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Forschung an KZ-Insassen

Die junge israelische Dramatikerin Maya Scheye thematisiert in "Medicament" medizinethische Fragen im Dritten Reich. Die deutsch-israelische Theater-Kooperation wurde nun in Heidelberg uraufgeführt.

Von Christian Gampert | 15.11.2010
    Man kann ein Stück auch überkonstruieren. Die junge israelische Dramatikerin Maya Scheye thematisiert politischen Erinnerungsverlust und politische Erinnerungs-Obsession – und zwar anhand des Modethemas Gehirnforschung. Das geht so: Juda Stein, deutscher Jude, renommierter Neurologe an der Heidelberger Universität, hat seit Jahren nicht mehr gelehrt, sondern sich in seinem staubigen Labor eingeschlossen. Nun ist er gestorben, und sein Sohn Arie, der seine jüdische Identität (und seinen Erzeuger) heftig ablehnt, wühlt in den alten Akten des Vaters. Dabei stellt sich heraus, dass Juda Stein an einem Stoff, einem "Medicament" bastelte, das – durch chemische Stimulation des Hippocampus - dem Gedächtnisverlust durch die Alzheimersche Krankheit entgegenarbeiten sollte.

    Das ist verdienstvoll, zumal die Deutschen, trotz aller Holocaust-Dokumentationen, ein solches Medikament sicherlich brauchen könnten – sie leiden an einer Mischung aus Alzheimer und der Walserschen Krankheit. Aus irgendeinem Grund aber hat Juda Stein seine Forschungen abgebrochen und Aufzeichnungen verbrannt. Maya Scheyes Stück tritt nun heftig und kriminalistisch auf der Stelle, um auf zwei Zeitebenen das deutsch-jüdische Verhältnis zu durchleuchten: Es gibt, im Jahr 1974, den im KZ geborenen Vater Stein, der inmitten der beginnenden Baader-Meinhof-Hysterie in Heidelberg sensationelle Versuche an Mäusen macht – und seine Ergebnisse nur als Patent anmelden müsste, um sie an Menschen klinisch zu testen. Und es gibt, heute (und vom selben Schauspieler gespielt), den Sohn, praktischerweise Patentanwalt, der alles Jüdische und jede Sentimentalität heftig ablehnt – und mit dem Vater auch die Vergangenheit unter die Erde bringen will.

    Rein theatralisch ist das eine gelinde Überforderung: Trotz der virtuosen Übergänge, die der Regisseur Avishai Milstein zwischen den Zeitebenen schafft, muss der Schauspieler Axel Sichrovsky heftig rudern, um Vater und Sohn voneinander abzugrenzen. Als Sohn ist er zunächst überaus aggressiv, als Vater und Forscher von einnehmender Bescheidenheit. Es wird noch komplizierter (und zeigefingernder): Aries Frau Anna, eine Deutsche, ist seit der Hochzeit depressiv. Sie leidet unter einer "bipolaren Störung" und ist gerade dabei, zum Judentum überzutreten. Ute Baggeröhr bekommt es bewunderungswürdig hin, in dieser politisch plakativen Figur das Persönliche aufzuspüren, die enttäuschte Liebe zum fremdgehenden Ehemann. Außerdem gibt es noch einen Historiker, der 1974 als politischer Aktivist gegen die Ex-Nazis kämpft, und eine attraktive Studentin, die nach dem Tod von Holger Meins die Stunde der Rache gekommen sieht.

    Es ist sehr aufschlussreich, dass eine junge israelische Dramatikerin die heute verteufelte RAF hier in ihren antifaschistischen Anfängen zeichnet. In Maya Scheyes Stück will niemand mit der eigenen Herkunft etwas zu tun haben: Die Deutschen wollen keine Deutschen sein, gehen zur RAF oder konvertieren zum Judentum; der Jude aber verabscheut die leidensselige Passivität der ewigen Holocaust-Opfer.

    Bei der bilateral korrekten Durcharbeitung des Stücks hat Maya Scheye freilich des Gutgemeinten zu viel getan: Juda Steins Forschungen basierten, so erfahren wir, auf den Ergebnissen eines Altnazis, der seine Versuche nicht an Mäusen, sondern an jüdischen Kindern im KZ machte. Natürlich sitzt der nach dem Krieg wieder auf einem Lehrstuhl (in Heidelberg gab es in der Tat solche Fälle zuhauf). Von Menschen und Mäusen: Das Vertrackte ist, dass der jüdische Wissenschaftler Stein den Nazi-Wissenschaftler Hahn durchaus verstehen kann – der Forscher-Ehrgeiz geht über Leichen.

    Aus Scham über seine moralische Fehlbarkeit zündet nun Juda Stein sein Labor an, vernichtet seine Ergebnisse – und beinahe auch seinen Sohn, der ihn gerade besuchen kommt. Das ist noch mal ein großer Showdown eines ansonsten sehr zähen Abends. Vielleicht ist diese deutsch-israelische Theater-Kooperation ja in sich schon ein "Medikament"; allerdings: "die Substanz, die entsteht, wenn wir uns erinnern" – in Heidelberg wurde sie nicht gefunden. Jedenfalls nicht auf der Bühne.