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Forscher zu Migranten in Italien
"Deutschland muss wieder auftrumpfen"

Deutschland müsste in der europäischen Migrationspolitik eine aktivere Rolle spielen, sagte Christopher Hein, Dozent für Migrationspolitik an der Universität Luiss in Rom. Er rechne in den nächsten Monaten mit einem Anstieg der Flüchtlingszahlen im Mittelmeer. Auch mit Libyen müsse man anders zusammenarbeiten.

Christopher Hein im Gespräch mit Jasper Barenberg |
Gerettete Migranten auf einem Boot im Mittelmeer.
Im Hafen der italienischen Insel Lampedusa sind an einem Tag mehr als 2.000 Flüchtlinge angekommen. Die Insel befindet sich im Ausnahmezustand. (dpa / picture alliance / Fabian Melber)
Über 2.000 Geflüchtete haben zuletzt in nur wenigen Tagen die kleine italienische Insel Lampedusa auf ihrem Weg nach Europa erreicht. Im Vergleich zum letzten Jahr hat sich die Zahl der Geflüchteten verdreifacht auf rund 13.000 Menschen, zum einen, weil sich das Wetter bessert, das Mittelmeer ruhiger und auch weil sich die Corona-Lage in Europa langsam beruhigt. Die Verantwortlichen auf Lampedusa fühlen sich alleingelassen und mit der steigenden Zahl an Migranten, die die Überfahrt wagen, steigt auch die Sorge vor weiteren Toten.
"Ich kann mir vorstellen, dass wir in den nächsten Monaten einen Anstieg der Zahlen haben werden", sagte Christopher Hein von der Luiss Universität Rom im Deutschlandfunk über die nach Italien kommenden Migranten. Es werde in Italien viel davon gesprochen, dass sich der türkische Einfluss in Libyen immer stärker bemerkbar mache. Es werde spekuliert, dass die Türkei mal mehr, mal weniger an der Schraube drehe, um die EU unter Druck zu setzen, sagte Hein.
Eine Asylsuchende mit ihrem Kind im November 2020 in der Warteschlange auf der griechischen Insel Lesbos vor dem Transport in das Flüchtlingslager Kara Tepe, bewacht von der griechischen Polizei
EU-Türkei-Abkommen - Milliarden statt Migranten
2016 kam es nach Verhandlungen zum EU-Türkei-Abkommen: Europa versprach Milliarden, die Türkei sollte dafür Fluchtrouten abriegeln. Inzwischen bedroht Streit den Prozess - ist das Abkommen noch zu retten?
Die libysche Küstenwache sei infiltriert von den Schlepperorganisationen. Diese Situation sei von Seiten der EU nicht tolerierbar, sagte Hein zur Lage in Libyen. "Da muss eine Umschaltung erfolgen in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der libyschen Seite. "Es kann nicht weitergehen, dass man schweigend zusieht, wie täglich unmenschliche Verbrechen in diesen Folterzentren begangen werden", sagte Hein über die libyschen Lager für Migranten.
"Deutschland müsste eine aktivere Rolle spielen", sagte Hein über die europäische Migrationspolitik. "Deutschland hat eine aktive Rolle gespielt, schon in den Verabredungen in Malta, 2019, und das war richtig. Deutschland muss wieder auftrumpfen."
Hard winter in the Lipa migrant camp January 15, 2021, Bihac, Bosnia and Herzegovina - Migrants cook at the Lipa migrant camp, located a few kilometers from Bihac, still does not meet the basic requirements for a normal stay. Military tents have been set up to soak, there is no running water, and it freezes in bottles and canisters because temperatures reach -15 degrees Celsius. They bathe in nearby streams that also serve to wash clothes or melt snow to get water. Most migrants do not want to stay here because, as they say, this is not a life worthy of a human being. In order to get to Bihac where they can buy something or take the money they send them, they need to walk for 6 or more hours in one direction only. Many are sick and in pain ArminxDurgut/PIXSELL
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Im April 2020 wurde die Flüchtlingsunterkunft Lipa auf einer Wiese in Bosnien und Herzegowina hochgezogen. Viele vor Ort sind wütend auf die Europäische Union, die das Problem vor sich herschiebt.


