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Forum für literarische Neuentdeckungen

Das "Schreibheft" feiert mit seiner jüngsten Ausgabe seinen 30. Geburtstag. Wer die zwei mal im Jahr in 2500 Exemplaren erscheinende Publikation liest oder gar abonniert hat, ist stets bestens informiert, was Entdeckungen und Erstübersetzungen sowohl neuerer als auch älterer Literatur betrifft. Das in Essen erscheinende Heft ist der Scout, der Pfadfinder unter den literarischen Periodika.

Von Cornelia Jentzsch | 11.07.2007
    Solange die Söhne die Väter beerben,
    wird der muntre Chor vom Fall nie untergehn und sterben; [...]
    Gentlemen zur See, lässig, vornehm und stet,
    Lachend geht er dorthin, wo der Wind ihn hinweht.
    Hochherzig humorvoll, als die Breitseite einschlug,
    "Zahnstocher für alle, schießt zurück, seid so gut!"


    Kein anderer als der Verfasser des berühmten Romans "Moby Dick" singt dieses Hohelied auf die unerschrockenen Männer zur See. Nur goss Hermann Melville seine Seemannsgeschichten diesmal in Verse. Das Werk mit dem Titel "John Marr und andere Matrosen", eine Erzählung und Gedichte, war 1988 in New York erschienen. Jetzt kann man es in deutscher Premiere lesen, von Alexander Pechmann übersetzt und vollständig im soeben erschienenen 68. Heft der Zeitschrift "Schreibheft" abgedruckt. Mit diesem Heft feiert das "Schreibheft" gleichzeitig sein 30jähriges Betriebsjubiläum.

    Dass Melville bedeutend mehr schrieb als nur seinen berühmten Roman über ein Walfängerschiff mit multinationaler Besatzung und jenen einbeinigen Kapitän, der seine fehlende halbe Basis an einen Wal verlor und diesen nun zu Wasser jagt - das ist vor allem den Lesern der Literaturzeitschrift "Schreibheft" bekannt. Ein erstes konzeptionelles Heft mit unbekanntem Material von und zu Melville gab es vor 15 Jahren, das ursprünglich einmal in eine Neuübersetzung von "Moby Dick" im Hanser Verlag münden sollte. Der Verlag schreckte jedoch vor der originalgetreuen, aber etwas sperrigen Neuübersetzung von Friedhelm Rathjen zurück und gab später eine andere und wie er meinte leserfreundlichere Übersetzung in Auftrag. Wer sich dennoch von Rathjens und vor allem Melvilles Können überzeugen möchte, besorge sich eines der folgenden, nämlich "Schreibheft" Nr. 57, das auszugsweise Rathjens Neuübersetzung enthält. Der Titel "Die Weiße des Wals" erklärt, warum dieses Schreibheft nicht wie gewöhnlich schwarzgrundiert war, sondern als Unikat weiß blieb.

    Wer das "Schreibheft", die zwei mal im Jahr in 2500 Exemplaren erscheinende Publikation liest oder gar abonniert hat, ist, was Entdeckungen und Erstübersetzungen sowohl neuerer als auch älterer Literatur betrifft, stets überdurchschnittlich gut informiert.

    Das in Essen erscheinende Heft ist der Scout, der Pfadfinder unter den literarischen Periodika. Die Lyrikerin Inger Christensen wurde hier übersetzt, als in Deutschland noch kaum jemand den Namen der dänischen Nobelpreisanwärterin kannte. Der erst mit dem Büchnerpreis im vorigen Jahr weitflächig bekannt gewordene Oskar Pastior war seit fast 25 Jahren Stammgast der Zeitschrift. Amerikanische, spanische, russische, kroatische, italienische oder skandinavische Literatur quer durch die Jahrhunderte findet der Leser, die Texte überwiegend in erstmaligen Übersetzungen, mit gründlichen Hintergrundinformationen und in bislang unbekannten Zusammenhängen. Und natürlich fehlt auch nicht die deutschsprachige Literatur, doch auch hier galt und gilt vorrangig: aufgenommen wird Unentdecktes und Unabgedrucktes, das heißt extra für das "Schreibheft" Geschriebenes - selbst von Bekannten wie Thomas Kling, Franz Joseph Czernin, Durs Grünbein, Nicolas Born oder Helmut Heißenbüttel. Neben tradierten Formen wie Gedicht, Erzählung oder Essay findet der Leser auch die neuesten Entwicklungen. Heft 51, das sich mit den "sprechenden Bildern", sprich Comics, beschäftigte, wurde ein unvorhersehbarer Renner und ist mittlerweile vergriffen.

