hat da ständig vorbeigeblickt, denn die ganze Rettungspolitik der letzten Jahre verstößt gegen die europäischen Verträge. Das weiß man ja und insofern ist das ein Scheinargument. Hätte man die europäischen Verträge wirklich durchgehalten, hätte es diese Rettungspolitik niemals gegeben.
    Heckmann: Die obersten Gerichte jedenfalls, die haben die Politik bisher immer bestätigt.
    Lafontaine: Was sollen denn die obersten Gerichte machen? Letztendlich geht es ja darum, dass wir in einer Situation sind, wo ständig die Frage steht friss oder stirb, also fliegt dann Griechenland raus, kann nicht mehr zahlen, und insofern haben die obersten Gerichte, wenn man so will, bei ihren Entscheidungen auch immer die reale Situation berücksichtigt. Aber dass gegen die Verträge massiv verstoßen worden ist, wird ja niemand bezweifeln.
    "Es geht nicht nur um Griechenland"
    Heckmann: Innerhalb der SPD, also Ihrer früheren Partei, Herr Lafontaine, da gibt es eine Debatte darüber, ob der Kurs gegenüber Griechenland denn so richtig ist, den der Parteichef Sigmar Gabriel da verfolgt. Der hatte ja am Sonntag, nachdem das Ergebnis des Referendums bekannt war, gesagt, Athen habe alle Brücken abgerissen. Da gab es intern Kritik innerhalb der SPD.
    Vorher hatte er sich schon mal mit der Äußerung zu Wort gemeldet, deutsche Arbeitnehmer könnten ja nicht Griechenland finanzieren. Wundern Sie sich über den Kurs, den Sigmar Gabriel da gegenüber Athen eingeschlagen hat?
    Lafontaine: Ja, ich wundere mich sehr über diesen Kurs, und ich freue mich, dass es innerhalb der SPD Kritik daran gibt, denn die SPD ist die Partei der europäischen Einigung und die Sozialdemokraten sollten insbesondere ein Spiel durchschauen. Es sind ja nicht die griechischen Rentner in den letzten Jahren gerettet worden, sondern die waren immer mit neuen Kürzungsprogrammen konfrontiert, ebenso wie die Arbeitnehmer. Und Gabriel übersieht, dass die gegenwärtige Politik nicht nur in Griechenland Rentnern und Arbeitnehmern schadet, sondern auch in Deutschland Rentnern und Arbeitnehmern schadet, denn die jetzige Politik ist eine neoliberale Politik und in Deutschland haben wir ein Lohndumping seit vielen, vielen Jahren, das eines der großen Probleme, wenn nicht sogar das größte Problem der Währungsunion ist. Es geht nicht nur um Griechenland. Das ist ja ein völliger Irrtum der gegenwärtigen Debatte.
    Die Währungsunion, so wie sie jetzt praktisch aussieht, funktioniert nicht. Letztendlich führt das deutsche Lohndumping auch zu einer schleichenden Deindustrialisierung in Italien und in Frankreich beispielsweise, und das wird auf Dauer nicht so weitergehen können.
    Heckmann: Wenn Sie von der Partei der Solidarität sprechen, der SPD, so ganz fremd sind Ihnen solche Äußerungen ja auch nicht. Sie haben 2005 auf einer Rede davor gewarnt, dass Fremdarbeiter deutschen Arbeitnehmern den Job wegnehmen.
    Lafontaine: Das wusste ich jetzt, dass Sie damit kommen würden. Nur hatte das damals zum Ziel zu sagen, wir brauchen einen Mindestlohn. Ich habe mich etwas unglücklich ausgedrückt, da haben Sie Recht.
    Heckmann: Gut!
    Bis 24 Uhr - ich habe es gerade auch schon mal erwähnt - muss Athen eine neue Liste vorlegen mit Reform- und Sparmaßnahmen. Was erwarten Sie denn jetzt von der griechischen Regierung, um mal nicht immer nur nach Brüssel und nach Berlin zu gucken?
