Donnerstag, 25. April 2024

Forum neuer Musik 2021
"Roses for my Funeral"

Komponistin Sarah Nemtsov versteht das von ihr initiierte Projekt „Roses for my Funeral“ als Einspruch gegen die Normierung von Trauer und die Tabuisierung von Tod und Vergänglichkeit. Das artikuliert sich in Klängen und Texten, die laut, fragil und vielschichtig sind und Genre-Grenzen nicht kennen.

Am Mikrofon: Leonie Reineke | 21.11.2021
    Sonja Lena Schmid, Leopold Hurt, Sebastian Berweck, Jonatan Shapiro
    Das Decoder Ensemble produziert Sarah Nemtsovs Performance "To the Beyond" und Heinrich Horwitz und Rosa Wernecke filmen (Deutschlandradio/ Thomas Kujawinski)
    "Roses for my Funeral"
    Ein Projekt von Sarah Nemtsov, Heinrich Horwitz und Decoder Ensemble
    Radio-Version (Ursendung)
    Mit Reden von Gesine Palmer, Frithjof Laaser, Heinrich Horwitz, Jalda Rebling, Ahmad El-Ali
    Wortregie: Noam Brusilovsky
    Aufnahme, Schnitt, Mastering: Robert F. Schneider

    Stichworte zu "Roses ..." Von Leonie Reineke

    "Unser Stück", sagt Sarah Nemtsov, "ist nicht ausschließlich düster oder beklemmend. Dunkel, ja - aber auch kraftvoll, mit positivem Zorn, mit Bizarrem, Absurdem, vielleicht sogar mit Komischem". So will "Roses for my Funeral" mindestens genau so viel über das Leben erzählen wie über das Sterben.
    Die Mitwirkenden verstehen ihre gemeinsame Arbeit deshalb als "Assoziationsraum und als Plädoyer für das Leben". Beabsichtigt ist ein durchkomponiertes Gefüge aus Musik, Schauspiel, gesprochenem Text, Performance und Licht - ein großes "Kaleidoskop an Farben, Gedanken, Aspekten".
    In mehreren Formaten
    Die erste Version wurde im Februar 2019 unter dem Titel "light by light" im Kaistudio 1 der Hamburger Elbphilharmonie präsentiert. Schattenspiele, poetisches Licht und Videos lieferten die visuelle Ebene dazu. Für das Forum neuer Musik "Wollen wir den Tod überwinden?" im April 2020 im Deutschlandfunk entwarfen Regisseur:in Heinrich Horwitz und Lichtkünstlerin Rosa Wernecke ein spezifisches Raumkonzept, dass sowohl die Performer als auch das Publikum dazu einladen sollte, sich zu bewegen und stets den eigenen Blickwinkel zu ändern. Die Covid-19-Pandemie indes stoppte die vorbereitete Aufführung.
    Für die jetzige Ausstrahlung wurde die halbszenische und multimediale Musik-Text-Performance zu einer rein auditiven Radio-Version umgedacht. Sarah Nemtsov und Heinrich Horwitz setzten sich dazu mit dem Hörspielautor und -regisseur Noam Brusilovsky zusammen. Er beauftragte mehrere Trauerrednerinnen und -redner diverser religiöser Anbindung zu Gedenkworten für eine jeweils fiktive Person und nahm ihre Reden im Studio auf. Texte und Stimmen verweisen auf die berufliche Realität, bei realen Begräbnissen heute vielgestaltig über Verstorbene sprechen zu können. Zugleich fungieren sie als Kommentarebene, die Nemtsovs Musik inhaltlich auszuleuchtet und zu fokussiert.
    Große Fragen für alles, was lebt
    Die acht Kompositionen sind nach einer festen Dramaturgie zusammen gestellt. Sie reflektieren die Todesthematik aus verschiedenen Richtungen. In dem Stück "Moth" für Sprecherin und Ensemble rekurriert Nemtsov auf Virginia Woolfs "The Death of a Moth". An diesem Text, so Nemtsov, beeindrucke sie, "wie die Autorin vergleichsweise sachlich und nüchtern, aber dennoch voller Mitgefühl den Tod eines Falters beschreibt. Das zeigt letztlich, wie die Fragen um Leben und Tod sich auch in solch vermeintlich unscheinbaren Geschöpfen zeigen, und auch hier nicht weniger dramatisch sind als bei uns Menschen."
    Bezüge zur Tierwelt findet sich auch in "Wolfsgesänge" für verstärktes Violoncello, Elektronik und Video. Hier interagiert Solistin Sonja-Lena Schmid mit zugespielten Popmusik-Schnipseln, Atemgeräuschen und synthetischen Klängen. Verarbeitet sind u. a. Feldaufnahmen von realen Wolfsgesängen, auch hat die Komponistin Laute von Wölfen transkribiert und für das Streichinstrument gesetzt. Dieses längste Stück des Programms ist auch zweifellos ein musikalisches Zentrum. Die Cellistin fasziniert an Sarah Nemtsov, dass sie keine Angst vor Gefühlen und starkem Ausdruck kennt, ihre Musik gleichzeitig aber nie ins Kitschige kippt.
    Musikalische Vielheit und Intensität
    In dem Solostück "Seven Thoughts – her Kind" für Keyboard mit Stimme ist der Solist sein eigener Duopartner: Pianist Sebastian Berweck dient die Klaviatur ausschließlich als Speichermedium, mit dem er auf virtuose Weise Samples abruft. Dazu produziert er Geräusche, Töne und verbale Äußerungen mit seiner Stimme. Es entwickelt sich eine Klangkulisse, die mit ihren brachial-ruppigen Sounds an Noise Music oder an das akustische Setting von Horrorfilmen erinnert.
    Gänzlich anders klingt das Stück "Schwelle" für verstärkte Diskant-Zither und Cello, das auf einer fast 300 Jahre alten Vorlage basiert. Die Komponistin bearbeitet und fragmentiert hier den Bach-Choral "Komm o Tod, du Schlafes Bruder" und schafft eine klangliche Gegenwelt zu all den elektronischen Sounds in den Stücken ringsum.
    Einen wieder anderer Ansatz liegt der szenischen Komposition "To the Beyond" für vier Performer mit Objekten und Verstärkung zugrunde. Hier verarbeitete die Komponistin auch persönliche Erlebnisse: "Nach dem Tod meiner Mutter musste ich ihr Atelier und ihre Wohnung auflösen. Während dieser Phase fallen einem viele Dinge in die Hand, die man von früher kennt oder mit denen man etwas Besonderes verbindet. Aber man kann nicht alles aufbewahren, muss auch loslassen können." Basierend auf diesen Eindrücken entstand ein performatives Stück, in dem vier Musiker an Tischen stehen und dort mit Objekten hantieren: mit Steinen, Flaschen, Büchern, Geschirr. Die Dinge werden in Kisten geworfen, manches geht dabei zu Bruch. Alle Aktionen sind streng rhythmisch notiert und bilden im Verbund eine komoplexe Polyphonie aus.