    Der Herausgeber vom "Schreibheft", Norbert Wehr, erzählt über die Anfänge:

    "... ich bin seit 78 dabei, also ein Jahr nach der Gründung. Die Zeitschrift war in einer Schreibwerkstatt, einer Volkshochschule gegründet worden. Ich habe den damaligen Herausgeber ein Jahr später kennen gelernt, wir haben uns auf Anhieb befreundet. Und da bin ich, ohne von Anfang an dabei gewesen zu sein, zur Redaktion dazugekommen. Und hatte meine Ideen, die immer ausdrücklich literarischer waren, im Gegensatz zu anderen Redaktionsmitgliedern, die Vorstellungen hatten von einer allgemeiner kulturellen Zeitschrift oder auch politischeren Zeitschrift. Und ich wollte aber immer eine Literaturzeitschrift machen... "

    Nicht nur die Zeitschrift "Schreibheft" hat sich über die Jahre zu einem profunden Literaturfundus erst entwickelt. Auch ein kenntnisreicher Herausgeber wie Norbert Wehr fing nicht gleich bei 200 Prozent an.

    " Und als ich damals zur Redaktion dazu stieß, war ich 20, 22. Und hatte wirklich wenig Ahnung. Ich hatte sehr spät angefangen, mich für Literatur zu interessieren, und ich bin mir nicht sicher, ob ich damals überhaupt je schon eine Literaturzeitschrift gesehen hatte. ... Es ging letztlich um nichts anderes, als eigene Texte zu publizieren und die unter Freunden zu verteilen... Nicht professionell, mit bekanntem Herausgeber, potentem Verlag, so wie vor drei vier fünf Jahren "Literaturen" gegründet worden ist. Du musst dir das komplette Gegenteil funktionierendem Vertrieb, also wie vor drei, vier fünf Jahren "Literaturen" gegründet worden ist. Also, man muss sich das komplette Gegenteil davon vorstellen. Die Zeitschrift hat sich langsam entwickelt durch "lerning by doing". Das ist ja kein Zufall, dass der Reprint, der vor 8 Jahren bei Zweitausendundeins erschienen ist, mit Heft 22 beginnt. Da hat die Zeitschrift ihr Profil gefunden gehabt, diese sorgfältig komponierten Dossiers zusammenzustellen zu allen möglichen Gegenständen. "

    Über die Jahre und die Arbeit hinweg versammelte Norbert Wehr Übersetzer, Autoren, andere Herausgeber oder einfach nur Interessenten um sich. Es sind durchweg neugierige und leidenschaftlich Literaturinfizierte wie Wehr selbst, die inzwischen fast zu einem weitläufigen Mitarbeiterstamm zählen und das "Schreibheft" mit Ideen und Material unterstützen.

    " Also die Dinge entwickeln sich sozusagen fast wie von selbst. Wenn man sich mit den Moskauer Konzeptualisten beschäftigt, so wie ich das früher getan hab, dann kommt man automatisch auf Daniil Charms. Und dann macht plötzlich Peter Urban den Vorschlag, lass uns mal ein heft über Charms oder die OBERIUten machen, und schon ist nicht nur eine Idee da sondern ein Konzept und ein Heft halb fertig. Und ich hab mich in einer bestimmten Zeit sehr für die Autoren interessiert, die Teilnehmer des Bielefelder Kolloquiums waren, da liegt es fast auf der Hand, sich irgendwann für OULIPO zu interessieren. Kein Wunder, dass Pastior Mitglied von OULIPO wurde. So gibt es so Geistesverwandschaften, gibt es ein kommunizierendes Röhrensystem, wo die Dinge irgendwie miteinander zu tun haben, zwangsläufig zu tun haben. Wenn man einmal auf die Spur gesetzt ist, kommt man da fast automatisch hin. "

