Archiv


Frank Bajohr: Parvenüs und Profiteure

Zur letzten Neuerscheinung in unserer heutigen Sendung, die sich mit einem in seiner Gänze bislang wenig erforschten Gebiet des Alltags im Dritten Reich beschäftigt: der allerorts blühenden Korruption. Im Nachkriegs-Deutschland der 50-er Jahre war dieses Thema zwar noch für bissige Bonzen-Satiren à la "Wir Wunderkinder" gut - eine analytische Erforschung jedoch hat erst jetzt Frank Bajohr mit seinem Buch "Parvenüs und Profiteure" geleistet.

Tanit Koch |
    Wolfgang Neuss: "Sammelbüchsen-Song" Armer Staat bittet um ´ne milde Gabe, man wird von Klapperbüchsenträgern und von Groschenjägern überall umstellt. Armer Staat bittet um ´ne milde Gabe, denn die Granaten und Soldaten und Kanonen und Patronen kosten Geld.

    Auf jeder Gasse ruft man die Masse erstmal zur Kasse, das schöne Kleingeld war einmal dein Geld, das vorbei Armer Staat bittet um ´ne milde Gabe, zu einem Land, wo man total ist, da gehört auch die totale Schnorrerei

    Die »Schnorrerei« der NSDAP, ihrer Gliederungen und Verbände endete nicht selten in der Unterschlagung des zuvor Gesammelten, der Spenden und Mitgliedsbeiträge durch Parteigenossen und Funktionäre. Allein von 1934 bis 1941 sah sich der Reichsschatzmeister Schacht gezwungen, 10.887 Strafverfahren vor ordentlichen Gerichten anzustrengen. Hierbei handelt es sich jedoch nur um einen Bruchteil des von Frank Bajohr geschilderten Ausmaßes der Korruption im Dritten Reich. Der Autor stellt den Beweis an, dass politische Korruption innerhalb der nationalsozialistischen Herrschaftsstruktur und Politik einen spezifischen Nährboden fand und in dieser Ausprägung keineswegs ein allen politischen Systemen innewohnendes Phänomen darstellt. Bajohr konzentriert sich dafür auf die für das NS-System typischen Phänomene und gliedert seine Analyse der jeweiligen Korruptionsform nach in drei Varianten: Zum einen die institutionalisierte, nicht ausschließlich privaten Zwecken dienende, sondern die funktionale Stabilisierung des Herrschaftssystems fördernde Form, beispielsweise die Privilegierung von Parteimitgliedern. Ferner die bewusst oder notgedrungen tolerierte Korruption, wie der Schwarzmarkt, und zuletzt die zu Lasten der NSDAP gehende und daher strafrechtlich verfolgte und bekämpfte Korruption.

    Die Staatsführung darf nicht dulden, dass der weitaus größte Teil des Volkes die ganze Bürde des Krieges trägt und ein kleiner passiver Teil sich an den Lasten und an der Verantwortung des Krieges vorbeizudrücken versucht. Die Maßnahmen, die wir getroffen haben und noch treffen müssen, werden vom Geiste der nationalsozialistischen Gerechtigkeit erfüllt sein. Wir nehmen keine Rücksicht auf Stand und Beruf. Arm und Reich und Hoch und Niedrig müssen in gleicher Weise beansprucht werden.

    Joseph Goebbels in seiner Sportpalastrede am 18.02.1943. Der Realität entsprach die hier proklamierte Gleichberechtigung aller Volksgenossen keineswegs. Während der Bevölkerung Einschränkungen und Genügsamkeit abverlangt wurden, erwarben Reichsminister mit öffentlichen Mitteln "Herrensitze" samt Jagdrevieren und genossen beträchtliche Steuerprivilegien. Bajohrs plastische Schilderung verdeutlicht, dass das überzogene Repräsentationsbedürfnis dem Selbstverständnis nationalsozialistischer "Hoheitsträger" sehr viel eher entsprach, als die parallelen Bemühungen, durch populistische Aktionen wie "Eintopfsonntage" vermeintliche Einfachheit und "Volksnähe" zu demonstrieren. Höhere SS- und Polizeifunktionäre demontierten stattdessen lieber Marmorbäder aus französischen Schlössern, um ihre Diensträume damit auszustatten, während Gestapobeamte ihre jüdischen Opfer bei "Haussuchungen" ausplünderten. So wird dem Thema "Korruption und Vernichtungspolitik" auch ein eigenes Kapitel gewidmet:

