Archiv


Franca Wolff: Glasnost erst kurz vor Sendeschluss Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens.

Wenige Wochen, bevor Margot Honecker im November 1989 zurücktrat, hatte es im Zuge der Wende schon den obersten Medienkontrolleur der SED erwischt: Joachim Hermann. Unter seiner Ägide hatte die Berichterstattung der DDR-Medien gerade in den letzten Jahren des Arbeiter- und Bauernstaates ein bisher ungekanntes Maß an Realitätsverleugnung angenommen. Die unerträgliche Kluft zwischen der DDR-Wirklichkeit und den rosarot gefärbten Berichten über einen nur surreal existierenden Sozialismus war für nicht wenige DDR-Bürger damals einer der Gründe, dem Land den Rücken zu kehren. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens sind Thema eines neuen Buches aus dem Kölner Böhlau Verlag. Michael Kuhlmann stellt es Ihnen vor.

Michael Kuhlmann |
    Wenige Wochen, bevor Margot Honecker im November 1989 zurücktrat, hatte es im Zuge der Wende schon den obersten Medienkontrolleur der SED erwischt: Joachim Hermann. Unter seiner Ägide hatte die Berichterstattung der DDR-Medien gerade in den letzten Jahren des Arbeiter- und Bauernstaates ein bisher ungekanntes Maß an Realitätsverleugnung angenommen. Die unerträgliche Kluft zwischen der DDR-Wirklichkeit und den rosarot gefärbten Berichten über einen nur surreal existierenden Sozialismus war für nicht wenige DDR-Bürger damals einer der Gründe, dem Land den Rücken zu kehren. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens sind Thema eines neuen Buches aus dem Kölner Böhlau Verlag. Michael Kuhlmann stellt es Ihnen vor.

    Am Mittwoch, dem 18. Oktober 1989, begann das Abendprogramm des DDR-Fernsehens wie gewöhnlich.

    Guten Abend, meine Damen und Herren zur Aktuellen Kamera!

    Dann freilich war beinahe nichts mehr wie gewohnt.

    Um 14 Uhr war das Zentralkomitee zusammengetreten, knapp zwei Stunden später wurde uns das Ergebnis bekannt. Die wichtigste Meldung des heutigen Tages: gewählt zum neuen Generalsekretär wurde Egon Krenz, und zwar einstimmig.

    Die Ära des Erich Honecker war zuende - und abgelaufen war damit auch die Zeit für einen seiner engsten Mitstreiter: den ZK-Sekretär und Medienlenker Joachim Herrmann. Herrmanns System lag in Trümmern: das System von staatlich kontrollierten Zeitungen, Radio- und Fernsehprogrammen. Von Fernsehprogrammen, die vor kurzem noch Kommentare wie diesen verbreitet hatten: Über die Fluchtbewegung Zehntausender aus der DDR.

    Die vorgeblichen Massen, um die es sich angeblich handelt, stellen im Kreise der Urlauber keine zwei Prozent dar. Im Gesamtmaßstab unserer 18 Mio. Einwohner gerade mal 1,15 Prozent. 98 Prozent treue Staatsbürger - die würden Bonn und Bild sich in der BRD gerne wünschen, aber man veranstaltet eine wüste Hetze und versucht, Panik zu schüren wegen nicht einmal zwei Prozent.

    Karl-Eduard von Schnitzler und sein Schwarzer Kanal - auch dessen Zeit ging im Oktober 1989 zuende. Doch schon seit längerem hatten Schnitzler und die anderen Hardliner in den Fernsehredaktionen an Boden verloren: Immer mehr Journalisten sympathisierten nämlich im Stillen mit Michail Gorbatschow. Das ist die wichtigste Erkenntnis aus der Dissertation der Berliner Medienwissenschaftlerin Franca Wolff. Glasnost erst kurz vor Sendeschluss - diese Studie befasst sich mit den letzten sechs Jahren des ostdeutschen Fernsehens, vom Beginn der Ära Gorbatschow an. Das Buch schildert die politische Steuerung durch die SED, analysiert die Programme und untersucht schließlich, wie die Zuschauer reagierten. Die

    in stützt sich dabei auf bislang nicht erschlossene Akten aus dem Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam und dem Bundesarchiv. Der Inhalt umfasst interne Sitzungsprotokolle ebenso wie Erhebungen zum Zuschauerverhalten und etliches mehr - bis hin zu persönlichen Notizen der Politbüromitglieder. Für die war die sowjetische Reformpolitik durchweg tabu. Und sie hielten das Fernsehen eisern im Griff. Über den Sender gingen Meldungen wie diese: Über das Treffen Erich Honeckers mit Kommunisten aus China, Anfang Oktober 1989.

