Was will so eine mit Marysia? Tierliebe, sagt Kasia. Leider ist Marysia nicht das Gemüt, bei einer solchen Anspielung aufzuhorchen. Es entwickelt sich eine intensive Freundschaft, die in ihrer feurigen Leidenschaft und schwülstigen Überspanntheit das "normale" pubertäre Maß weit hinter sich läßt. Die hitzige Kasia nennt Marysia ihr Mienchen, das sie küßt und anschreit, um danach in Tränen auszubrechen: "Schwör mir, daß du mich nie hassen wirst." Als Gegenleistung verspricht sie: "Ich rette Dich vor dem Königreich der Armen und vor dem Himmel für die Unschuldigen - Du kommst direkt in die Hölle." Mienchen solle frei werden, kein frommes Schaf bleiben. Der schwache Protest, alle Menschen seien Schäfchen Gottes, nutzt wenig. Kasia weiß, Gott hütet Schafe nur, um Wolle, Fell und Fleisch zu haben.
Marysia ist hin- und hergerissen, verstört von der launischen Freundin und fasziniert von deren abgeklärter Lebensphilosophie. Sie unterwirft sich Kasias subtilen Mutproben insachen Zynismus, bis sie, zu ihrem eigenen Entsetzen, in ein Weihwasserbecken spuckt. Mit der Freundschaft ist es danach fürs erste aus, - und mit dem Gottesglauben endgültig. Marysia versteht jetzt selbst etwas von Machtspielen - meint sie - und wird doch in einer neuen Freundschaft, in der lesbisch angehauchten Liebe zur Mitschülerin Ewa ein zweites Mal Objekt. Aus Kasias Mienchen wird Ewas Majka, und die lernt schnell weiter. Sie lernt Luxusleben, Gefühlskälte und schwülen Sadismus, sie lernt die Süße der Rache, die Lust am Bösen. Sie wird sich immer fremder. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als sich herausstellt, Marysia ist schuldig gewordenes Opfer eines doppelten Verrats. Ewa und Kasia waren Freundinnen und werden es auch wieder sein; war da sonst noch jemand? Nein, Marysia ist und bleibt ein Fräulein Niemand.
Ein Roman der Metamorphosen in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche: Was gestern Liebe war, ist heute Haß, wer heute oben steht, liegt morgen unten, Sein oder Nichtsein, ein Jemand wird zum Niemand. Tomek Tryznas Buch, 1988 geschrieben, 1993 veröffentlicht, gilt inzwischen als d e r postmoderne polnische Roman der 90er Jahre. Es muß also wohl um mehr gehen als um eine pubertierende Mädchenseele, die, von Geld und Grausamkeit verführt und verstört, zur Hölle fährt. Postmodern ist der Roman, sofern er sich verspielt zwischen verschiedenen Diskursen bewegt; und sofern er ein möglichst breites Publikum unterhalten will, vom Voyeur exzessiver Mädchenausschweifung bis hin zum kulturpessimistischen Moralisten. Eine Unterhaltung, die unter der jugendlich-glatten Oberfläche nicht ohne Tiefsinn ist: Tryznas Roman kann als Metapher gelesen werden, als Umschreibung der widersprüchlichen Entwicklung der polnischen Gesellschaft.
In Marysias konservativ-katholisches Weltbild, das das einer Mehrheit gewesen sein dürfte, bricht die moderne westliche Welt ein, und zwar in Gestalt der Errungenschaften und Ideale einer Minderheit. Kasia und Ewa gehören noch in der Zeit der Volksrepublik zur schmalen Schicht der Neureichen. Als Individuen gezeichnet, würden auch sie verunsichert und haltlos wirken; aber Tryzna zeigt sie eher als Typen, als Produkt von Männerphantasien: durchtriebene, raffinierte girlies, die Spaß haben wollen; denen kein Spiel zu obszön oder zu grausam ist.
Man stutzt. Ist der Gegensatz zwischen der Unschuld vom Land und den verdorbenen städtischen Luxusgören nicht sehr klischiert? Will das eine Satire sein? Oder: Soll der Untergang Marysias zur Umkehr mahnen, hat man es bei "Fräulein Niemand” mit einer modernen Moritat, mit handfester moralischer Belehrung zu tun? Marysias idyllische Erinnerungen an das frühere Landleben und die Zeit mit den Großeltern legen das fast nahe - aber dann wird in einer Traumsequenz betont, Zeit könne nicht zurückgedreht werden.