    Vergegenwärtigt man sich insgesamt das Ausmaß an Plünderungen, wilden Bereicherungen, unbefugten Beschlagnahmungen sowie unkontrollierter Verteilung und Verschleuderung jüdischen Besitzes, das die nationalsozialistische Vernichtungspolitik begleitete, so stellte Korruption kein isoliertes Randphänomen dar, sondern eine systemimmanente Massenerscheinung, ja eine für das Herrschaftssystem konstitutive Praxis.

    So waren Geschenke und Zahlungen aus Sonderfonds und schwarzen Kassen zwielichtiger Herkunft im Dritten Reich ein zentrales Herrschaftsprinzip, dessen sich zahlreiche Funktionsträger auf allen Ebenen der NS-Hierarchie bedienten, um die Empfänger materieller Zuwendungen auf persönliche Loyalität zu verpflichten. In der durch Cliquen und Kameraderie geprägten Substruktur des NSDAP beruhte die Stellung des einzelnen auf dessen Verfügungsgewalt über materielle Ressourcen und die Alimentierung der politischen Gefolgsmänner. Die institutionalisierte Bereicherung beförderte nach 1933 einen Nepotismus, wie man ihn zuvor nicht kannte.

    Das Phänomen Korruption beschränkte sich jedoch nicht allein auf die Funktionäre, sondern übte in weiten Teilen der Gesellschaft eine funktionale und stabilisierende Wirkung aus: Ungeachtet der massiven Kritik der Bevölkerung, die Bajohr ebenfalls in einem gesonderten Kapitel schildert, ermöglichte die Korruption die Motivation und Integration vieler Beteiligter in die "Arisierung", den Holocaust und die Ausbeutung der besetzten Gebiete. Der Autor zieht daraus folgenden Schluss:

    Begreift man die NS-Herrschaft nicht als Diktatur von oben nach unten, sondern als soziale Praxis, an der die deutsche Gesellschaft in vielfältiger Weise beteiligt war, dann verschränkte die Korruption Herrschaft und Gesellschaft miteinander, verstrickten sich auch viele ganz normale Deutsche durch Bereicherung in die nationalsozialistische Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik.

    Nationalsozialisten, einst die schärfsten Kritiker angeblicher "Bonzenwirtschaft" der Weimarer Republik, etablierten nun eine tatsächliche "Bonzenherrschaft" nie gekannten Ausmaßes oder profitierten zumindest davon. Um dies zu verdeutlichen, greift der Autor die Beispiele Speer und Goebbels auf: Beide nahmen Steuerprivilegien in Anspruch oder betrieben die Verquickung von öffentlichem Amt und privatem Grunderwerb, taten sich jedoch gleichzeitig als markante Kritiker der sie umgebenden Verschwendung hervor. Offenbar, so folgert Bajohr, waren bestimmte Gewohnheiten innerhalb der NS-Führung so weit verbreitet, dass Goebbels und Speer sie gar nicht als Korruption, sondern als übliches Verhalten begriffen, das kaum noch Unrechtsbewusstsein auslöste. Diese Entwicklung lässt sich auch anhand des kritischen Umgangs der Bevölkerung mit der organisierten Bereicherung belegen: Zwar wurde der kostspielige Ausbau der Dienstvilla des Breslauer Oberbürgermeisters Rebitzky 1935 noch mit "Menschenansammlungen und staatsfeindlichen Äußerungen" quittiert:

    Der Trog ist derselbe geblieben, bloß andere Schweine fressen darin.


    Wolfgang Neuss: "Sammelbüchsen-Song" Für das Erntedankfest, für den Luftschutz im Land für den Reichsparteitag, für den Hühnerverband, für das Winterhilfswerk, für das Jugendhilfswerk, für das Altershilfswerk und noch und noch.

