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Formal genau kalkuliert

Die Verbindung von Kunst und Liebe ist ein Thema, das immer wieder Autoren beschäftigt. Kunst und Liebe: Beide sind sie Erregungszustände, die auf Verwandlung sinnen, auf Grenzüberschreitung. Beiden gemeinsam ist ihr Unbedingtheitsanspruch. Kunst und Liebe?

Von Sabine Peters | 14.06.2005
    Schließen sie sich nicht auch gerade aus in ihrem Absolutheitsanspruch?

    In Jan Lurvinks zweitem Roman unter dem Titel "Lichtung" verliebt sich der Ich-Erzähler, ein Pianist und Komponist, in die verschlossene, rätselhafte Claire, die soeben erst seinen besten Freund verlassen hat. Von ihr erfährt man nicht viel mehr, als dass sie aus einem betuchten Elternhaus stammt und dass sie gegen ihre Verspannungen in einem "Studio für Bewegungsarbeit" Hilfe beim Oberguru Rubalski sucht.

    Der Komponist erlebt eine glückliche Zeit mit ihr, erzählt ihr von seiner Arbeit, er schreibt ihr auch ein Klavierstück, das 33 Takte hat, so viele wie Claire Lebensjahre, und das mit der Note C beginnt und endet. Aber dann scheitert auch er an Claires überraschender Kälte und Unerreichbarkeit. Jan Lurvink schildert den Bewusstseinszustand seines Helden auf zwei zeitlichen Ebenen: Sein Glück und Unglück mit Claire wird in der Vergangenheit erzählt, in der Gegenwart unterzieht er sich einer medizinischen Untersuchung in Sachen Depressionsforschung, bei der die Wirkung von Licht und Dunkelheit auf die Gemütsverfassung der Probanden beobachtet wird.

    Das Buch ist formal genau kalkuliert, so entsprechen Claires 33 Jahren und den 33 Takten des Stücks natürlich auch 33 Kapitel. Kompositorische Verfahren wie Umkehrung, Wiederholung oder Spiegelung finden sich in Fülle. Es gibt kaum ein Motiv im Text, das nicht so oder so wieder aufgegriffen wird: Der Freund löst den Freund mit nahezu denselben Worten als Liebhaber Claires ab. Das Nachdenken über Musik erweist sich als eins über die Liebe. Und zusammen mit dem Körperarbeits-Guru Rubalski reflektiert der Komponist die Tatsache, das Menschen sowohl Musik wie auch ihre eigenen Körper zu oft als bloßes Vehikel gebrauchen, statt auf deren Eigenleben zu hören. In formaler Hinsicht wirkt Lurvinks Roman wie eine elegant gelöste Rechenaufgabe. Sprachlich rutscht er häufig aus. Da sind nicht nur unendlich viele "wie"-Vergleiche, über die man stolpert; hocken Menschen vielleicht wie Kerzen? Auch die Verwandlung von Adjektiven in Substantive wirkt manchmal aufgesetzt, müssen Krankenschwestern durch Flure "leiseln", statt leise zu gehen oder zu huschen?

    Man hat den Eindruck, der Autor ist gelegentlich unsicher, wo Pathos einzusetzen ist und wo es eher unterbleiben sollte. Da schreibt der Komponist seiner Claire einen Liebesbrief, der an den sogartigen, zwingenden Tonfall des Kierkegaardschen Verführers erinnert. Aber was soll in einer Passage neben "großen" Ausdrücken wie "Flammenkelch", "gekelterte Liebe", "Zauberlicht", was soll neben beschwörenden Suggestivfragen wie der, ob Claires Lebensfaden lose sei, der Vergleich schwimmender Kerzen mit Kindern, denen man "Schwimmflügelchen" überzieht und die man mit einem "Mutmach-Klapps" ins Wasser schickt? Man hätte dem Autor ein strengeres Lektorat gewünscht, das ihm solche Peinlichkeiten erspart hätte. Denn Lurvink hat literarische Ambitionen und auch Fähigkeiten.

    Manchmal artikuliert sich in diesem Text die Sehnsucht des Musikers nach dem Weg in die reine Freude, die Sehnsucht nach "Schönem" und "Wahrhaftigem", an der nichts Lächerliches, an der auch nichts Reaktionäres ist. Das ist momentweise eine Sehnsucht, die alles aufs Spiel setzt, die alles wagt, und der man folgt.

    Leider drohen solche Passagen unterzugehen in der Fülle von teilweise beliebigen Motiven. Dabei sind einige Fragen, die den Erzähler umtreiben, es wert, gestellt zu werden, also: Schließen Liebe und Kunst sich aus? Hat ein Künstler sich zu entscheiden zwischen "Leben" und "Werk"? Wie beeinflusst die zeitgenössische Rezeption von Musik die Möglichkeiten der Komponisten? Was ist vom "künstlerischen Durchbruch", vom Wettbewerb auf der freien Wildbahn des Marktes zu halten? Diese Fragen werden angerissen, aber nicht in ihrem Spannungsfeld entfaltet. Jan Lurvinks Held ist defensiv, ein Melancholiker, und das Buch ist entsprechend in Moll gehalten. Man kann diese Entsprechung, diese Verdoppelung bedauern: Hätte der Autor mehr Abstand zu seinem romantischen Helden, würde er ihm auch Elemente der Komik und Lächerlichkeit zumuten, man hätte mehr Luft als Leser.

    Stattdessen drückt es einen etwas peinlich, wenn am Ende des Romans auch noch Orpheus und Eurydike herbeibemüht werden und wenn der verlassene Komponist, bevor er sich an sein künstlerisches Werk macht, im Fensterspiegel sein Gesicht sieht, von dem es heißt, es gehe Tröstliches, Heiles von ihm aus, es versammele Kraft und seltene Stärke. Durch Nacht zum Licht. Herrje. Und der Held hat sogar verstanden, dass auf diesem Weg, ob es der durchs Leben oder der durch die Kunst ist, unvermeidlich auch Sackgassen und Holzwege begangen werden. Claire dagegen ist zuvor noch von den Freunden entlarvt worden als durchaus nicht "heil", als nicht stark, sondern als schwach; schluckt sie doch Medikamente gegen Schuldgefühle, muss sie sich doch jeden Morgen ein Menschengesicht erst aufschminken.

    Jan Lurvink spielt durch, was Roland Barthes in den "Fragmenten einer Sprache der Liebe" zeigte, ein Mann könne durch Liebe feminisiert werden. Barthes schrieb, der Mann nehme die Position ein, die historisch den Frauen zugeordnet werde, er sei jetzt der Wartende, leide unter der Abwesenheit der Geliebten, befinde sich in einem unabschließbaren Diskurs des Anredens und Heraufbeschwörens der Anderen, werde dünnhäutig und verletzlich. Jan Lurvink führt am Ende des Romans "Lichtung" ein Klischee vor, das in der Nähe zum Edelkitsch liegt:

    Verletzlichkeit und Dünnhäutigkeit werden zum Tröstlichen, sie werden zu künstlerischer Kraft geläutert. Die Sublimierung gelingt.

    Das ist zu schön.