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Forsa-Umfrage
Psychologin: Druck auf Schüler hat zugenommen

Etwa 30 Prozent aller Schüler empfinden Leistungsdruck, Angst vor Prüfungen und Stress, so eine aktuelle Forsa-Umfrage der Kaufmännischen Krankenkasse. Wenn diese Gefühle dazu führten, dass Schüler Vermeidungsverhalten zeigten, werde es kritisch, sagte die Psychologin Franziska Klemm im Dlf.

Franziska Klemm im Gespräch mit Markus Dichmann | 24.10.2018
    Ein Mädchen sitzt traurig auf Steinstufen, den Kopf auf den Tornister gelehnt.
    Die Anforderungen der Schulen haben nicht zugenommen, aber der Druck durch Eltern oder aus dem sozialen Umfeld (imago/Westend61)
    Markus Dichmann: Ein Drittel der Schüler aus sozial schwachen Haushalten fühlt sich an der eigenen Schule wohl, fühlt sich dort integriert und hat daher auch keine Angst vor Prüfungen und spürt auch keinen Leistungsdruck. Das ist eines der Ergebnisse der großen OECD-Bildungsgerechtigkeitsstudie, über die wir hier gestern auch schon berichtet und gesprochen haben in "Campus und Karriere". Das heißt aber auch, zwei Drittel der Schüler geht es anders. Zwei Drittel fühlen sich eben nicht wohl, und sie haben Angst vor Prüfungen und spüren Leistungsdruck. Darüber reden wir mit der Psychologin Franziska Klemm, die heute in Hannover eine Forsa-Umfrage zur psychischen Gesundheit von Schülern vorgestellt hat, beauftragt von der Kaufmännischen Krankenkasse. Grüße Sie, Frau Klemm!
    Franziska Klemm: Hallo!
    Dichmann: Gehen Ihre Zahlen in eine ähnliche Richtung wie der der OECD-Studie?
    Klemm: Ja, das auf jeden Fall. Wir haben nicht die Schüler direkt befragt, sondern ihre Eltern, circa 1.000 Eltern von Schülerinnen und Schüler haben an unserer Befragung teilgenommen. Leistungsdruck, wie ich das jetzt auf Angst vor Prüfungen und Leistungsdruck interpretieren würde, da stimmen 30 Prozent der Eltern zu, dass ihre Kinder das erleben, dass sie den Druck verspüren. Genau aber ähnlich verhält sich das mit Streit mit Freunden, Mobbing, und ein anderer Faktor, der häufig berichtet wird von den Eltern, war Stress durch soziale Medien. Somit sind unsere Zahlen ein kleines bisschen geringer, aber ich denke auch, wenn wir die Schüler direkt befragt hätten, wären wir zu einem sehr ähnlichen Ergebnis gekommen.
    Ab und an Angst ist "ganz normal"
    Dichmann: Okay, das heißt, die Schüler leiden unter Leistungsdruck, Stress durch Mitschüler, sowas wie Mobbing, Stress auch durch soziale Medien, aber ich sage mal, ein Schülerleben ist eben auch kein unkompliziertes Leben, und mit solchen Phänomenen wird wahrscheinlich jeder Schüler mal konfrontiert sein. Ab welchem Punkt begeben wir uns denn in den Bereich des Bedenklichen?