    Und wenn auch mancher auf die Sammelwut ´nen Groll hat, der Führer liebt nur den der seine Büchse voll hat. Armer Staat bittet um ´ne milde Gabe, denn all´ die Bunker für die Funker und die Panzer für die Landser sind bestellt.

    Mit der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung und den anfänglichen Kriegserfolgen wurde dieses Reizthema jedoch einer nachsichtigeren Grundhaltung, ja sogar Akzeptanz, untergeordnet. Erst mit der Jahreswende 1941/42 kam es zu einer erneuten Sensibilisierung. Doch die Volksgemeinschaft der Kriegsjahre hatte bereits ansatzweise die Züge einer Beutegemeinschaft angenommen, so zum Beispiel, wenn ungeniert eingefordert wurde, Ausgebombte mit jüdischen Eigentum zu entschädigen. Die Führung, die akribisch die Stimmung im Volk registrierte, versuchte den Klagen entgegenzutreten:

    Hitler:Reichstagsrede 26. 4. 42 Es kann in dieser Zeit keiner auf seine wohlerworbenen Rechte pochen, sondern jeder muss wissen, dass es heute nur Pflichten gibt. Ich bitte deshalb den Deutschen Reichstag um die ausdrückliche Bestätigung, dass ich das gesetzliche Recht besitze, jeden zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten beziehungsweise denjenigen, der seine Pflicht nach meiner gewissenhaften Einsicht nicht erfüllt, entweder zur gemeinen Kassation zu verurteilen oder ihn aus Amt und Stellung zu entfernen, ohne Rücksicht, wer er auch sei oder welche Rechte er besitze.

    Allerdings blieben derartige Ankündigungen angesichts der Cliquenwirtschaft führender Nationalsozialisten und ihrer Doppelmoral vollständig wirkungslos; nicht einer von ihnen wurde zur Verantwortung gezogen. Trotz der Anwendung der Volksschädlingsverordnung und drakonischer Strafmaßnahmen zeigte sich das System strukturell unfähig, führende Parteifunktionäre auf die Einhaltung rechtlicher Bestimmungen zu verpflichten. Gleiche Delikte wurden nach wie vor mit zweierlei Maß gemessen, getreu dem Motto: "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen." Die Erwartungshaltung, die das Regime seit 1942 innerhalb der Bevölkerung geschürt hatte, sollte allein durch einige demonstrative Bauernopfer befriedigt werden.

    Dabei hatte sich seit 1933 gezeigt, dass ohne Machtkontrolle und Gewaltenteilung, ohne kritische Öffentlichkeit und Pressefreiheit, ohne Bindung aller handelnden Institutionen an normative Prinzipien und ohne unabhängige Kontrollinstitutionen jede Korruptionsbekämpfung zum Scheitern verurteilt war.

    Frank Bajohr ist eine exzellente Analyse eines Themas gelungen, das bei der Betrachtung des Dritten Reiches meist vernachlässigt wird. Er dokumentiert nicht nur den Umfang der Korruption, sondern liefert auch eine Erklärung der Ursachen im Kontext des nationalsozialistischen Systems: Die in Cliquen zerfallene NS-Bewegung, die durch Patronage und materielle Gefälligkeiten zusammengehalten wurde; die diktatorischen Verhältnisse mit ihren polykratischen Tendenzen, in denen es weder eine wirksame Machtkontrolle noch eine kritische Öffentlichkeit gab; das organisierte System des Machtmissbrauchs und die enge Verbindung von Rassismus mit absoluter Macht, die ein auf Bereicherung orientiertes "Herrenmenschentum" förderte. Die Fakten und Beispiele werden dabei ohne unnötige Moralisierung geschildert, Bajohr vermeidet geschickt die sensationalistische Aufarbeitung des Themas im Sinne einer Skandalchronik.

    Tanit Koch über Frank Bajohr: "Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit". S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 256 Seiten zum Preis von 44,90 DM - und, wie derzeit bei Fischer üblich, in ein Hardcover eingebunden, das zwar schick aussieht, aber aufgrund der Flexibilität seinen Namen nicht verdient. Eigentlich kann man da auch gleich auf die Taschenbuch-Ausgabe warten.