
"Es ist sehr schlimm hier im neuen Camp. Es ist einfach unmöglich, hier zu leben. Es gibt kein Wasser, keinen Strom - sogar im alten Camp war es besser."

Mehr als 1000 Zelte stehen ordentlich in Reih und Glied – allerdings direkt am Meer und ohne Schutz vor den Sturmwellen. Die Zelte haben keinen Boden. Schon beim ersten Herbstregen wurden reihenweise Unterkünfte überschwemmt. Kochen und Heizen ist in den Zelten nicht erlaubt. Waschen müssen sich die Menschen im Meer – Duschen gibt es keine.
Nach und nach sollen die Zelte winterfest gemacht werden, heißt es aus dem griechischen Migrationsministerium: mit Holzpaletten, Entwässerungsgräben, Chemie-Toiletten, Generatoren. Die liberale niederländische Europa-Abgeordnete Sophie in´t Veld ist nicht überzeugt:
"Wir drehen uns im Kreis. Seit fünf Jahren diskutieren wir über dieses Thema, und jedes Jahr sind wir aufs Neue schockiert darüber, dass wir im reichsten Kontinent der Welt Menschen in Zelten überwintern lassen. Darunter auch Kinder, schwangere Frauen, kranke Menschen. Im März haben wir Griechenland 350 Millionen Euro bewilligt – ausdrücklich für bessere Unterkünfte für Geflüchtete. Ich frage Sie: Wo ist dieses Geld? Warum müssen die Menschen immer noch in Zelten hausen?"
Gemeinsam mit den Herkunfts- und Transitländern will die EU Schleuser bekämpfen. Sie will, dass diese Drittstaaten ihre Bürger schnell zurücknehmen. Ein neuer EU-Koordinator soll sich um Rückführungen kümmern und Frontex dabei eine größere Rolle spielen. Allerdings: Die EU will die Mittel für die Grenzschutzagentur deutlich kürzen.
Aus den Maghreb-Staaten, aus Westafrika, Syrien oder Afghanistan – aus den unterschiedlichsten Orten der Welt machen sich Menschen auf den Weg Richtung EU. Für Asylverfahren ist bislang das Land zuständig, in das ein Geflüchteter zuerst kommt. Festgelegt ist das in den Dublin-Regeln, die vor allem die Staaten an den EU-Außengrenzen - Griechenland und Italien etwa - belasten. Auch im neuen Pakt soll es bei diesem Grundsatz bleiben – die Regelung wird aber angepasst. Heißt: Wer zum Beispiel in einem EU-Land enge Verwandte hat, soll dorthin gebracht werden.
Die meisten Geflüchteten aber dürften weiterhin an den Außengrenzen Asyl beantragen. Zwei Drittel von ihnen haben laut EU keine Aussicht auf Erfolg. Kommissarin Ylva Johansson macht unmissverständlich klar:
"Ich denke, die europäischen Bürger sagen: Wir sind bereit, diejenigen aufzunehmen, die internationalen Schutz benötigen. Wir sind bereit, diejenigen aufzunehmen, die das legale Recht haben, in unserer Union zu arbeiten oder zu studieren. Aber diejenigen, die kein gesetzliches Recht auf Aufenthalt haben, müssen zurückkehren. Und das ist es, worauf wir uns in unserem Vorschlag wirklich konzentrieren."
Wer bleiben darf und wer nicht soll künftig schneller geklärt werden und so funktionieren: Ankommende werden innerhalb von fünf Tagen registriert und medizinisch untersucht. Diejenigen, die aus einem Land mit niedriger Anerkennungsquote kommen – aus Tunesien zum Beispiel – sollen dann binnen drei Monaten ein beschleunigtes Asylverfahren durchlaufen.