    Klemm: Das ist richtig. Also das Leben in der Schule ist sehr herausfordernd. Das generelle Aufwachsen, das Heranwachsen ist für Kinder und Jugendliche, Schülerinnen und Schüler ja schon eine große Herausforderung. Das muss man erst mal meistern. Es ist ganz normal, dass man ab und zu mal Angst hat, dass man vielleicht auch mal so das Kribbeln im Bauch spürt, dass man nervös ist vor einer Prüfung, dass man auch mal wirklich sagt, okay, das ist richtig doof gelaufen oder dass man sich auch mal mit seinen Freunden streitet. Das gehört zum alltäglichen Leben dazu. Kritisch wird es dann, wenn diese Gefühle dazu führen, dass die Schülerinnen und Schüler Vermeidungsverhalten zeigen. Das bedeutet, dass wenn sie vor einer Prüfung so aufgeregt sind, dass sie dann gar nicht mehr zur Schule gehen wollen oder auch gar nicht mehr können, dass sie so starke Bauchschmerzen haben oder so starke Kopfschmerzen, dass sie sich gar nicht mehr in der Lage fühlen, eine Klassenarbeit oder eine Klausur zu schreiben, oder dass sie sich auch einfach wirklich verweigern, oder dass sie dann sich gezwungen haben, in die Schule zu gehen, und sie sitzen da vor ihrer Klassenarbeit, und sie haben einen totalen Blackout, weil sie überhaupt nicht mehr handlungsfähig sind. Sie sind so nervös, dass ihre Nervosität sie daran hindert, das zu zeigen, was sie eigentlich könnten. Dann wird es kritisch.
    Dichmann: Und dann sind wir auch im Bereich von psychischen Erkrankungen.
    Klemm: Ja. Also das an sich, dass das mal vorkommt, ist ja noch keine psychische Erkrankung, aber diese Ereignisse, diese Gefühle, diese Emotionen, die ein Kind dann hat, können langfristig in einer Negativspirale dazu führen, dass auch psychische Erkrankungen entstehen können, also dass ganz viele negative Lebensereignisse und eben auch ganz häufiges Gefühle von Überforderung und Stress, die Wissenschaft ist sich da einig, dass das psychische Erkrankungen befördern kann.
    Dichmann: Und wie verbreitet ist das in der deutschen Schülerschaft?
    Klemm: Wir als KK haben unsere Versichertenzahlen analysiert und haben festgestellt, dass 26.500 der KK-versicherten Kinder und Jugendlichen an psychischen Erkrankungen ohne körperliche Ursache leiden. Das sind, wenn man das auf die gesamte Bevölkerung für Deutschland hochrechnen würde, wären das ungefähr 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche.
    Dichmann: Wow.
    Klemm: Es gibt in Deutschland circa neun Millionen Kinder und Jugendliche. Also das ist schon eine deutliche Zahl.
    Anforderungen haben nicht zugenommen
    Dichmann: Und man muss vielleicht sogar noch dazu anführen, dass man mit einer psychischen Erkrankung vielleicht auch nicht immer unbedingt Behandlung sucht. Das sind ja nur diejenigen, die bei Ihnen in der Statistik auftauchen.
    Klemm: Ganz genau. Das ist richtig. Also man kann, wenn man im Befragungsergebnis, also epidemiologische Studien – das sind die Studien, die die Bevölkerung betrachten und schauen, welche Erkrankungen liegen da vor und sich nicht nur darauf berufen, was wird auch diagnostiziert – anschaut, zum Beispiel das Robert-Koch-Institut macht da sehr viel Forschung auch für Kinder und Jugendliche, da geht man von ungefähr 20 Prozent aus der Kinder und Jugendlichen, die an psychischen Erkrankungen leiden. Das ist noch mal höher als die Zahl, die bei uns tatsächlich im Versorgungssystem auftaucht.
    Dichmann: Ist das ein systemisches Problem, ist das zwangsläufig Folge unseres Schulsystems, weil es eben sehr auf Noten und Leistungen ausgelegt ist oder woher kommt es?