    Die Gesprächspartner stimmten dahingehend überein, dass in der Gegenwart ein besonders aggressives antisozialistisches Auftreten des imperialistischen Klassengegners mit dem Ziel, die sozialistische Entwicklung umzukehren, zu beobachten sei. In diesem Sinne bestehe eine grundsätzliche Lehre aus dem konterrevolutionären Aufruhr in Peking sowie in der gegenwärtigen Hetzkampagne gegen die DDR und andere sozialistische Staaten darin, unbeirrt an den Grundwerten des Sozialismus festzuhalten und zugleich die Gesellschaft ständig zu vervollkommnen.

    Business as usual also. Solche Anti-Glasnost-Politik durchzieht auch die Akten, die Franca Wolff untersucht hat. Die Leitungsebene des Fernsehens stand treu zur Partei. Und die Hauptnachrichtensendung Aktuelle Kamera drückte den Hunderttausenden Demonstranten denselben Stempel auf, den schon Karl-Eduard von Schnitzler den Flüchtlingen verpasst hatte: Provokateure und Außenseiter.

    Augenzeugen berichten von einer jungen Mutter, die verantwortungslos ihr Kind mit in die Provokation hineingezogen hat. Wusste sie wirklich, was sie da tat, als Statist in einem antisozialistischen Szenario? Es steht fest, dass die Randalierer - zumal ferngesteuert - hier niemanden repräsentieren, allenfalls sich selbst. Insofern werden sie keine Chance haben.

    Zwei nicht ganz neue Vermutungen sehen sich in diesem Quellenfundus bestätigt: Dieses Fernsehen verlor mehr und mehr Zuschauer, und seine administrativen Lenker gingen ihm schließlich selbst auf den Leim. Ab 1987 hatten die politischen Nachrichten und Analysen immer weniger mit der Wirklichkeit zu tun. Die Informationen hatten Lücken - Lücken, die die Zuschauer mit Hilfe des Westfernsehens füllten. Nach dem 18. Oktober 1989 warf die politische Publizistik das Ruder herum – allerdings so konsequent, wie es wohl kaum ein Zuschauer erwartet hatte. Sobald man indes die betriebsinternen Diskussionen der Vorjahre ins Kalkül zieht, kam diese Kursänderung alles andere als überraschend. Klaus Schickhelm, Chef der Aktuellen Kamera, nur wenige Tage nach dem Umschwung.

    Was wir wollen, ist die schnelle, wahrheitsgetreue Information über das, was Sie, was uns alle beschäftigt. Das sehen wir als unsere wichtigste Verpflichtung Ihnen gegenüber an. Nichts soll künftig übergangen werden. Entscheidungen, und wie es dazu kommt, sollen im Streit der Meinungen miterlebbar sein.

    Die

    in stellt heraus, dass das nicht nur leere Versprechungen waren. Binnen Wochen mutierte die Aktuelle Kamera zu einer Sendung, in der sich das DDR-Publikum besser als irgendwo sonst über die Umwälzungen im eigenen Land informiert fühlte. Darin traf sich dieses älteste Aushängeschild des DDR-Fernsehens mit dem jüngsten: der beinahe taufrischen Jugendsendung Elf99. Einem Magazin, das ursprünglich von den alten Kadern als letzter Befreiungsschlag gedacht gewesen war: Fernsehen mit einem Tempo wie im Westen.

    Genosse Honecker, zwei Worte zu Elf99, Jugendfernsehen, bitte!" - "Ein ganz tolles Ding!" - "Gefällt Ihnen die Sendung?" - "Ich sehe das immer, jedesmal besser! So hoffe ich jedenfalls." - "Dankeschön!

    So hatte es noch im September bei Elf99 geklungen. Nun also auch hier die 180-Grad-Wende. Erich Honeckers einstige Hoffnungsträger machten sich auf, um die Decke über einem DDR-Staatsgeheimnis zu lüften: Sie fuhren nach Wandlitz.

    Das ist wohl der Ortsname, der in den letzten Wochen - auch in den Medien der DDR - am meisten genannt wurde, wenn es um Gerüchte und Spekulation, um Legenden ging.