Die EU-Kommission spricht nicht mehr von verpflichtenden Quoten, nach denen jedes Mitgliedsland Migranten aufnehmen muss. Sondern von verpflichtender Solidarität. Vor allem, wenn sich große Krisen wie 2015 wiederholen, gebe es zwei Möglichkeiten:
"Entweder durch die Umverteilung von denjenigen, die wahrscheinlich internationalen Schutz benötigen, oder durch eine neue Abschiebe-Patenschaft. Bei der helfen sich die Mitgliedstaaten gegenseitig dabei, die Rückführung von Personen, die nicht zum Aufenthalt berechtigt sind, tatsächlich durchzuführen und dafür zu sorgen, dass sie im Herkunftsland reintegriert werden."
Wenn Polen also zum Beispiel keine Geflüchteten aufnehmen will, muss es Griechenland bei der Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern helfen. Schafft Polen das nicht innerhalb von acht Monaten, müsste es diese Menschen selbst aufnehmen.
Tatort östliches Mittelmeer. Schiffe der griechischen Küstenwache bedrängen Schlauchboote von Geflüchteten. Bugwellen lösen Panik aus, die Menschen sollen umkehren, Richtung Türkei.
Zahlreiche solcher Aufnahmen kursieren im Netz, sie dokumentieren seit Jahren: Illegale Rückführungen, Pushbacks genannt, sind an der Tagesordnung. Die Grenzpolizei macht keine Anstalten, diese Aktionen zu vertuschen: Sie handelt im Auftrag der Politik.
Recherchen der ARD, aber auch des Magazins "Der Spiegel" und anderer Organisationen wie "Lighthouse Reports" und "Bellingcat" zeigen nun: Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll bei einigen dieser Aktionen im östlichen Mittelmeer mindestens zugesehen, wenn nicht sogar bewusst mitgewirkt haben. Die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson:
"Wir bauen derzeit unser System zum Management des Außengrenzschutzes aus. Frontex ist ein wichtiger Teil dieses Systems. Natürlich muss sich Frontex, müssen sich alle EU-Behörden an europäisches und internationales Recht halten und die Menschenrechte respektieren. Das ist doch ganz klar!"
Frontex hat inzwischen angekündigt, sich im Rahmen eines neuen Gremiums mit möglichen Verwicklungen in solche illegalen Grenzschutzpraktiken zu befassen. Die Behörde will sich also selbst untersuchen. EU-Kommissarin Johansson ist damit zufrieden und verweist auf größtmögliche Transparenz.
Der Vorschlag der verpflichtenden Solidarität – er ist unter den Mitgliedsstaaten umstritten. Während Griechenland auf einer gleichmäßigen Verteilung von Migranten besteht, findet Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, der Begriff Solidarität solle im Zusammenhang mit Asylfragen erst gar nicht verwendet werden. Und auch wenn die Kommission Ländern wie Ungarn, Tschechien oder Polen entgegengekommen ist: auch sie erheben Einspruch:
"Der grundsätzliche Ansatz ist nach wie vor unverändert, denn sie möchten die Migration steuern und nicht die Migranten aufhalten. Die ungarische Position ist: die Migranten zu stoppen und das ist eine andere Sache", sagt Ungarns rechtspopulistischer Ministerpräsident Viktor Orban.
Für Luxemburgs Migrationsminister Jean Asselborn kann der Kommissions-Vorschlag eine gute Basis für eine europäische Migrationspolitik sein. Er fordert solidarisch zu denken:
"Wenn jedes Mitgliedsland der 27, wenn sie sich alle hinsetzen würde, das steht ja nicht drin, ich brauche keine Flüchtlinge aufzunehmen, ja dann funktioniert es ja nicht."
Zweifel bleiben, ob die geplanten beschleunigten Grenzverfahren innerhalb von 12 Wochen tatsächlich funktionieren – zumal mancher Geflüchtete keinen Pass hat. Migrationsexperte Gerald Knaus hält diese Verfahren zwar grundsätzlich für eine sinnvolle Idee. Aber er stellt sich zwei Fragen: wie schnell kann die EU am Ende über Asylanfragen entscheiden? Und: Sind die Herkunftsländer oder sichere Transitstaaten bereit, diese Menschen dann auch zurückzunehmen? Beides werde durch die geplanten Abschiebe-Patenschaften nicht leichter, sagt Knaus. Und nennt als Beispiel einen Geflüchteten auf Malta, um den sich etwa Polen kümmern müsste:
"Warum sollte Polen mehr Erfolg damit haben, Rückführungen nach Westafrika zu organisieren? Und warum sollte Malta diese Personen monatelang in Malta festhalten, nur um vorzutäuschen, dass es hier um Solidarität geht?"