Lesen Sie hier das Interview im Wortlaut


Jasper Barenberg: Herr Hein, wie schwierig ist die Situation im Moment auf Lampedusa?
Christopher Hein: Gestern waren 1200 Migranten und Flüchtlinge am Hafen, ohne jede Unterbringung, verbrachten eine Nacht draußen, hatten natürlich Helfer, Freiwillige dabei, die ganze Zeit über. Aber sie berichteten darüber, dass es auch schwierige Wasserverhältnisse gab. Es gab einen starken Südwind, der verhinderte, dass ein Quarantäneschiff ankommen konnte. Und natürlich muss es eine Prüfung geben und müssen diejenigen der Quarantäne unterliegen, die am Wochenende aus Nordafrika, sowohl Libyen wie Tunesien, angekommen sind.
Es gab eine schwierige Situation, weil zusammen kommt ja die große Zahl jetzt nicht im absoluten Maßstab, aber so gedrängt in so wenigen Tagen, wie Sie es schon sagten, und gleichzeitig natürlich die Beschränkungen, die über Covid-19 bestehen, und die Notwendigkeit, bevor die Menschen in Unterkunftseinrichtungen angewiesen werden, erst mal die Quarantäne durchzumachen, und die muss man irgendwo machen. Das war das Problem gestern und das ist teilweise auch noch heute Morgen der Fall.
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Barenberg: Ist es für Sie klar, je nach Wetterlage werden sich in den nächsten Wochen noch viel mehr, viele tausend Menschen mehr auf den Weg machen?
Hein: Das ist immer so eine Frage. Man sagt natürlich, wenn die Wetterlage ruhiger wird, gegen Sommer hin oder im Sommer, steigen die Zahlen an. Das ist teilweise richtig, aber nicht immer. Da gibt es auch keinen Automatismus zwischen Wetter und den Zahlen.
Natürlich hängt das sehr von politischen Konstellationen auch innerhalb Libyens ab. Hier wird viel davon gesprochen, dass der türkische Einfluss, der sich immer stärker bemerkbar macht, vor allem im westlichen Libyen, mit auch dahinter steht und dass möglicherweise auch seitens der Türkei da ein bisschen an der Schraube gedreht wird, mal mehr, mal weniger, auch um Italien und überhaupt die Europäische Union nicht nur von der türkischen Küste, sondern auch der nordafrikanischen Küste unter Druck zu setzen. Das ist das, worüber hier spekuliert wird.
Ich kann mir schon denken, dass es auch wegen des Staus, den es gab, über Covid-19 und natürlich auch die Konsequenzen in vielen gerade auch afrikanischen Ländern des Virus, dass wir in den nächsten Monaten schon einen Anstieg der Zahlen haben werden.
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"Unmenschliche Verbrechen täglich in diesen Folterzentren"

Barenberg: Sie haben angesprochen, dass viele im Moment aus Libyen kommen. Nun wissen wir alle, dass die Bedingungen für Geflüchtete in Libyen oft jeder Menschlichkeit spotten. Seit Wochen versucht die Regierung von Mario Draghi, mit den Behörden in Libyen ins Gespräch zu kommen, sie zu strengeren Kontrollen zu bewegen. Ist das in Ordnung aus Ihrer Sicht?
Hein: Nein, das ist nicht in Ordnung. Leider. Als Draghi in Tripolis seinen ersten Auslandsbesuch machte, hat er unglücklicherweise sogar die libysche Küstenwacht gelobt für deren Arbeit.
Da muss man sagen, es gibt verschiedene libysche Küstenwachen. Die hängen zusammen mit verschiedenen Milizen und sind ihrerseits infiltriert auch von den Schlepperorganisationen. Das ist eine Situation, die absolut nicht tolerierbar ist von der Seite der Europäischen Union und von Italien das nicht tolerierbar sein sollte, denn es handelt sich um eine Küstenwacht, die ausgerüstet ist mit finanziellen Mitteln Europas und Italiens und die direkt in auch unmenschliche Behandlung von Migranten eingebunden sind. Insofern: Da muss eine Umschaltung erfolgen in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der libyschen Seite.
Denn es kann nicht weitergehen, dass man schweigend zusieht, wie dort wieder wirklich unmenschliche Verbrechen täglich in diesen Folterzentren begangen werden und die Küstenwacht ist direkt daran beteiligt, 5000 Menschen etwa seit Januar bis jetzt aufzufangen, die Boote aufzufangen und die Menschen in die Lager zurückzubringen.
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"Es gibt keine organisierten Rettungsdienste im Mittelmeer"

