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François Ruffin: Les Petits Soldats du Journalisme

Medienkritik ist zu einer eigenen Branche herangewachsen, doch eher selten wird da an den Grundfesten des journalistischen Alltagsgebarens gerüttelt. Die Ausbildung der Meinungsmacher zum Beispiel ist selten ein Thema, wenn es um die Rolle der Medien und ihrer Vertreter in der Gesellschaft geht. In Frankreich ist das anders. Dort hat die Kritik an der Presse und an Journalisten eine lange Tradition. Sie reicht bis ins 19. Jahrhundert und seine Literatur. Balzac und Maupassant etwa haben sich des Themas angenommen. Heutzutage sind es allerdings seltener die Romanschreiber, die die Medien ins Visier nehmen. In Frankreich hat ein Enthüllungsbuch über die Tageszeitung 'Le Monde’ erst im Frühjahr großes Aufsehen erregt, auch bei uns wurde davon Notiz genommen. Weniger auffällig dagegen blieb bisher ein gleichzeitig publiziertes Buch aus Paris: darin berichtet ein junger Journalist von seinen Erfahrungen bei der Ausbildung an der renommiertesten Schule des Landes. Exemplarisch schildert Francois Ruffin Schein und Wirklichkeit des Arbeitsalltages seiner Zunft.

Frank J. Heinemann | 05.05.2003
    "Er wird Journalist werden", sagte Leon Giroud ernst. "Ach, Lucien, wenn Du es mit uns sein wolltest. Wir sind dabei, eine Zeitung herauszubringen, in der weder Wahrheit noch Gerechtigkeit beleidigt werden soll. Wir wollen Lehren verbreiten, die der Menschheit nützen, vielleicht." Machiavellistisch unterbrach ihn Lucien: "Ihr werdet nicht einen Abonnenten bekommen!"

    "Verlorene Illusionen", Honoré de Balzacs Roman von 1843 erzählt von Aufstieg und Fall des jungen Provinzlers Lucien de Rubempré in der ebenso korrupten wie korrumpierenden Presseszene des frühkapitalistischen Paris. Balzacs fiktiver Zeitungsschreiber lässt sich nur zu gern korrumpieren. Er will, heißt es, wie die "harten Burschen" in den Redaktionen werden, die ihren Beruf betreiben "wie ein Ladengeschäft". 160 Jahre danach konfrontiert ein junger französischer Journalist, ebenfalls aus der Provinz, aber sehr real, Balzacs frühe Medienkritik mit der Äußerung eines Presse-Machiavelli aus dem Jahr 2002:

    Was seid Ihr naiv! Die Medien sind doch eine Industrie. Hier wird Papier verkauft wie anderswo Zwiebeln.

    So ließ sich ein Dozent an Frankreichs berühmtester Journalistenschule vernehmen, dem "Centre de Formation des Journalistes", abgekürzt CFJ. Notiert hat den Lehrsatz der 27-jährige François Ruffin, der das Pariser Institut nach zweijähriger Studienzeit im Sommer 2002 als diplomierter Journalist verließ. Es waren saure Jahre für den jungen Mann aus Amiens. Ist er doch einer, der daran zu glauben scheint, dass Journalismus wenigstens ab und zu mit Wahrheit und Gerechtigkeit zu tun haben und die eine oder andere nützliche Lehre verbreiten sollte.

    Meine Hoffnungen wurden schnell begraben. An deren Stelle schlug mir diese "Hochleistungsschule" das Ideal des gehorsamen Zeilenschinders vor. Eine mechanische Schreiberei, angekettet vor dem Macintosh, den Lärm und die Komplexität der Welt nur wahrnehmend durch den Draht zur Nachrichtenagentur AFP.

    François Ruffin überstand die Frustrationen nur, weil er in eine Wallraff-Rolle, wenn auch ohne täuschende Maskierung, schlüpfte. Er wurde, soziologisch gesprochen, zum teilnehmenden Beobachter. Die Frucht der sauren Jahre ist ein Buch von 270 Seiten: "Les Petits Soldats du Journalisme". Den Titel hat unfreiwillig ein Dozent des CFJ gestiftet. Er hatte Ruffin und 50 anderen Studenten seines Jahrgangs verkündet, man werde sie zu "guten kleinen Soldaten des Journalismus" heranbilden. Ein Gastdozent von der AFP, der Agentur Agence France Press, sah die künftigen Journalisten nicht so brav in Reih und Glied in die Redaktionen marschieren, sondern eher als Mafiosi diskrete Netze knüpfen:

    In einem Jahr werdet Ihr Journalisten sein, werdet eintreten in ein Familien-Komplott. Ihr werdet nach Regeln arbeiten, die für die Leute vielleicht ein Skandal sind. Aber so funktioniert die Maschine nun mal.