    Einige der Schreibheft-Autoren waren allerdings schon vorab an anderer Stelle übersetzt und erstabgedruckt gewesen wie der Rumäne Gherasim Luca, das blieb aber eher die Ausnahme. Von Felix Phillip Ingold vor Jahren entdeckt, brachte Urs Engeler vor drei Jahren ein Buch mit Gedichten Lucas heraus. Da Luca trotzdem weiterhin ein Geheimtipp blieb und zudem noch genügend neues Material vorlag, gab es im vorletzten "Schreibheft" also ein 80seitiges Dossier zu ihm. Hier ist eine literarische Solidarität am wirken, die sich ausschließlich um die Autoren bemüht und sich dabei kaum ums Konkurrenz- und Marktprinzip schert.

    " Die Zeitschrift ist bis heute, damals schon, bis heute nicht nur ein wichtiges Kommunikationsmittel für mich, sondern auch ein wichtiges Erkenntnismittel. Ich komme mithilfe der Zeitschrift auf bestimmte Spuren. Ich habe Autoren nicht vorher entdeckt, sondern ich entdecke sie mit der Zeitschrift, also mithilfe der Experten, mit denen ich zusammenarbeite und am Anfang steht bis heute nicht mehr als große Neugierde. Es gibt die Erfahrung, wie man so etwas macht und bestimmte Ansprüche. Aber wenn am Anfang die Neugierde auf bestimmte Gegenstände steht, die ich selbst auch nicht kenne, ist jede Ausgabe bis heute eine große Herausforderung, keine Routine. Und da ich einen hohen Kompositionsanspruch an die Zeitschrift habe, also keine Potpourris machen will, sondern eine wirklich streng komponierte Zeitschrift, wo die Beiträge miteinander ins Gespräch gebracht werden, bestenfalls eine Zeitschrift, die sich von vorne bis hinten, also zeitschriftenuntypisch, bestenfalls von vorne bis hinten als ein Text lesen lässt. "

    Wird das eigenwillige und innovative "Schreibheft" noch weitere 30 Jahre literarische Pionierarbeit leisten? Wird es weiterhin der Wegbereiter für größere Verlage sein, die immer wieder neue Autoren suchen?

    " ... Leider ist es so, dass Zeitschriften immer nur als eine Art Durchlauferhitzer wahrgenommen werden, als vorläufiges Medium. Richtig besprochen sowieso nicht, aber dann im Nachhinein aber auch nicht richtig geschätzt werden für ihre Entdeckungen. Aber gut, damit muss man wohl leben.

    Die Situation für Zeitschriften, für viele vergleichbare Zeitschriften ist nicht leicht im Moment. Es gibt immer noch genug... diese berühmte Enzensbergersche Quote, von Leuten, die sich für seriösere, schwierigere Literatur interessieren. Das sind auch diejenigen, die Literaturzeitschriften lesen und dieser Prozentsatz wird wahrscheinlich nie abnehmen. Der wird kleiner, aber im Verhältnis zu denjenigen, die überhaupt lesen, bleibt er halbwegs konstant. Wenn man die Zeitschrift finanziert kriegt, jede Zeitschrift ist subventionsabhängig, und wenn man genug Ideen hat, kann man immer noch weitermachen. Ich hab jedenfalls noch genug Ideen. Und wie gesagt, die Zeitschrift ist für mich immer noch, auch nach dreißig Jahren, das interessante Kommunikations- und Erkenntnismittel, und da hat sich nichts geändert. Es hat keine andere Beschäftigung gegeben, die für mich so interessant geblieben wäre so wie diese. Man müsste mich zwingen, damit aufzuhören. Freiwillig damit aufzuhören ist fast unmöglich. "