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"...fort, nur fort von hier!“

Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa von Theodor Schieder und anderen ist eine der beeindruckendsten Sammlungen über das Elend des Zweiten Weltkriegs. Zwischen 1944 und 1947 flüchteten 14 Millionen Deutsche vor der Roten Armee. Wer nur einen Teil der über 5.300 Seiten gelesen hat, begreift, warum dieses Trauma der deutschen Geschichte bis in unsere Tage hinein nachwirkt.

Von Matthias von Hellfeld | 04.04.2005
    In diesem Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 60. Mal. Anlass genug, sich mit dieser Epoche deutscher Geschichte auseinanderzusetzen. Anlass aber auch, über das Schicksal jener nachzudenken, deren Leid begann, als an jenem 8. Mai mit der deutschen Kapitulation das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Zentraleuropa besiegelt war. Die Deutschen in Ost-Mitteleuropa bekamen die Folgen des nationalsozialistischen Griffs nach der Macht in Europa zu spüren. Die vorrückende Rote Armee nahm das eroberte Gebiet mit brutaler Gewalt in Besitz. Leidtragende waren vor allem die deutschen Minderheiten, deren Existenz Adolf Hitler den Vorwand geliefert hatte, eine ethnische Neuordnung Osteuropas als außenpolitisches Ziel zu deklamieren. Nun bekamen sie den Hass derjenigen zu spüren, die bis dahin unter dieser politischen Wahnvorstellung zu leiden gehabt haben. Es begann die größte Flucht- und Vertreibungswelle in der Geschichte der Menschheit. Mehr als zwei Millionen Deutsche starben auf der Flucht, in Lagern oder durch Verschleppung und Zwangsarbeit.

    Diese Passionsgeschichte hat der Deutsche Taschenbuch Verlag in einer monumentalen Dokumentation der Vertreibung der Deutschen jetzt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und damit der Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs den notwendigen Hinweis auf das Leid dieser unschuldigen Opfer zur Seite gestellt. Die Autoren dieser in den fünfziger Jahren erstmals veröffentlichten Dokumentation stellen den Erinnerungsberichten, Verordnungen und Gesetzen eine zusammenfassende Darstellung voran. Dabei vermeiden sie gekonnt jeden revanchistischen Zungenschlag, der bei der Lektüre der Leidensgeschichte der Vertriebenen schnell kommen könnte. Kaum eine Seite vergeht, auf der nicht von Vergewaltigungen, sinnlosen Morden, Blutorgien oder totaler Zerstörung berichtet wird. Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen ist zweifellos eine der beeindruckendsten Sammlungen über das Elend des Zweiten Weltkriegs.

    Die Vertreibung von etwa 14 Millionen Deutschen begann, nachdem sich die Alliierten grundsätzlich darauf geeinigt hatten, der Sowjetunion ein Einflussgebiet zuzubilligen, das bis weit nach Zentraleuropa reichte und die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus den Ostprovinzen ermöglichen sollte. Auf der Grundlage dieser Entscheidung fand zwischen 1944 und 1947 ein barbarischer Gewaltakt statt, vor dem niemand geschützt war, weder Frauen und Kinder noch Alte und Kranke. Hinter der ersten Fluchtwelle stand die Angst vor den marodierenden Banden von Rotarmisten, die einen derartigen Schrecken verbreitet hatten, dass die Flüchtlinge sogar das Risiko in Kauf nahmen, im Westen des Landes in den alliierten Bombenhagel zu geraten.

    Ende Januar 1945 bricht ein Flüchtlingstreck aus dem ostpreußischen Groß-Nappern auf, weil die russische Artillerie zu hören ist und die sowjetischen Soldaten nicht mehr weit sein können. Nach einigen Tagen erreichen die Flüchtlinge das kleine Dorf Liebemühl im Kreis Osterode:

    "Dämmerung, die den Augen gut tut. Endlich ein heiles, offenbar noch bewohntes Haus. Aber als wir eintreten, bietet sich uns ein Bild unvorstellbaren Grauens: verstreutes und verschüttetes Essen. Tote sitzen auf dem Sofa, hängen über Stühle, liegen in den Betten. Fußboden und Wände sind mit Blut bespritzt. Nur ein Hund kläfft uns wütend an. Wir flüchten ins Freie. Plötzlich ist da eine alte Frau, ruft hinter uns her: ‚Kommt, ruht Euch hier aus!’ Ich schüttele den Kopf, fort, nur fort von hier!"