    Klemm: Also ich bin kein Pädagoge, ich bin kein Lehrer. Ich erlebe das Schulsystem nicht tagtäglich, und ich kann auch nicht beurteilen, wie es sich gewandelt hat. Ich bin nur einmal zur Schule gegangen, ich habe eine Schullaufbahn, meine eigene, miterlebt, sodass das ein bisschen schwierig ist zu beurteilen, aber wie Lehrer, mit denen wir zusammenarbeiten, oder auch Fachkräfte, die in Schulen aktiv sind, von der Schule berichten, ist es nicht unbedingt so, dass die Anforderungen der Schule zugenommen haben. Natürlich haben die Herausforderungen, mit denen eine Schule konfrontiert ist, stark zugenommen, also eine Schule hat immer mehr Themen, die sie berücksichtigen muss, immer mehr Aufgaben, aber wenn man den Schüler betrachtet, der im Klassenzimmer sitzt und das, was er leisten muss, hat sich höchstwahrscheinlich nicht drastisch erschwert, also dass die tatsächliche Aufgabe, die der Schüler hat, immer schwerer geworden ist. Wahrscheinlich ist es die Wahrnehmung dieser Aufgabe, und der Leistungsdruck ist ja auch nichts objektiv Beobachtbares, sondern es ist ja etwas Subjektives, was ich empfinde. Also der Druck, unter dem die Schüler stehen, ob das vom Elternhaus kommt, von der Schule, vom sozialen Umfeld, der scheint stark zugenommen zu haben. Es kann so ein bisschen damit einhergehen, dass der Durchschnitt möglicherweise, aus der Sicht des Schülers oder des Umfelds, nicht mehr gut genug ist. Mit einer Drei nach Hause zu kommen heißt nicht von Eltern, super, du hast eine Drei, sondern, warum hast du keine Zwei, warum hast du keine Eins, warum hast du dich nicht mehr angestrengt, obwohl eine Drei im Schulsystem ja eine befriedigende Leistung ist.
    Dichmann: Jetzt haben Sie gerade schon den Leistungsdruck im Klassenzimmer angesprochen, Frau Klemm, und der liegt nicht nur bei den Schülern, sondern auch bei den Lehrern. Wenn man bedenkt, was die alles leisten müssen inzwischen mit Inklusion und Integration und individueller Förderung und die Förderung der Leistungsstarken wie der Leistungsschwachen und die Digitalisierung und so weiter und so fort.
    Klemm: Genau.
    Gesamtes Umfeld muss einen Beitrag leisten
    Dichmann: Kann ich Ihre Studie insofern auch als Plädoyer für mehr Schulpsychologen verstehen?
    Klemm: Das ist ein sehr differenziertes Feld, und Schulpsychologen als solche sind ja nicht zwangsläufig in der Unterstützung von Lehrkräften unterwegs. Das sind eher Schulsozialarbeiter. Da gibt es einen deutlichen Ausbau, den man beobachten kann. Der ist aber natürlich noch sehr stark von den Länderhaushalten und den kommunalen Haushalten sehr stark politisch bedingt.
    Dichmann: Aber auch die Schulpsychologen, um zu erkennen, ob sich ein Kind eben in dieser Abwärtsspirale, wie Sie vorhin beschrieben haben, schon befindet?
    Klemm: Genau. Also deswegen, also das Plädoyer, was ich denke, was sich aus unseren Befragungsergebnissen, unseren Analysen der Versichertenzahlen ergibt, ist, dass kein Mensch eine Insel ist. Das Kind ist keine Insel, die Lehrer sind keine Insel, und die Eltern sind keine Insel. Es gibt zahlreiche Unterstützungsangebote, die in Anspruch genommen werden können. Das sind Schulpsychologen, das sind Schulsozialarbeiter, das sind Elternberatungseinrichtungen, das sind Kinderärzte, das sind Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Es gibt viele Fachkräfte, ganz vielseitige Fachkräfte, und es quasi nur einer Fachkraft oder einem Erziehungsberechtigten oder einer Lehrkraft zu übertragen diese Aufgabe, das würde der Realität nicht gerecht werden, weil psychische Erkrankungen im Kinder- und Jugendalter auch immer in sehr komplexen sozialen Strukturen oder mit komplexen sozialen Strukturen im Zusammenhang stehen, und da muss auch die gesamte Struktur und das gesamte Umfeld der Kinder und Jugendlichen einen kleinen Beitrag leisten, und dann geht es dem Kind und dem Jugendlichen langfristig auch besser.
    Dichmann: Sagt Franziska Klemm, sie ist Psychologin der Kaufmännischen Krankenkasse, in "Campus und Karriere" im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Klemm!
    Klemm: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.