    Und wie die Fernseh-Maschine zu bedienen sei, erläuterte ein anderer Lehrer so:

    Für ein Interview brauchst Du drei Fragen, drei Antworten: tac-tac-tac! In drei Minuten muss man alles erfahren.

    Als Ruffins Buch erschien, stellte ihm das Wochenblatt "Nouvel Observateur" tatsächlich drei Fragen. Die erste: Rennen Sie mit Ihrem Buch nicht nur offene Türen ein? Ruffins Antwort, in charakteristischer Weise widerborstig:

    Zunächst einmal: Ich attackiere nicht die Schule, sondern die Art und Weise der Produktion, die in der Presse vorherrscht. Zum Beispiel: Sie fragen mich doch zu meinem Buch, ohne es gelesen zu haben. Ich will Sie hier nicht persönlich kritisieren, von Ihnen wird ja verlangt, dass Sie schnell und viel produzieren. Solche Mechanismen habe ich beobachtet in der Schule. In der Sparte Radio lehrte man uns, einen Film zu besprechen ohne ihn gesehen und ein Buch, ohne es gelesen zu haben. Für solche Praktiken ist die Schule nur ein Vorreiter. Und was da die offenen Türen angeht: Privat geben Journalisten so etwas als Selbstverständlichkeit zu, öffentlich aber stemmen sie sich gegen eine Entzauberung. Ich konzentriere mich auf zwei große Täuschungen: der Journalist stellt sich als ein freies Wesen dar, während er in Wirklichkeit doch total abhängig ist, von seinem Chef und den Forderungen des Publikums; zum anderen präsentiert er sich als Intellektueller, obwohl er doch während seiner Arbeit aufhören muss zu denken. Um immer schneller zu produzieren wird Reflexion ersetzt durch Reflexe.

    Auslöser für den nach Ruffins Meinung bedenklichsten Reflex ist das, was in den meisten Redaktionen als Aktualität verstanden wird.

    Es gibt eine kollektive Heiligsprechung der Aktualität. Sie erscheint als praktisch naturgegeben, weil die Vorstellung davon allen Medien gemeinsam ist. Sie kopieren sich, imitieren sich. Im Einklang wird um ein Ereignis herum mobil gemacht. Teilweise ist das ein unwillkürliches Sich-im-Kreise-Drehen von Information, beabsichtigt dagegen ist die Imitation der Konkurrenz. Man glaubt, der Aktualität zu folgen - und folgt der Herde.

    Auf welche komischen Irrwege das führen kann, hat Ruffin beim Auftrag für eine Radioreportage erlebt, den ihm seine Ausbilder aufdrängten. Sie verlangten einen Schnellschuss zu einem Metro-Streik, dessen Folgen sie vom Schreibtisch aus als dramatisch einschätzten. Ruffin wollte nicht – er hatte sich gerade in die Situation der Atomwirtschaft eingearbeitet: Aufarbeitungsprobleme, mögliche Gefährdung durch Terroranschläge nach dem 11. September 2001. Hier die Abenteuer des Jungjournalisten in komprimierter Version:

    Als tagesaktuell galt also nur der Streik. Ruffin hatte zwar Kontakte zu Experten und Atomkraftgegnern geknüpft und erfahren, dass in einigen Tagen in mehreren Städten demonstriert werden würde, doch sein Ausbilder lehnte das Atom-Thema ab: "Das ist heute zu früh für die Aktualität." Ruffin bot einen anderen Aufhänger an: seit einigen Tagen gab es Befürchtungen, AlQaida könne sich auf Atomkraftwerke stürzen. Der Ausbilder: "Das ist zu spät, ist überholt. Über die Metro aber wird heute jeder sprechen." Ruffin zog also mit Aufnahmegerät los, um 10 Uhr 15, erwartete Rückkehr 11 Uhr 30. Am Gare du Nord, an dem angeblich nichts mehr ging, stellte er fest: Alle halbe Stunde gingen Züge. Ein Gesprächspartner sagte fröhlich, Streiks würden eben nur zu höchstens 50 Prozent befolgt, und eine Frau meinte: "Im Radio hört man davon nichts, aber es gibt immer Züge". Als er sich auftragsgemäß nach möglichen Anthrax-Anschlägen erkundigte, lachten die beiden nur. An der nächsten Station, den Hallen, traf er dann zwei Arbeitsmänner, die wirklich vom Streik mitgenommen waren: Ein Kameramann und ein Reporter vom Sender "France Trois", die keinen gefunden hatten, den sie fragen konnten. Zwei Tage später stellte die Armee Abwehrraketen am Atomzentrum "La Hague" auf, eine Nachricht auf Seite Eins aller Zeitungen. In der Schule war "natürlich" keiner auf das Thema vorbereitet, es kam wie immer zur reflexartigen Improvisation.

