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Fotos aus der Konservendose

In einer mährischen Kleinstadt lebt seit 79 Jahren der Künstler Miroslav Tichy. Er hat die Tschechoslowakei, die ihn sehr schlecht behandelte, nicht verlassen wie viele seiner Kollegen, er entzog sich dem Druck der Despotie auf ganz andere Weise und schuf ein Werk aus dem ganz tiefen, aber freiwillig gewählten Abseits.

Von Christian Gampert |
    Wollte man den Fall nur psychologisch betrachten, so wäre er ziemlich schnell klar: ein chronifizierter Kasus von Kontaktscheu, Rückzug und Hemmung, von Voyeurismus. Das ist die Schublade, aber sie nützt nicht viel. Denn ist das nicht der Ausgangspunkt von sehr vielen Künstlern: Einsamkeit und das bloße Schauen? Sublimation? Und müssen wir nicht wissen, wie es zu diesem Zustand kam? Es gehört zu den ermutigenden Begleitumständen dieser Ausstellung, dass ausgerechnet ein Psychiater den Künstler Miroslav Tichý (wieder-)entdeckt hat, dass er ihn aber so sein ließ, wie er war, und dass er die Größe seiner Kunst sehen konnte.

    Der Züricher Psychiater Roman Buxbaum ist 1968, als 12-jähriger, mit seinen Eltern aus Mähren in die Schweiz ausgewandert. Der Kontakt in die Tschechoslowakei aber riss nie wirklich ab. Die Buxbaums hatten in Mähren einen seltsamen Nachbarn und Bekannten, der malte; später bastelte er sich aus allerlei Abfällen Fotoapparate und streifte tags damit durch die Stadt, um Frauen zu fotografieren. Das interessierte Roman Buxbaum, der schon als Student in seine alte Heimat fuhr, um Miroslav Tichý zu besuchen.

    Inzwischen ist Buxbaum Arzt und selber Künstler; in der Ausstellung sieht man einen Videofilm, in dem der jetzt fast 80-jährige Tichý den Gast durch seine Wohnung führt, ein verwahrloster alter Mann inmitten von Gerümpel, Bildern und Bierflaschen. Tichy zeigt seine Fotos und wirft sie achtlos auf Haufen, er erläutert seine ziemlich nihilistische Weltsicht und lacht dazu: Alles ist nur Schein, ein Traumspiel, die Zeit vergeht, und wir schauen ihr dabei zu. Und manchmal können wir ein Foto machen.

    Miroslav Tichý hat nach dem Krieg an der Prager Kunstakademie studiert und war einmal ein aufstrebender Zeichner und Maler. Als die Kommunisten sich an die Macht putschten und auf einmal nicht mehr schöne Frauen, sondern arbeitsgestählte, die Arme reckende Proletarier beim Aktzeichnen die Modelle waren, da opponierte Tichý. Er kam ins Gefängnis und in die Psychiatrie. Man entließ ihn nach Hause, wo er seit Anfang der 60er Jahre durch Nichtstun auffiel, verschlissene Kleidung trug, sich die Haare lang wachsen ließ – ein früher Hippie, ein Clochard, das lebendige Gegenbild zum disziplinierten realsozialistischen Arbeiter.

    Aber Tichý hat sich, und das ist kaum glaublich, seine gesamte fotografische Ausrüstung selbst gebastelt, aus fortgeworfenen Rohren, neu zurechtgeschliffenen Brillengläsern; auch die Entwicklungs- und Vergrößerungsgeräte sind seine ureigenste Erfindung. Nur die Filme und die Chemikalien kaufte er. Es ist da ein großer Wille zur Autonomie spürbar inmitten der plansozialistischen Trübheit, eine Neuschöpfung des fotografischen Auges.

    Tichý streifte durch die Stadt und machte täglich, jeden Tag, vom Morgengrauen bis zum Abend, etwa 100 Fotos, drei Filme: auf der Straße, an Haltestellen, im Schwimmbad, auf dem Markt, in Lokalen. Es gibt nur ein Thema: die Frau. Frauen beim Gehen, beim Stehen, Frauen im Sitzen, im Liegen, beim Warten, beim Flirten. Frauenbeine, Gesichter, Brüste, und, sagen wir es ruhig, Ärsche. Frauen als ein Glücksversprechen, freilich als eines, das sich für den Fotografen nie einlösen wird, nie einlösen darf. "Ohne Titel, ohne Jahr" steht als Legende bei den meisten Fotos.

    Daheim bearbeitet und beschneidet Tichý die Bilder, bisweilen koloriert er, zeichnet hinein, versieht sie mit seltsamen, kartonierten Rahmen. Sie sind nur für ihn. Eine eigene Welt. Gerade in ihrer Unschärfe und Verschwommenheit bekommen die Aufnahmen eine malerische, träumerische Qualität, die das erotische Spannungsmoment in eine schöne Gelassenheit auflöst. Die von Tichý bevorzugte Sicht der sich spielerisch räkelnden Halbfigur findet sich in Akten bei Rubens und Ingres ebenso wie in frühen Daguerrotypien.

    Seine Rückenakte, seine Inszenierung der übereinandergeschlagenen Beine zitieren ganz unbewusst fotografische Klassiker. Aber das ist eigentlich gar nicht wichtig: Hier ist einer, der zum Sonderling gemacht wurde, auf der Suche nach der Rettung, nach der Schönheit: Miroslav Tichý, der Mann, der die Frauen liebte.