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Fragwürdige Literatur

Umfragen zufolge liest ein Drittel der Russen gar keine Bücher mehr. Die Auflagenzahlen sinken. Zugleich überschwemmen billige Bestseller den Markt und jede Menge Schund. Darunter auch chauvinistische und antisemitische Literatur. Die fremdenfeindlichen Schriften werden völlig frei verkauft - obwohl der Inhalt der russischen Verfassung widerspricht. Gesine Dornblüth hat sich auf Moskaus größtem Büchermarkt umgesehen.

    Über vier Etagen erstreckt sich der so genannte Bücherklub im ehemaligen Moskauer Olympiastadion. Dicht an dicht reihen sich Verkaufstische aneinander. Hinter einem steht ein hagerer älterer Mann. Sein grauer Vollbart reicht bis zur Brust. Er trägt ein T-Shirt mit Runen darauf. Vor ihm liegen mehrere Bände mit dem Titel "Russische Rassentheorie". Dazwischen eine Kopie des in Deutschland verbotenen Nazi-Films "Jud Süß". Auch in Russland ist Literatur, die zum Rassenhass aufruft, gesetzlich untersagt. Aber es ist mühsam, dieses Verbot durchzusetzen.

    Vladimir Novitskij leitet das Moskauer Büro der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte:

    "Um solche Bücher vom Markt zu nehmen, müssten sie als extremistisch eingestuft werden, entsprechend dem Gesetz zur Bekämpfung extremistischer Tätigkeit. Das kann nur ein Gericht, und zwar auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft aber ist mit anderen Dingen beschäftigt."

    Ein weiteres Problem ist die hohe Akzeptanz nationalistischer und chauvinistischer Literatur, erläutert Novitskij. Die Bücher werden gekauft. Einer Umfrage des renommierten Moskauer Lewada-Instituts zufolge haben mehr als 60 Prozent der Russen fremdenfeindliche Ansichten.

    Nicht weit entfernt vom Stand mit den Nazifilmen sitzt Viktor Aleksandrowitsch auf einem Hocker neben seinem Verkaufstisch. Viktor Alexandrowitsch ist Rentner, früher hat er auf dem Bau gearbeitet, mit dem Verkauf der Bücher bessert er seine Rente auf. Gut sichtbar hat er Bildbände über den Zweiten Weltkrieg drapiert. Sie zeigen Fallschirmspringer, Kriegsschiffe, Panzer, Waffen. Auch Klassiker der russischen Literatur wie Dostojevskij und Tolstoj liegen aus, aber gut ein Viertel der Bücher trägt Titel wie "Der jüdische Kampf", "Das jüdische Nordost" oder "Was uns an ihnen nicht gefällt". Gegen wen sich das Buch richtet, lässt sich unschwer anhand des Umschlags erkennen. Ein Davidstern ist da zu sehen und ein Foto des jüdischen Oligarchen Boris Berezovskij.

    "Das ist kein Chauvinismus, und darin ist keine Fremdenfeindlichkeit enthalten. Übrigens, sehr aktuell sind diese beiden Bände von Alexander Solschenizyn, '200 Jahre miteinander'. Da geht es um die jüdische Frage von den Anfängen des russischen Staates bis heute. Das ist ein Thema, das viele Menschen bewegt."

    Der Begriff "jüdische Frage" fasst die vermeintliche Bedrohung der Russen durch die Juden zusammen. Der Autor, Alexander Solschenizyn, gilt als nationalistisch und antisemitisch. Eine Frau tritt an den Bücherstand. In beiden Händen trägt sie Plastiktüten.

    "Ich habe mir extra einen Tag meines Urlaubs freigehalten, um hier her zu kommen, denn hier finde ich alles, was ich brauche. Ich bin schon zwei Stunden hier. Bisher habe ich Kinderbücher für meine Enkel gekauft, und jetzt suche ich noch etwas für mich. Ich interessiere mich für Politik, deshalb gucke ich nach politischen Büchern."

    Dann stellt sie ihre Tüten ab und greift gezielt nach einem Buch mit einem Kampfflugzeug und einem uniformierten Soldaten auf dem Umschlag. "Jagd auf Russland", heißt es, "Unsere Feinde und Freunde im 21. Jahrhundert". Der Überfluss antisemitischer, militaristischer und extrem patriotischer Literatur löste auf der letztjährigen Moskauer Buchmesse einen Skandal aus. Vertreter von jüdischen, muslimischen und Menschenrechtsorganisationen protestierten gemeinsam gegen die Hasspublikationen, die dort ganz offen neben anderen Neuerscheinungen vorgestellt wurden. Die Organisatoren der Buchmesse ignorierten den Protest. Vladimir Novitskij vom Moskauer Büro der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte tritt nun direkt an die Verlage heran.

    "Wir machen Aktionen wie 'Russland ohne Nazi-Bücher', und wir fordern die Verlage auf, auf solche Bücher zu verzichten. Einige Verleger haben darauf reagiert und geben solche Bücher nicht mehr heraus. Wahrscheinlich kann man die Veröffentlichung von extremistischen Büchern aber nicht vollständig verhindern."

    Außerdem hat Novitskij begonnen, Seminare für Richter, Staatsanwälte und Polizisten anzubieten. Er erklärt ihnen, welche Gefahr von solchen Büchern ausgeht, und weshalb man dagegen vorgehen muss. Novitskij glaubt zwar nicht, dass die russische Regierung Fremdenfeindlichkeit gezielt unterstützt, aber der Staat verkenne die Gefahr.

    "Der Staat widmet dem rechten radikalen Extremismus zu wenig Aufmerksamkeit. Und er betrachtet ihn als eine Möglichkeit, soziale Spannungen zu mindern. Der Staat ist nicht in der Lage, würdige Lebensbedingungen für seine Bürger zu schaffen. Und er versucht, die eigene Schuld daran auf andere zu übertragen: auf ethnische Minderheiten, auf Kaukasier, auf Juden, auf Amerika, auf Ausländer, die die Reichtümer Russlands ausnutzen."