    Lafontaine: Das ist richtig. Ich erwarte von der griechischen Regierung - aber dazu braucht sie natürlich Zeit -, dass sie die Reformen durchführt, die wirkliche Reformen sind.
    Wir haben in Griechenland beispielsweise keine Besteuerung der Vermögenden und der Reichen. Sie kennen den berühmten Reeder-Paragrafen. Die Reeder müssen keine Steuern zahlen. Eine "Reform" begänne damit, dass man den Reeder-Paragrafen aus der Verfassung streicht.
    Reform der griechischen Verwaltung dringend erforderlich
    Heckmann: Aber die Regierung ist ja jetzt schon fünf Monate im Amt, eine linke Regierung, eine links geführte Regierung.
    Lafontaine: Aber eine Steuerverwaltung beispielsweise, das darf ich Ihnen sagen als jemand, der lange Jahre Großverwaltungen vorstand, eine Steuerverwaltung können Sie nicht in fünf Monaten aufbauen.
    Heckmann: Aber denken Sie nicht, dass ein Gesetz schon auf den Weg gebracht werden könnte?
    Lafontaine: Sie können eine Steuerverwaltung nicht in fünf Monaten aufbauen, insbesondere dann nicht, wenn Ihnen jemand im Nacken sitzt und sagt, Sie müssen weiteres Personal entlassen. Wenn ich richtig informiert bin, haben die Griechen so viele Steuerprüfer wie ein ganz, ganz kleines Bundesland, und das kann so nicht funktionieren. Die brauchen zuerst mal eine ordentliche Steuerverwaltung.
    Dann brauchen sie eine Katasterverwaltung. Das kann man auch nicht innerhalb von fünf Monaten aufbauen. Aber solche Reformen sind natürlich dringend notwendig. Also wir brauchen in Griechenland wirklich Reformen, aber nicht Rattengift, sondern Reformen, die den Staat zum Funktionieren bringen: Steuerverwaltung, Katasterverwaltung und einen Lastenausgleich oder eine Vermögensabgabe.
    Also wir brauchen im Grunde genommen das, was Deutschland wieder auf die Beine gebracht hat nach dem Zweiten Weltkrieg. Deutschland hatte einen großen Schuldenschnitt bekommen auf der Schuldenkonferenz und Ludwig Erhard hat damals eine Vermögensabgabe, zahlbar über viele Jahre, von 50 Prozent der großen Vermögen ins Spiel gebracht. Genau das braucht jetzt auch Griechenland.
    "Luckes Schritt ist konsequent"
    Heckmann: Letzte Frage an Sie, Herr Lafontaine. Bernd Lucke hat gestern angekündigt, aus der AfD, der Alternative für Deutschland auszutreten. Ist das der Anfang vom Ende der AfD aus Ihrer Sicht?
    Lafontaine: Das kann man jetzt noch nicht sagen. Es könnte so sein. Auf der anderen Seite gibt es natürlich immer an dem rechten Rand die Möglichkeit, dass eine rechte Partei sich bildet. Ob das jetzt die anderen innerhalb der AfD zustande bringen, dass diese rechte Partei eine Fünf-Prozent-Partei wird, wage ich jetzt noch nicht abzuschätzen.
    Luckes Schritt ist konsequent, denn er ist ein Wirtschaftsliberaler. Er hat das deutsche Lohndumping beispielsweise auch immer mit befürwortet, aber er wollte natürlich nichts mit Rechtsradikalen zu tun haben.
    Heckmann: Oskar Lafontaine, Vorsitzender der Linksfraktion im saarländischen Landtag, Ex-Ministerpräsident, Ex-Bundesfinanzminister und Ex-SPD-Chef. Herr Lafontaine, danke Ihnen für das Gespräch und einen schönen Tag noch.
    Lafontaine: Schönen Tag Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.