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François Dufay: Die Herbstreise. Französische Schriftsteller im Oktober 1941 in Deutschland. Ein Bericht

Wie Zensur und Propaganda funktionieren, können wir gerade mal wieder live erleben. Und die etablierten Medien leisten, wie schon im Golfkrieg, keineswegs den Widerstand, den sie in einem demokratischen Land eigentlich leisten müssten. Journalisten und andere Kopfarbeiter lassen sich einspannen, ob nun bewusst oder unbewusst. Das ist nicht neu, und nicht selten wird, wenn alles vorbei ist, gefragt: Wie konnte das passieren? Ein historisches Beispiel für das Versagen der kritischen Vernunft unter ganz anderen Bedingungen, aus der Zeit des Nationalsozialismus, greift jetzt ein Buch des Journalisten Francois Dufay auf, nämlich die Kollaboration französischer Schriftsteller mit Nazideutschland. Anfang Oktober 1941 begab sich eine Gruppe von ihnen im bequemen Schlafwagen nach Deutschland, um auf Einladung des Reichs sich ein Bild zu machen.

Lothar Baier |
    Ich erfahre, dass hundert Franzosen in Paris erschossen werden sollen. Ich erfahre gleichzeitig, dass Derain, Vlaminck, Segonzac und andere Maler, dass Musiker und Schriftsteller Hitlers Einladung zur Lustreise nach Deutschland angenommen haben. Lustreise... Vielleicht werden sie an der Tür ihres Waggons mit dem Taschentuch winken, um freundlich ein paar Franzosen zu grüßen, die ein anderer Zug zum Lager Auschwitz transportiert und die im Lager Auschwitz sterben werden.

    Tagebuchnotiz des französischen Schriftstellers Léon Werth, aufgezeichnet am 15. Dezember 1941. Aus ihr geht hervor, dass aufmerksame Zeitgenossen, auch wenn sie wie der Tagebuchschreiber Werth in der tiefen französischen Provinz saßen, bereits Ende 1941 von einem Konzentrationslager namens Auschwitz erfahren haben konnten. Was war das für eine auf Einladung Hitlers unternommene "Lustreise" französischer Künstler und Schriftsteller, auf die der mit Antoine de Saint?Exupéry befreundete Prosaautor und Kunstkritiker Werth anspielte? In den auf Deutsch zugänglichen Darstellungen der Okkupationsepoche wird diese Deutschlandreise mit dem Ziel Weimar zwar erwähnt, aber eine detaillierte Beschreibung hat bisher gefehlt. Ein reichlich fragwürdiger Zeitzeuge, der ehemalige Chefzensor im besetzten Frankreich Gerhard Heller, widmete der Reise in seinen 1982 auf Französisch und Deutsch erschienenen Memoiren mit dem Titel "In einem besetzten Land. NS?Kulturpolitik in Frankreich" ein eigenes Kapitel. Doch als Beitrag zu seriöser Geschichtsschreibung ist diese Rechtfertigungsschrift des ehemaligen Mitglieds der NSDAP und des als "Sonderführer bei der Propaganda?Staffel" in Paris besoldeten Romanisten Heller kaum ernstgenommen worden.

    Eine Arbeit, die Licht in das Halbdunkel der Episode bringt, ist nun "Die Herbstreise". Ihr Verfasser, der bei dem Wochenmagazin "Le Point" beschäftigte Journalist François Dufay, hatte Gelegenheit gehabt, im französischen Literaturarchiv IMEC lagernde unveröffentlichte Dokumente auszuwerten. Umwerfende Enthüllungen sind dabei nicht zum Vorschein gekommen. Sein ausführlicher Bericht vermittelt interessierten Leserinnen und Lesern jedoch einen guten Einblick in die Funktionsweise nationalsozialistischer Kulturpolitik im von den Nazis besetzten Europa. Und er lässt erkennen, wie sehr sowohl politische Blauäugigkeit als auch soziale Anerkennungssucht keineswegs durchweg nazifreundliche oder faschistisch gesonnene Schriftsteller für die Verführungskünste der Nazis empfänglich gemacht hatten. Wobei Verführungskünste durchaus auch erotisch zu verstehen sind.

