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Forschung und Politikberatung zur muslimischen Kultur

Immer noch ist hierzulande das Wissen über den Islam zu dürftig: Daran hat auch der 11. September 2001 noch nichts wesentlich verändert, obwohl viele Behörden zusätzlich Islamwissenschaftler einstellten. Deshalb ist nun an der Universität Mainz ein sogenanntes "Kompetenzzentrum Orient-Okzident" gegründet worden, das zur muslimischen Kultur forschen wird und gleichzeitig Politikberatung anbietet. Doch der Orient in Mainz nicht einfach für das "Morgenland" steht, womit traditionell vor allem die vorder- und mittelasiatischen Länder gemeint waren. Genau wie man als "Okzident" längst nicht mehr das alte, europäische "Abendland" betrachtet. Orient und Okzident haben sich längst globalisiert – so die These der Mainzer Forscher.

    Ob die Altstadt von Casablanca oder der Bahnhof von Bad Kreuznach – ob das Internet oder die Vororte von Indianapolis: Das neue Kompetenzzentrum Orient-Okzident interessiert sich einfach für alle Räume, in denen Muslime zu hause sind. Und der Geschäftsführer des neuen Zentrums, Dr. Jörn Thielmann, geht davon aus, dass Muslime wie Christen inzwischen auf der ganzen Welt zuhause sind- selbst in Südamerika:

    Eine Grenzstadt in Paraguay, die ist überwiegend arabisch-muslimisch bewohnt, von Libanesen, eine große Handelsstadt mitten in Südamerika. Die islamische Bevölkerung in Nordamerika ist zahlenmäßig größer als die jüdische Bevölkerung, was gar nicht so sichtbar wird.

    Deswegen habe man sich an der Universität Mainz entschlossen, die Begriffe Orient und Okzident nicht länger nur auf das alte, europäische Abendland und das Morgenland zu beziehen, womit traditionell vor allem auf den nahen und mittleren Osten gemeint war. Islamisches Leben heute spiele sich in Zeiten der Globalisierung und weltweiter Migrationsbewegungen längst in transnationalen Netzwerken ab – eine immer größere Rolle spielen dabei die neuen Medien wie das Internet, lautet ein Forschungsbefund, Jörn Thielmann:

    Ich kenne einen Fall eines libanesischen Dorfes, die haben eine Website, mit Webcam, da können sie Bilder angucken, vom Dorfplatz, wo das gesamte Dorf, die Leute die im Dorf noch leben im Libanon und die, die auf der gesamten Welt verteilt sind, miteinander kommunizieren. Und sich zugehörig fühlen, zu ihrem Dorf. Da werden Urlaubsberichte ausgetauscht, Fotos eingestellt ins Internet, diskutiert über politische Fragen, über Fragen der Dorfverschönerung, Dorferneuerung, über alles, was Menschen halt interessiert.

    Während türkische Einwanderer in den 60er und 70er Jahren nur selten eine Chance hatten, Elemente ihres traditionellen Dorflebens in den Industriealltag zu retten, werde heute der Herkunftsort via Internet zum alltägliche Bezugspunkt. Was das bedeutet, wird im neuen Mainzer Kompetenzzentrum untersucht. Eine andere Feldforschung findet in den Altstädten der Metropolen Nordafrikas statt. Dort geht es um die sozialen Folgen der sogenannten "Gentryfication-Prozesse":

    Was nichts anders bedeutet, als das vor allem Ausländer in den orientalischen Altstädten und Medinen Häuser kaufen, Hauskomplexe kaufen, die renovieren, dann herrichten als Zweitwohnsitze benutzen, fürs Wochenende, die fliegen dann aus Paris oder London oder so ein, verbringen das Wochenende in Marakesch oder in Fes.

    Doch genauso wie Marakesch ist für das Mainzer Kompetenzzentrum auch Bad Kreuznach interessant – weil man in Deutschland bis heute eigentlich kaum etwas über das Leben der Muslime weiß, stellt Jörn Thielmann immer wieder fest. Die Forschungen drehten sich bisher meist um türkische Moscheen – aber allein in Bad Kreuznach gäbe es fünf weitere Gebetshäuser von Muslimen, die aus ganz anderen Weltregionen stammen. Dadurch verändert sich der Islam, beobachtet: Jörn Thielmann:

    Weil ich glaube, dass für Muslime aus unterschiedlichen Herkunftsländern, die hier in Deutschland oft zum ersten Mal der Vielfalt des Islams begegnen, sich die Form, wie sie Islam wahrnehmen, Islam beschreiben, Islam leben, verändert.

    Ein weiteres Ziel des Kompetenzzentrums Orient –Okzident an der Universität Mainz ist die Bündelung der vielfältigen Studienangebote, die von der Ägyptologie über die Sprachwissenschaften bis zur Kulturgeografie ohnehin zur islamischen Welt existieren. Selbst die Theaterwissenschaften in Mainz wollen sich an der Arbeit des Kompetenzzentrums beteiligen:

    Und wir hoffen, dass das münden kann in einen Plan so einen Masterstudiengang auf Englisch: "Intercultural Oriental/Middle East Studies", wo verschiedene Fächer an der Universität für einen Studiengang kooperieren.

    Nicht nur der 11. September hat die Nachfrage nach wissenschaftlicher Expertise zum Islam steigen lassen. Auch der Irak-Krieg wird das Interesse an interkulturellen Studien zum Orient wach halten, glaubt man in Mainz. In der arabischen Welt zumindest haben deutsche Forscher wegen der deutschen Antikriegshaltung zur Zeit die besten Studienbedingungen, wie Jörn Thielmann vor wenigen Wochen im Libanon selbst erlebte:

    Das hat für Deutsche ganz kuriose Nebenwirkungen, das man überall freudig begrüßt wird, es wird einem auf die Schulter geklopft und man erhält Glückwünsche zur Bundesregierung und ich denke Europa hat eine Rolle zu spielen: Ich denke, Europa hält sich viel zu sehr zurück, gerade die Deutschen könnten in der arabischen Welt erheblich mehr zur Versöhnung und zur Verständigung beitragen, als sie es – trotz der dankenswerten Initiativen von Herrn Fischer zur Zeit tun. Das zum Beispiel anzuregen, soweit es uns als Wissenschaftler möglich ist, das ist uns auch ein Anliegen.