    Nach diesem Ereignis musste der Treck umdrehen und wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Der eigene Hof war inzwischen niedergebrannt, eines der Häuser wurde von einer wild gewordenen Soldateska der Roten Armee bewohnt, die sich die Zeit mit Schießereien und Menschenjagd vertrieben.

    Die Dokumente schildern das Leiden der Menschen, deren Trecks sich aus den deutschen Ostgebieten, aus Polen, Rumänien, Ungarn und der Tschechoslowakei nach Mittel- und Westdeutschland schlängelten. Den Flüchtenden war nicht klar, dass sie ihre Heimat endgültig verlieren würden - der Gedanke an eine baldige Rückkehr hielt viele von ihnen am Leben. Der Wegesrand war übersät mit verendeten Tieren, Leichen und Verletzten, die den Anschluss an ihren Treck verloren hatten. Das Klappern der Wagenräder vermischte sich mit dem Wimmern der Kinder und den Todesschreien der Mutlosen. Als die Überlebenden schließlich irgendwo ankamen, waren sie zwar in Sicherheit, was aber ihre Augen gesehen hatten, konnten ihre Seelen nicht verarbeiten.

    Der Vertreibung gingen meistens Demütigungen voraus, die das Verlassen der Heimat zwar nicht leichter, aber unausweichlich machten. Nachdem Rumänien Ende August 1944 das Kriegsbündnis mit den Deutschen aufgekündigt hatte, verschlechterte sich die Lage der dortigen so genannten Volksdeutschen zusehends. Wenige Tage später besetzte die Rote Armee die vorher von deutschen Militäreinheiten kontrollierten Städte. Die deutsche Minderheit in Hermannstadt hatte besonders unter der Willkür der russischen Soldaten zu leiden. Ein Überlebender berichtet:

    "Was ihnen in den Weg kam, wurde überrannt. Dabei wurden die Randgemeinden um Hermannstadt und die Periphere der Stadt mehr in Mitleidenschaft gezogen als das Zentrum. Die frechsten Überfälle waren an der Tagesordnung. Am hellen Vormittag wurde den Passanten Uhren und Schmuck abgenommen. Zweimal wurde die Straßenbahn im Wald angehalten und den Mitfahrern alles abgenommen. Sie durften dann in Hemd und Hose weiterfahren. Wenn man nach Einbruch der Dunkelheit Schreie hörte, sah keiner nach, denn helfen konnte man nicht. Oftmals fand man tags darauf die Leiche auf der Straße liegen. Diese willkürlichen Übergriffe wurden von Offizieren und Mannschaften gleichermaßen durchgeführt."

    Dieser Erlebnisbericht aus Hermannstadt schließt mit der Vergewaltigung der eigenen Mutter und der über 7o-jährigen Großmutter durch Soldaten der Roten Armee.

    Die Menschen, denen diese und ähnliche Schicksale widerfuhren, waren - als sie schließlich in Westdeutschland ankamen - dem Wahnsinn nahe. Sie hatten die Blutorgien und Massenexekutionen überlebt, sie hatten die Flucht durch Eis und Schnee mit übermenschlichen Entbehrungen überstanden. Ihre Heimat mussten sie ebenso verlassen, wie sie ihre kulturelle Identität und viele ihrer Familienangehörigen verloren hatten. Der gnadenlose Rachefeldzug wurde an jenen Menschen verübt, die selbst Opfer waren und weder den Krieg geführt hatten noch für irgendeines der deutschen Verbrechen an der Ostfront verantwortlich waren. Neben den vielen Millionen Toten an den verschiedenen Frontabschnitten und den Opfern von Holocaust und Bombenkrieg gehören die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Gebieten zu den Hauptleidtragenden des Zweiten Weltkriegs. Vor dem Hintergrund dieser mehr als 1.000 Augenzeugenberichte und Dokumente wird klar, dass für die Flüchtlinge der Neuanfang in der Bundesrepublik kompliziert und für manche von ihnen auch nicht zu bewältigen war. Wer nur einen Teil der über 5.300 Seiten gelesen hat, begreift, warum dieses Trauma der deutschen Geschichte bis in unsere Tage hinein nachwirkt.

    Die "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa", bearbeitet von Theodor Schieder und anderen, ist im Deutschen Taschenbuch Verlag in München erschienen, hat 5.328 Seiten und kostet 98 Euro.