Donnerstag, 25. April 2024

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Francis Poulencs "Les Mamelles de Tirésias"
Surreale Nachkriegszeit

Im Zuge einer Kooperation zwischen zwei Festivals kamen "Die Brüste des Tiresias" jetzt nach Brüssel. In ironischer Weise geht es in Francis Poulencs erstes Bühnenwerk darum, die kriegsbedingten Ausfälle in der Bevölkerungszahl zu kompensieren - durch verstärkte Zeugungsanstrengungen.

Von Frieder Reininghaus | 17.01.2014
    Das mit Musik versehene Drame surréaliste von den wie Luftballons geplatzten Brüsten der Hausfrau Thérèse, die sich emanzipieren und dem Vaterland weiter kein Kanonenfutter mehr bescheren will, schließlich auch nicht mehr als Kartenlegerin für Lebensmittelkarten tätig ist, sondern eher unideologisch die Liebe pflegt will - dieses filigrane Wunderwerk des Wortwitzes und der Montage-Musik erschien jetzt in der Brüsseler Salle Malibran. Und zwar in der verschlankenden Bearbeitung des entschieden pazifistisch gestimmten Benjamin Britten. Der reduzierte 1958 für sein Musikfestival in Aldeburgh die groß besetzte und orchestrierte Opéra bouffe auf ein Dutzend Gesangspartien und zwei Flügel. Das schärft die Musik und deren Geist.
    Aus dem Humus dessen, was 1914 und in den Jahren danach in den ländlichen Turn- und Festhallen, auf Bahnhofsvorplätzen und in den Theatern intoniert wurde, stammt so manches Versatzstück, das Francis Poulenc der Literatur-Operette anverwandelte, die er auf dem Höhepunkt des zweiten Weltkriegs zu Papier brachte – versehen mit einem Prolog, der den von Leoncavallos veristischen "Pagliacci" parodiert. Ja, hier gilt es nicht dem Opern-Realismus, sondern dem der Oper so weitgehend fremd gebliebenen Surrealismus. Immerhin geht es um wiederholte Geschlechtsumwandlungen, radikale (aber vergeblich bleibende) Versuche der Frauenemanzipation und um solipsistische Hervorbringung von 40.000 Babys an einem einzigen Tag durch den von Thérèse frustrierten Ehemann – er zahlt dem Vaterland gleichsam heim, was ihm im häuslichen Bett versagt bleibt. Das ist eine Erklärung für manches – und die Idee der Junggesellenzeugung ein heiterer Kommentar zum Glauben an die Jungfrauengeburt.
    Poulenc schrieb eine durchgängig neoklassizistisch gestylte Folge von kurzen, konzisen Nummern mit einer Fülle von musikliterarischen Anspielungen. Häufig greifen die auf Abwechslung bedachten Abschnitte semantisch besetztes musikalisches Material auf – vom Walzer, der Polka oder dem Militärmarsch über "Tristan"-Allusionen bis hin zum "Fühlst-Du-mein-Herz-schlagen"-Schlager und zum Choral oder dem silbernen Operetten-Finale reicht. Instinktsicher verwandelte sich das alles einem luziden Instrumentalsatz an. Die Singstimmen changieren zwischen womöglich ironischer Schlichtheit und Repetitorium der schönsten Floskeln des Repertoires. Sie werden von einem bestens aufeinander eingespielten Team bravourös absolviert – von der irischen Sopranistin Aoife Miskelly mit den stechend scharfen Spitzentönen als Thérèse über Jean-Jacques L'Anthoën als deren Gatte mit vorzüglichem Verwandlungstalent und sympathischem Tenor bis zum Gendarmen Guillaume Paire, der aussieht, als wäre er just aus dem Film "Irma la Douce" abkommandiert. Die ganzen quirligen Szenen gehen vor einer Theke über die Bühne, an der sich die Gäste der Bar Sansibar in Stimmung trinken, und die sich dreht, um Thérèse und ihrem Softi-Mann als Küchenzeile zu dienen. Dazu gibt es eine pflegeleichte Inszenierung voll französischem Temperament und britischer Turbulenz.
    "Les Mamelles de Tirésias" – das ist eine der glücklichsten und – ganz wörtlich zu nehmen – fruchtbarsten Schöpfungen aus dem Geist des Sur-réalisme. Und die britisch-französische Produktion, die mit ihm seit eineinhalb Jahren tingelt, sollte unbedingt auch die Bundesrepublik heimsuchen, in der im Vorgriff auf künftige Heldentaten ausgerechnet eine erfolgreiche Familienpolitikerin zur Kriegsministerin gemacht wurde. Wenn Apollinaire das erlebt hätte – welch eine Fortsetzungsgeschichte hätte er seiner Thérèse andichten können!