Trotzdem ist dem Roman deutlich die Irritation darüber anzumerken, daß die ideologische und ökonomische Öffnung, später der Postsozialismus, mit dem Verlust tradierter Werte einhergeht. Ein wenig ungeduldig wollte man einwenden: Es sei blauäugig, anzunehmen, daß moralische Normen und Wertvorstellungen jeden Systemwechsel ohne weiteres mitmachen könnten. Welchen Sinn, welche Funktion hätten denn Marysias Tugenden im Milieu rivalisierender neureicher Schickiemickies? Warum zum Himmel beten, wenn sich irdische Seligkeit so oder so erkaufen läßt? Gleichwohl, indem der Autor die Tatsache des Werteverlustes thematisiert, eine Erfahrung, die ja nicht allein in Polen gemacht wird, trifft er auf einen Nerv der Zeit. Denn zusammen mit den durch nichts ersetzten alten Werten droht doch wohl auch so etwas wie Identität verloren zu gehen; und Identitätsverlust hat sich längst als schwere individuelle und gesellschaftliche Gefährdung erwiesen.
Tomek Tryzna kann und soll das Problem von Identitätsverlust in seinem Roman nicht lösen. Eben die Passagen, in denen er etwas in dieser Richtung versucht, in denen er die Heldin orientieren, ihr Halt geben will, wirken naiv und aufgesetzt. Da treten Männer auf und raten der verwirrten jungen Frau. Sie solle Kasia nicht hinterherlaufen: "um anderen zu helfen, muß man zuerst sich selbst helfen." Majka-Mienchen solle Marysia suchen, sie solle ihren eigenen Weg gehen und notfalls die fremde Umgebung fliehen. Das ist gut gemeint, es überzeugt nicht.
Die Stärke des Romans liegt eher in dem Sog, der von ihm ausgeht; "Fräulein Niemand” schildert Schritt für Schritt, sich steigernd, eine negative education sentimentale. Marysia fängt ihr Leben, fängt sich an als eine Hoffnung. Konfrontiert mit einer fremden Wirklichkeit, auf die niemand sie vorbereitet hat, wird sie nicht etwa desillusioniert, sondern sie deliriert: Ein rasanter Rutsch, einmal einfach zur Hölle, ohne Rückfahrkarte. Ob man das spöttisch-belustigt liest oder zornig-beklommen, hängt davon ab, ob man diese Figur als "verführte Unschuld" oder als "zerstörte Hoffnung" versteht.
Marysia ist hin- und hergerissen, verstört von der launischen Freundin und fasziniert von deren abgeklärter Lebensphilosophie. Sie unterwirft sich Kasias subtilen Mutproben insachen Zynismus, bis sie, zu ihrem eigenen Entsetzen, in ein Weihwasserbecken spuckt. Mit der Freundschaft ist es danach fürs erste aus, - und mit dem Gottesglauben endgültig. Marysia versteht jetzt selbst etwas von Machtspielen - meint sie - und wird doch in einer neuen Freundschaft, in der lesbisch angehauchten Liebe zur Mitschülerin Ewa ein zweites Mal Objekt. Aus Kasias Mienchen wird Ewas Majka, und die lernt schnell weiter. Sie lernt Luxusleben, Gefühlskälte und schwülen Sadismus, sie lernt die Süße der Rache, die Lust am Bösen. Sie wird sich immer fremder. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als sich herausstellt, Marysia ist schuldig gewordenes Opfer eines doppelten Verrats. Ewa und Kasia waren Freundinnen und werden es auch wieder sein; war da sonst noch jemand? Nein, Marysia ist und bleibt ein Fräulein Niemand.