Barenberg: Es kommt ja noch etwas anderes hinzu. Die italienische Regierung verfolgt ja offenbar auch das Ziel, das wir schon von früher kennen, nur mit anderen Mitteln, die Rettungsaktionen auch privater Flüchtlingsorganisationen auszubremsen. Was halten Sie davon?
Hein: Die Tatsache, dass es in diesem Augenblick kein einziges Rettungsschiff im zentralen Mittelmeer gibt, weder seitens der nichtstaatlichen Organisationen, seitens Frontex und der europäischen Einrichtungen, seitens Italiens auch nicht. Es gibt überhaupt keine organisierten Rettungsdienste in diesem Teil des Meeres.
Und das auch darüber, weil die Schiffe oder einige Schiffe der NGOs beschlagnahmt sind, festgelegt worden sind in verschiedenen Häfen in Süditalien und diese Behinderung in der Tat dazu führt, dass auch der Prozentsatz zwischen denen, die ihr Leben verlieren auf der Überfahrt, und denen, die es schaffen, in den letzten Monaten viel größer geworden ist. Wie weit das jetzt fortgesetzt ist, ist ja zu sehen.
Die Europäische Kommission hat richtigerweise Empfehlungen in der Weise abgegeben, was offensichtlich ist, dass Seenotrettung keine kriminelle Handlung ist. Natürlich ist es keine kriminelle Handlung, sondern eine humanitäre Handlung. Aber manchmal bei den Politikern verwischen sich diese Maskierungen.
Grafik:  Im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens vom 18. März 2016 wurden bis zum 31. März 2020 insgesamt 2.140 Flüchtlinge aus Griechenland in der Türkei angesiedelt. Die meisten der Flüchtlinge stammten ursprünglich aus Pakistan oder Syrien und waren über die Türkei nach Griechenland gereist.
Im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens vom 18. März 2016 wurden bis zum 31. März 2020 insgesamt 2.140 Flüchtlinge aus Griechenland in der Türkei angesiedelt (Ministry of Citizen Protection (Greece) / Statista)
Barenberg: Nun wissen wir alle, Italien verlangt schon lange, schon viele Jahre Unterstützung von den europäischen Partnern. Wir wissen auch, dass es diese Unterstützung nur in ganz kleinem Ausmaß gibt. Was bleibt, wenn sich die EU-Mitgliedsstaaten nicht auf eine gemeinsame Haltung, auf gemeinsame Regeln bei den Themen Migration und Asyl einigen können?
Hein: Diese Wahl gibt es nicht. Es gibt auch eine Verpflichtung unter den Bedingungen des Lissaboner Vertrages der Europäischen Union, zu einer Einigung zu kommen, zu einer Einigung auf der Grundlage von Solidarität. Das ist auch noch mal vom Europäischen Gerichtshof ganz klar festgestellt worden. Das ist kein Optional; das ist eine Pflicht und alle Mitgliedsstaaten müssen daran mitwirken.
In welcher Weise, das ist in der Tat zu sehen, und gerade die allerletzten Nachrichten auch von gestern Abend sind die, dass die Antwort in der Tat von den Mitgliedsstaaten gegenüber dem Vorschlag einer Umverteilung erst mal sehr flau und sehr negativ ist. Das kann man darüber verstehen, dass es natürlich auch andere Situationen gibt. Es gibt auch die Ankünfte von Migranten von Westafrika auf den spanischen Inseln. Es gibt einen Anstieg auch auf der Balkan-Route. Es gibt jetzt nicht nur Lampedusa und Sizilien. Das ist auch richtig.
Daher ist eine gemeinsame Antwort notwendig und sicherlich müssen die Länder, die keine Außengrenzen haben, keine Meeresaußengrenzen wie die nordischen und östlichen Länder, aber auch die von Zentraleuropa da mitspielen und müssen mitwirken. Das ist einfach eine Pflicht und die muss über die Europäische Kommission auch tatsächlich in Kraft umgesetzt werden.
Im Jahr 2020 wurden 2.473 syrische Flüchtlinge aus der Türkei in Länder der Europäischen Union umgesiedelt. Die Umsiedlungen, auch Resettlement genannt, sind eine Folge des EU-Türkei-Abkommens aus dem März 2016, mit dem die unkontrollierte Einwanderung über den Seeweg aus der Türkei beendet werden sollte. Weltweit war die Türkei 2019 das Land, in dem die meisten Flüchtlinge lebten.
Resettlement: aus der Türkei in die EU umgesiedelte syrische Flüchtlinge (UNHCR / Statista)
Barenberg: Kurz noch zum Schluss, Herr Hein. Heute ist Außenminister Heiko Maas in Italien, spricht mit seinem italienischen Kollegen. Sollte Heiko Maas heute einen Aufschlag machen und anfangen?
Hein: Ich denke mir, Deutschland müsste da eine aktivere Rolle spielen. Das ist ganz klar. Deutschland hat auch eine aktive Rolle gespielt, schon in den Verabredungen in Malta im September 2019, und das war richtig. Deutschland muss jetzt noch mal wieder auftrumpfen auch gegenüber den Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungen der anderen Mitgliedsstaaten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.