    Tac-tac-tac ... Die Leiden des jungen Ruffin – Frustration über das bloße Umschreiben von Agenturmeldungen, die Anderthalb-Minuten Schnellschüsse und Kurzkommentare, die beliebten "micro-trottoirs", idiotische Straßenumfragen - werden so geschildert, dass manchmal kleine Rachegelüste des Autors gegenüber der Schule und ihrem Personal durchscheinen. Alles in allem aber erreicht Ruffin sein erklärtes Ziel, das CFJ zu einem "Vergrößerungsspiegel" für die prekäre allgemeine Situation der Medien zu machen. Es eignet sich dazu, weil es Frankreichs renommierteste Journalistenschule ist. Seit seiner Gründung im Jahr 1946 sind rund 2000 Absolventen diplomiert worden. In den tonangebenden nationalen Medien sitzen sie überall, kaum dagegen in den regionalen. Die Institutsgründer gehörten meist zur Résistance, Ideengeber war Hubert Beuve-Méry, der legendäre Gründer der Zeitung "Le Monde". Sowohl mit seinem Blatt als auch mit der Schule wollte er die Grundlagen für einen Journalismus schaffen und sichern, der Faktentreue mit unabhängig-kritischem Engagement vereint, Abkehr also vom korrupten Pariser Vorkriegsjournalismus. Ruffin schildert nun eine Praxis, die den Gründungsideen Hohn spricht. Widerstandsgeist und kritische Liberalität sind nur noch Fassade, dahinter regiert der Markt, spätestens seit den Neunziger Jahren. Die kleinen Soldaten exerzieren seit langem Gehorsam gegenüber oberflächlichen Publikumsinteressen und Einschaltquoten. In einer Diskussion über Ruffins Buch hat es Serge Halimy, ein Förderer Ruffins beim Monatsblatt "Le Monde Diplomatique" so formuliert:

    Eigentlich wäre es Aufgabe des Journalismus, das wirklich Wichtige interessant zu machen, doch man verfährt genau umgekehrt, man macht das vordergründig Interessante wichtig.

    Dem Publikum wird nichts wirklich Neues zugemutet, die "News" sind das Alte, scheinbar Bekannte. Indem sie den Medienapparat routiniert bedienen, entfremden sich viele Journalisten immer mehr von der "wirklichen Wirklichkeit". Eine ganze Branche wird inzestuös. Viele Journalisten beziehen sich überwiegend auf Ereignisse, die sie nur noch aus anderen Medien kennen. Bücher gehören übrigens nicht dazu. Die Bibliothek des CFJ wurde aufgelöst, was Ruffin als konsequent betrachtet: Ein komplexeres Wissen ist nur hinderlich für einen, der schnell einen "Flash" (franz. Aussprache mit langem AA) von einer Minute fünfzehn produzieren muss. Gedrillt wird der Generalist, er kann über alles schreiben, beziehungsweise abschreiben. Die nächste Stufe des gepflegten Nicht-Wissens erreicht der "présentateur", der Moderator: Er kennt die präsentierte Informationsware oft gar nicht im Einzelnen, muss sie nur als heiß, exklusiv und eben aktuell anpreisen. Auf eine Medienwelt, in der es zwar immer noch einige Ausnahmen gibt, deren Regeln aber zunehmend von den von Ruffin beschriebenen Mechanismen beherrscht werden, auf diese schöne neue Medienwelt bereitet die Journalistenschule junge Leute vor, die fast ausschließlich aus der gehobenen Mittelschicht stammen und schon deshalb, wie Ruffin anmerkt, nur schwer Zugang zu sozialen Problemen finden.

    Kinder der Mittelklasse, mit einer Jugend, vielleicht glücklich, aber fade: uns hat keine Ungerechtigkeit getroffen, wir sind ohne Zorn auf die Welt, von ein paar Kleinigkeiten abgesehen. Folgsam haben wir studiert, um unseren Lehrern und Eltern zu gefallen. Jetzt sind wir am Ziel. Warum noch lesen? Unser sozialer Aufstieg ist gesichert.

    Auch in Frankreich drohen freilich rote Zahlen bei Presse und kommerziellem Fernsehen und Radio, gingen die Werbeeinnahmen drastisch zurück. Der Markt und die Folgsamkeit der meisten jungen Journalisten wirken zusammen, meint Ruffin, die Anpassungsbereitschaft wird wahrscheinlich noch wachsen.

    Für einen der aus der Reihe tanzt, warten 50 andere vor der Tür.

    Hoffnungsfroh kann man dieses Buch nicht zuklappen, aber es lässt klarer sehen, auch auf die Medienszene diesseits des Rheins. Manches ist bei uns anders, noch anders, vor allem hier und da bei den nicht-kommerziellen Medien. Aber es könnte nicht schaden, wenn auch bei uns einer käme und so böse und konkret aus der Journalistenschule plauderte.

    Les Petits Soldats du Journalisme von Francois Ruffin. Erschienen ist das 270 Seiten starke Buch in der Edition des Arénes in Paris und es kostet 15 Euro.