Ein Roman der Metamorphosen in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche: Was gestern Liebe war, ist heute Haß, wer heute oben steht, liegt morgen unten, Sein oder Nichtsein, ein Jemand wird zum Niemand. Tomek Tryznas Buch, 1988 geschrieben, 1993 veröffentlicht, gilt inzwischen als d e r postmoderne polnische Roman der 90er Jahre. Es muß also wohl um mehr gehen als um eine pubertierende Mädchenseele, die, von Geld und Grausamkeit verführt und verstört, zur Hölle fährt. Postmodern ist der Roman, sofern er sich verspielt zwischen verschiedenen Diskursen bewegt; und sofern er ein möglichst breites Publikum unterhalten will, vom Voyeur exzessiver Mädchenausschweifung bis hin zum kulturpessimistischen Moralisten. Eine Unterhaltung, die unter der jugendlich-glatten Oberfläche nicht ohne Tiefsinn ist: Tryznas Roman kann als Metapher gelesen werden, als Umschreibung der widersprüchlichen Entwicklung der polnischen Gesellschaft.
In Marysias konservativ-katholisches Weltbild, das das einer Mehrheit gewesen sein dürfte, bricht die moderne westliche Welt ein, und zwar in Gestalt der Errungenschaften und Ideale einer Minderheit. Kasia und Ewa gehören noch in der Zeit der Volksrepublik zur schmalen Schicht der Neureichen. Als Individuen gezeichnet, würden auch sie verunsichert und haltlos wirken; aber Tryzna zeigt sie eher als Typen, als Produkt von Männerphantasien: durchtriebene, raffinierte girlies, die Spaß haben wollen; denen kein Spiel zu obszön oder zu grausam ist.
Man stutzt. Ist der Gegensatz zwischen der Unschuld vom Land und den verdorbenen städtischen Luxusgören nicht sehr klischiert? Will das eine Satire sein? Oder: Soll der Untergang Marysias zur Umkehr mahnen, hat man es bei "Fräulein Niemand” mit einer modernen Moritat, mit handfester moralischer Belehrung zu tun? Marysias idyllische Erinnerungen an das frühere Landleben und die Zeit mit den Großeltern legen das fast nahe - aber dann wird in einer Traumsequenz betont, Zeit könne nicht zurückgedreht werden.
Trotzdem ist dem Roman deutlich die Irritation darüber anzumerken, daß die ideologische und ökonomische Öffnung, später der Postsozialismus, mit dem Verlust tradierter Werte einhergeht. Ein wenig ungeduldig wollte man einwenden: Es sei blauäugig, anzunehmen, daß moralische Normen und Wertvorstellungen jeden Systemwechsel ohne weiteres mitmachen könnten. Welchen Sinn, welche Funktion hätten denn Marysias Tugenden im Milieu rivalisierender neureicher Schickiemickies? Warum zum Himmel beten, wenn sich irdische Seligkeit so oder so erkaufen läßt? Gleichwohl, indem der Autor die Tatsache des Werteverlustes thematisiert, eine Erfahrung, die ja nicht allein in Polen gemacht wird, trifft er auf einen Nerv der Zeit. Denn zusammen mit den durch nichts ersetzten alten Werten droht doch wohl auch so etwas wie Identität verloren zu gehen; und Identitätsverlust hat sich längst als schwere individuelle und gesellschaftliche Gefährdung erwiesen.
Tomek Tryzna kann und soll das Problem von Identitätsverlust in seinem Roman nicht lösen. Eben die Passagen, in denen er etwas in dieser Richtung versucht, in denen er die Heldin orientieren, ihr Halt geben will, wirken naiv und aufgesetzt. Da treten Männer auf und raten der verwirrten jungen Frau. Sie solle Kasia nicht hinterherlaufen: "um anderen zu helfen, muß man zuerst sich selbst helfen." Majka-Mienchen solle Marysia suchen, sie solle ihren eigenen Weg gehen und notfalls die fremde Umgebung fliehen. Das ist gut gemeint, es überzeugt nicht.
Die Stärke des Romans liegt eher in dem Sog, der von ihm ausgeht; "Fräulein Niemand” schildert Schritt für Schritt, sich steigernd, eine negative education sentimentale. Marysia fängt ihr Leben, fängt sich an als eine Hoffnung. Konfrontiert mit einer fremden Wirklichkeit, auf die niemand sie vorbereitet hat, wird sie nicht etwa desillusioniert, sondern sie deliriert: Ein rasanter Rutsch, einmal einfach zur Hölle, ohne Rückfahrkarte. Ob man das spöttisch-belustigt liest oder zornig-beklommen, hängt davon ab, ob man diese Figur als "verführte Unschuld" oder als "zerstörte Hoffnung" versteht.