    Programm und Mitwirkende

    Im Rahmen von "Roses for my Funeral" erklingen folgende acht Kompositionen von Sarah Nemtsov:
    - "Tür" (2020)* für Drumset solo
    - "Moth" (2020/21)** für Ensemble und Sprecherin - (UA)
    - "Kammer" (2020) für verstärktes Toypiano und 2 Monotrone
    - "Wolfsgesänge" (2019)* für verstärktes Violoncello und Zuspielungen
    - "Seven Thoughts" (2018) für Keyboard mit Stimme
    - "Schwelle" (2019)* für Diskant-Zither und Cello
    - "To the Beyond" (2018)* für 4 Performer mit Objekten
    - "Seven Colours" (2018) Sätze I-IV für Ensemble
    ** Kompositionsauftrag des Decoder Ensembles und des Deutschlandfunks
    * Kompositionsauftrag des Decoder Ensembles, finanziert von der Ernst von Siemens Musikstiftung
    Sarah Nemtsov
    Geht als Komponistin einen bemerkenswerten Einzelweg, bei dem sie unentwegt die Frage nach dem Menschen aufwirft. Nemtsovs Musik kennzeichnen sensibel ausgehörte Setups, komplexe und energiegeladenen Texturen, oft von Elektroakustik grundiert. Sie hat bei Johannes Schöllhorn und Walter Zimmermann studiert und bisher über 100 Werke geschrieben. Am Forum neuer Musik 2016 war sie mit ihrem Projekt "Mekomot" beteiligt.
    Decoder Ensemble:
    2011 in Hamburg gegründet. Zum Profil gehören genreübergreifende Projekte, die experimentelle Instrumentalmusik, Multimedialität und Performance verbinden. Drei Ensemblemitglieder komponieren. Decoder mischt akustische und elektronische Instrumente zu einem energetischen Sound, der sich von herkömmlicher Neuer Musik abhebt. In Koproduktion mit dem Deutschlandfunk entstanden die CDs "Decoder" und "big data".
    Für das Projekt "Roses for my Funerals" ist das Decoder Ensemble gefördert von Musikfonds / Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.
    Mitwirkende der Aufnahme:
    • Leopold Hurt – E-Zither, Zither
    • Sebastian Berweck – Klavier, Keyboard
    • Sonja Lena Schmid – Violoncello
    • Jonathan Shapiro – Schlagwerk
    • Heinrich Horwitz – Sprechen, Klavier