    Drei Wochen zuvor, beim ersten Versuch, ist das Drehteam noch beim Wachpersonal abgeblitzt. Nun erkunden die Elf99er auf einer organisierten Führung die Funktionärsresidenz der SED.

    Die Kühltechnik in allen Häusern ist generell unsere Produktion, alle Möbel unsere Produktion, es gibt einige wenige Importe, das sind die Armaturen.

    Das Jugendfernsehen zeigt Bilder aus Wohnungen, die gute Bürgerlichkeit mit Jugendherbergsambiente der sechziger Jahre vereinen - Bilder aus dem wohltemperierten Schwimmbad, aus einem gutsortierten Supermarkt. Schließlich ein Interview mit Kurt Hager, der beklagt, Wandlitz sei nach KZ und Gefängnis nun das letzte Internierungslager, das er in seinem Leben bewohnen müsse. Der Elf99-Reporter bekleidet eine neue, ungewohnte Rolle: die des investigativen Journalisten.

    So, nach drei Stunden hier auf dem Gelände der Waldsiedlung hier in Wandlitz - das sind unsere Bilder gewesen, wir haben so viel gedreht, wie es ging, wir haben nichts weggelassen, obwohl es manchmal sehr schwergefallen ist. Macht euch euer Bild von den Dingen, hier auf dem Gelände hinter mir, selbst.

    Klarer als in diesem letzten Satz war die Abkehr vom parteilichen Journalismus wohl kaum zu bekunden. Franca Wolff sieht den raschen Wandel des Fernsehens als Indiz: als ein letztes Anzeichen dafür, wie sehr etliche TV-Journalisten längst mit dem Honecker-Regime gebrochen hatten. Mit Blick auf die Glaubwürdigkeit des Aktenfundus selbst bleiben freilich letzte Unwägbarkeiten: wieviele Fernsehjournalisten vollzogen die Wende eher aus Opportunismus denn aus Überzeugung? Und haben die Zuschauer die Wahrheit gesagt, wenn man sie vor 1989 nach ihren Fernsehvorlieben fragte? Dass viele DDR-Bürger mit ihren wahren politischen Einstellungen nicht eben hausieren gingen, ist schließlich seit langem bekannt. Fragen allerdings, die sich wohl niemals so recht noch werden klären lassen. Etwas irritiert wird der Leser indessen darauf reagieren, dass in diesem Buch die Politik Michail Gorbatschows und ihre Folgen für die DDR noch einmal auf über 60 Seiten ausgebreitet werden. Diesen Platz hätte die

    in ebenso gut weiteren Forschungsergebnissen zum eigentlichen Thema zugestehen können. Doch wer solche Passagen überschlagen will, dem kommt die kleinteilige Gliederung des Buches entgegen. Rasch durchblättern dürften viele Leser insbesondere das vierzehnseitige zweite Kapitel: Statt dort, wie es sich aufdrängt, an das DDR-Fernsehen das Raster der sozialistischen Medientheorie anzulegen, bringt es nämlich aus heiterem Himmel den westlichen Strukturfunktionalismus Talcott Parsons' ins Spiel. Ein etwas beliebiger Ansatz, den Franca Wolff erfreulicherweise erst in ihrem Resümee noch einmal aufgreift - und das auch nur in aller Kürze. Beim Leser selbst verfestigt sich der Eindruck, dass die

    in hier in erster Linie Konzessionen an wissenschaftliche Vorlieben ihres Doktorvaters machen musste. Trotz mancher Redundanzen ist Glasnost erst kurz vor Sendeschluss unter dem Strich ein durchaus ergiebiges Buch. Natürlich hebt es wie viele andere auch nur eine Facette des ostdeutschen Fernsehens hervor; wer sich umfassend informieren will, der kommt um die vielen schon verfügbaren Sammelbände, Analysen und Lebenserinnerungen auch künftig nicht vorbei. Wertvolles neues Material jedoch liefert Franca Wolff für Blicke ins Innenleben des DDR-Fernsehens, hinter die Mauern des nun 50 Jahre alten Sendekomplexes in Berlin-Adlershof.

    Michael Kuhlmann über Franca Wolff: "Glasnost erst kurz vor Sendeschluss. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens". Böhlau Verlag Köln, 320 Seiten, Preis: 29 Euro und 90 Cent.