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Frank Gesemann (Hrsg.): Migration und Integration in Berlin Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven.

Die Politik versucht derzeit, Defizite in der Ausländerpolitik aufzuholen. Sie entstanden durch eine allzu lange Ignoranz. Momentan wird im Bundestag um ein Zuwanderungsgesetz gerungen, ein Gesetz, das längst überfällig ist. Doch es ist fraglich, ob das Vorhaben im derzeit anlaufenden Bundestagswahlkampf überhaupt möglich ist und nicht wieder unter die Räder populärer Parolen kommt. Wissenschaftliche Erkenntnisse bleiben häufig außen vor. Aber das muss nicht sein. Jetzt ist ein neuer Sammelband erschienen, der den Fokus auf "Migration und Integration in Berlin" richtet - mit "wissenschaftlichen Analysen und politischen Perspektiven".

Thomas Franke | 10.09.2001
    19 Beiträge umfasst der von Frank Gesemann herausgegebene Sammelband "Migration und Integration in Berlin". Sie reichen von Folgen des sozialen Wandels von Stadtvierteln über den politischen Umgang mit bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen, über den Blick Jugendlicher aus Migrantenfamilien auf das vereinte Berlin, die Probleme mit jüdischen Migranten aus der GUS, bis hin zum Verhältnis zwischen Polizei und Migranten. Das ist der Beitrag von Herausgeber Frank Gesemann. Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie ein bunter Strauß bekannter Themen und Probleme.

    Die Zielsetzung war zunächst einmal, überhaupt so etwas zu versuchen, eine Bestandsaufnahme zum Thema Migration und Integration in Berlin. Also es gibt eine Vielzahl Forschungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte zum Thema, aber es gibt eigentlich keinen vergleichbaren Sammelband, keine vergleichbare Dokumentation, in der interdisziplinär versucht wird, sich dem Thema zu nähern.

    Am Anfang stand deshalb ein Workshop, in dem sich die Wissenschaftler - Politologen, Soziologen, Städteplaner, Ethnologen - austauschen konnten. Das schlage sich positiv in den Beiträgen nieder, erläutert Gesemann.

    Aus meiner Sicht ist das größte Problem eine mangelnde Kooperationsfähigkeit oder Bereitschaft der Wissenschaften. Die Tatsache, dass es bislang keinen Sammelband in dieser Form gab zum Thema, dokumentiert ja nicht in erster Linie, dass es diese Forschung nicht gab, die gab es ja in großem Maße, sondern dokumentiert, dass da mehr gegeneinander oder zumindest nebeneinanderher geforscht worden ist. Ich sehe die Defizite eher im politischen Bereich. Ich denke, auch die Diskussion im Zusammenhang mit dem Bericht der Süßmuth-Kommission zeigt, dass viele der Forderungen, die jetzt in diesem Rahmen aufgegriffen wurden, von Migrationsforschung oder von Teilen der Migrationsforschung schon vor Jahrzehnten aufgegriffen, behandelt worden sind.

    Aber eben nicht gebündelt. Das ist ein Vorteil. Die Aufsätze in dem 420 Seiten starken Buch haben allerdings häufig das Problem, auf den Punkt zu kommen. Auch viele Schlussfolgerungen der Autoren wirken so, als hätte man das alles schon mal deutlicher und klarer in der Zeitung gelesen.

    Die Beiträge gehen ja erst mal aus von einer Bilanz der Stadt und Migrationsforschung. Darüber hinaus gibt es aber auch noch eine ganze Reihe von Beiträgen, die nicht nur bezogen auf Berlin, sondern auch darüber hinaus innovativ sind. Ich will nur beispielsweise erwähnen, der Beitrag von Sabine Mannitz über die Frage, warum Jugendliche aus Migrantenfamilien das wiedervereinigte Berlin als geteilte Stadt erleben. Ich denke, dass sie da sehr innovativ aus einer bislang wenig behandelten, erforschten Perspektive Widersprüche des Vereinigungsprozesses aufzeigt. Ein weiterer Beitrag, von dem ich finde, dass er sehr wichtig ist, ist beispielsweise der Beitrag von Frederik Groeger, der ganz unerwartet in diesem Zusammenhang der Perspektive oder der Fragestellung nachgeht: Wie versuchen sich verarmte Deutsche in einem marginalisierten oder sozial belasteten Bezirk wie Neukölln zu behaupten. Vielleicht nicht zuletzt möchte ich auf meinen Beitrag verweisen, der versucht, die wechselseitige Wahrnehmung von Polizeibeamten und jugendlichen Migranten zu analysieren. Und ich würde sagen, dass dieses Thema ohnehin bislang im Rahmen der Polizeiforschung vernachlässigt worden ist, oder zumeist unter dem Aspekt diskutiert worden ist: Wie rassistisch oder wie fremdenfeindlich ist die Polizei? Und mir geht es in dem Beitrag vor allem darum, die unterschiedlichen Perspektiven, die unterschiedlichen Erfahrungen, die unterschiedlichen Deutungsmuster dieser beiden Gruppen aufeinander zu beziehen und zu bilanzieren, welche Problematik und Eskalationsdynamiken stecken eigentlich in diesen wechselseitigen Wahrnehmungen oder in den Problemen, in den Defiziten dieser wechselseitigen Wahrnehmungen.

    Wer in dem Sammelband "Migration und Integration in Berlin" Antworten auf die drängenden Probleme sucht, der liegt sicher falsch, aber es werden die aktuellen Probleme der Integration und Migration in der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Defiziten benannt. Der zweite Teil des Untertitels, "politische Perspektiven", kommt meiner Ansicht nach zu kurz.

    Es gibt eine Vielzahl von Handlungsempfehlungen, von direkten und indirekten, in den einzelnen Beiträgen. In Bezug auf das Gesamtbuch ist es natürlich schwerer, die jetzt zu bündeln. Soweit man das kann, würde ich sagen, sind die zentralen Schlussfolgerungen: Wir brauchen auf der Bundesebene klare Rahmenbedingen für eine Gestaltung von Migrations- und Integrationspolitik, da ist ja durch die Arbeit der Süßmuthkommission in beachtlicher Weise vorgearbeitet worden. Das zweite wäre, stärker auf Berlin bezogen, dass in Berlin Integrationspolitik zu stark Ausländerbeauftragtenpolitik ist. Der Senat hat sich zu weit zurückgelehnt.

    Kurz gefasst: Thema Migration und Integration muss ein zentrales Thema des Senats insgesamt werden. Wir brauchen dringend konzeptionelle Debatten über die Krisen auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungsbereich, auch über die Rolle von Selbstorganisation, über die politischen Gestaltungsspielräume in diesem Politikfeld. Also, da vermisse ich einfach die politische Debatte in dieser Stadt.


    Das von Frank Gesemann herausgegebene Buch 'Migration und Integration in Berlin. Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektive.' ist erschienen bei Leske und Budrich, hat 349 Seiten und kostet 57,99 DM.