November 2020. Eine junge Mutter aus dem westafrikanischen Guinea wird gerade zwischen Libyen und Italien aus den Wellen gezogen: Auf dem Rettungsboot der katalanischen Hilfsorganisation Open Arms schreit sie verzweifelt nach Joseph, ihrem sechs Monate alten Sohn. Das Baby war aus ihren Armen gerutscht, als der Holzkahn kenterte, auf dem die Frau mit Dutzenden anderen unterwegs war.
28 Sekunden lang ist das Video. Es führt Europa vor Augen, dass die Flucht über das Mittelmeer weitergeht – auch während der Pandemie, bei rauer See und – in den meisten Fällen – ohne Aussicht auf Hilfe. Joseph wird später tatsächlich gefunden, kann aber nicht mehr wiederbelebt werden. Er ist auf Lampedusa begraben.

"Es kann nicht nur Aufgabe der italienischen Regierung sein. Da muss Europa ran. Italien ist Europa, Lampedusa ist Europa. Es ist nicht nur ein Problem, das Italien angeht. Es ist ein europäisches Problem. Und Europa muss Antworten geben."
Staatliche Seenotrettung gibt es seit dem Ende der EU-Militärmission Sophia im Jahr 2019 nicht mehr. Die Nachfolgemission Irini, die Waffenschmuggel nach Libyen verhindern soll, operiert im Mittelmeer bewusst abseits der großen Fluchtrouten. Und privaten Rettern wird es immer weiter erschwert, Einsätze zu fahren.

Genau solche Hotspots sind für manche - wie Tschechiens Ministerpräsident Andrej Babis und Ungarns Viktor Orban – ein Mittel der Wahl, ein Durchbruch. Allerdings sollten die nicht auf europäischem Boden entstehen. Was sich Ungarn genau darunter vorstellt, erläutert Justizministerin Judit Varga. Alle Asylverfahren sollten außerhalb Europas stattfinden.
Die Einrichtung von Hotspots oder sogenannten Ausschiffungsplattformen war schon einmal im Gespräch. Die Idee wurde aber verworfen – auch weil – ganz unabhängig von der rechtlichen Frage - kein Land außerhalb der EU solche Lager einrichten wollte. Luxemburgs Migrationsminister Jean Asselborn ist ein Gegner von solchen Plänen.
Er schlägt eine obligatorische Umverteilungsklausel vor, auch wenn er weiß, dass das der große Knackpunkt ist. Und er plädiert dafür, die legale Migration stärker zu berücksichtigen. Dem schließt sich der Migrationsexperte Gerald Knaus an. Seine Idee: damit Drittstaaten wie Marokko und Tunesien ab einem festzulegenden Stichtag alle Geflüchteten zurücknehmen, die kein Aufenthaltsrecht haben, muss die EU einen Anreiz schaffen. Etwa Stipendien oder Visa-Erleichterungen für Bürger.
Knaus ist dafür, sich von der Illusion einer gesamt-europäischen Lösung in der Migrationsfrage zu verabschieden. Aufnahme-willige Länder wie Deutschland, Luxemburg, Finnland sollten vorangehen – und dabei von einem EU-Fonds unterstützt werden, in den alle Staaten einzahlen. Wenn man zeigen kann, dass Kontrolle und Flüchtlingskonvention kompatibel sind, glaubt Knaus, werden viele Gesellschaften sagen – da beteiligen wir uns:
"Für Länder wie Deutschland hier eine Koalition aufzubauen, dafür zu werben, zu zeigen, dass es geht. Und dann die Kommission, die europäischen Institutionen, die das dann unterstützen, auch wenn nicht alle mitmachen, ist der einzig realistische Weg dafür zu sorgen, dass die Flüchtlingskonvention nicht im Jahr 2021 im Mittelmeer ertrinkt."