    Die Initiative zu dieser Herbstreise war von Goebbels ausgegangen, der Künstlern und Schriftstellern beim Aufbau des von ihm gewünschten kulturellen Europa im Zeichen des Nationalsozialismus eine bedeutende Statistenrolle zudachte. Am Zielpunkt der Reise, in Weimar, winkte als Höhepunkt der Veranstaltung die Gründung eines dann von Hans Carossa präsidierten europäischen Schriftstellerverbandes. Wie Dufays Bericht zeigt, waren viele der nach Weimar Eingeladenen so sehr von Goethe?Nimbus und Schiller?Pathos benebelt, dass sie den Propagandacharakter des Weimarer "Dichtertreffens" nicht im geringsten durchschauten. Es war ihnen nicht einmal aufgefallen, dass ihr europäisches Treffen in Weimar mit einer "Woche des deutschen Kriegsbuchs" zusammenfiel. Zufrieden reisten die Teilnehmer ? zu denen unter anderem der Schweizer Bestsellerautor John Knittel und der dänische Naturdichter Svend Fleuron gehörten ? wieder in ihre Länder zurück.

    Für die Franzosen hatte sich die Naziregie ein spezielles Programm ausgedacht. Drei ausgesuchte Schriftsteller wurden eingeladen, noch vor dem Weimarer Treffen eine Rundreise durch das neue Großdeutschland zu unternehmen, die über Frankfurt, Heidelberg, München und Wien nach Berlin führte. Gemeldet hatten sich drei gestandene Autoren, die nicht als ausgesprochene Nazisympathisanten bekannt waren: Marcel Jouhandeau, Jacques Chardonne und Ramon Fernandez. Fernandez hatten es vor dem Krieg sogar mit den Kommunisten gehalten. Über solche Kleinigkeiten sahen die in Paris federführenden Nazi?Kulturpolitiker jedoch hinweg, wie auch über den Umstand, dass zwei der drei als Homosexuelle bekannt waren. Im Fall Jouhandeau kam ihnen das wohl ganz zupass, denn zu der Reise durch Deutschland verlockte den Romancier auch die Aussicht, für ein paar Wochen der Überwachung durch seine Ehefrau Élise entkommen zu können. Sonderführer Heller spielte bei alldem den frankophilen, charmanten und verständnisvollen Supervisor. Vielleicht spielte er ihn auch nicht nur, denn Jouhandeau nannte den jüngeren Heller seinen "lieben Gérard", später zärtlich den wahren "Helden" der Reiseerzählung, die er unter dem Titel "Die geheime Reise" zu Papier brachte. Es scheint sich unterwegs sogar eine kleines Eifersuchtsdrama abgespielt zu haben, wie François Dufay andeutet: dem Schreibtisch-Leutnant Heller erwuchs ein Konkurrent in Gestalt eines weiteren deutschen "Helden", den Jouhandeau in seinem Bericht schlicht H. nannte. In seinen Memoiren lüftete Heller das Kürzel nicht, da er behauptete, Jouhandeau Verschwiegenheit geschworen zu haben.

    François Dufay ist dahintergekommen, dass dieser H. niemand anderes als Hans Baumann war, der Verfasser des Nazi?Gassenhauers "Es zittern die morschen Knochen". Baumann, damals 26 Jahre alt und frisch von der Ostfront eingetroffen, muss die aus Paris angereisten etwas reiferen Herren schwer beeindruckt haben. Was immer man ihnen im weiteren Verlauf der Reise bis Weimar auch zumutete, es wurde nicht gemuckst. Es half ja auch dem eigenen Fortkommen, wenn der begleitende deutsche "Sonderführer"ihnen gewogen blieb, denn in Paris war Heller auch für die Zuteilung von Papier zum Buchdruck und für andere Vergünstigungen zuständig. Dufays Bericht von dieser literarischen "Lustreise", der Deutschlandreisen von bildenden Künstlern, Musikern und Filmleuten folgten, ist eine ziemlich traurige Erzählung von der Korrumpierbarkeit selbst kluger Geister, und zwar nicht durch beeindruckende Summen, sondern durch geschickte Seelenmassage und die Aussicht auf ein wenig Glamour im Vorhof der Macht.

    Die Lektüre dieses aufschlussreichen Buchs hat bedauerlicherweise einige stilistische und inhaltliche Unebenheiten zu überwinden. Lektoriert worden ist die im Pariser Verlag Plon erschienene Originalausgabe offenbar kaum. Sonst wäre vielleicht jemandem aufgefallen, dass Heines Vers "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" nicht der blonden Loreley in den Mund gelegt ist und dass auch im Jahr 1941 der Dom von Mainz mitten in der Stadt und nicht inmitten romantischer deutscher Weinberge zu finden war.

    "Die Herbstreise. Französische Schriftsteller im Oktober 1941 in Deutschland" von Francois Dufay, erschienen im Siedler Verlag hat 189 Seiten und kostet 36 DM.