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Frankenstein und die Zukunft des künstlichen Menschen

Die Genforschung hat das Erschrecken und Staunen über die Phantasien und Fähigkeiten des Menschen, sich umzugestalten und zu perfektionieren, mit Macht neu belebt. Lässt man sich jedoch vom aktuellen Fortschrittstaumel nicht blenden und lenkt den Blick zurück in die Geschichte, zeigt sich, das der Mensch immer schon den Wunsch hatte, sich als Schöpfer seinesgleichen zu betätigen.

Hans-Jürgen Heinrichs | 23.05.2001
    Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das an sich selbst nicht Genüge finden kann. Er träumt beständig über sich hinaus, und diese evolutionäre Sehnsucht versucht er auf alles zu projizieren, was ihm begegnet: auf die Naturgeschichte ebenso wie auf die von ihm gemachte Weltgeschichte, auf die Entwicklung der sozialen Gemeinschaften wie auf seine ganz persönliche Entwicklung.

    So wie der Start (oder Absturz) einer Raumfähre heute die Menschen nicht mehr massenweise vor die Fernseher zu locken vermag, so können auch die künstlichen Geschöpfe der Robotik nicht mehr mit einer erhöhten Aufmerksamkeit rechnen - zu sehr sind sie schon integriert in die industrielle Fertigung von Maschinen und in alltägliche Abläufe. Das Bild indes, das die Genforschung nun vom nachgebesserten Menschen konturiert und auf unsere Projektionsflächen wirft, ist so überdimensional, erscheint uns noch so fremd, so verlockend und abstoßend zugleich, das wir gebannt auf die Arbeit der Genomentzifferer und Gen-Konstrukteure schauen.

    Der Mensch wird wohl ein anderer - vernetzt und gentechnisch verwandelt, umgeben von virtuellen Realitäten und autonomen Robotern. Dabei werden wir in immer größerer Geschwindigkeit uns selbst umbauen. Die Grenzen werden fließender. Aber damit bahnt sich nicht nur etwas Neues an, sondern zugleich die Wiederkehr von etwas Uraltem. Einst fühlte der Mensch sich eng verbunden mit den Tieren, den Göttern, Dämonen und Halbwesen, und im Zustand des Rausches und der Ekstase konnte er sich in ebensolche verwandeln und an deren Existenz teilnehmen. Dieser Zustand könnte sich nun auf einer High-Tech-Ebene wiederholen.

    Norbert Borrmanns Studie Frankenstein und die Zukunft des künstlichen Menschen vermittelt einen umfassenden Eindruck von der Spannweite der Phantasien und Phantasieprodukte, der Golems, Zombies, Humunculi, Übermenschen, Automatenmenschen, Androiden und Frankensteins. Frankenstein figuriert in diesem so spannend wie ein Krimi und so fundiert wie ein Forschungsbericht zu lesenden Buch des promovierten Kulturgeschichtlers Borrmann als gemeinsamer Nenner für den modernen Archetypus eines nachgebildeten Menschen.

    Frankenstein, als Symbol künstlicher Geschöpfe, bevölkert die alten Mythen, die Magie, die Alchemie und die Kunst, und er taucht im neuen Gewand wieder auf in den virtuellen, medialen Bilder-Welten, in der Robotik und vor allem in der Genforschung.

    Frankenstein offenbart die Problematik und Gefährdung des Menschen, der in seinem 'Herausgefallensein' (aus der Schöpfung) zwischen Hybris und Verzweiflung schwankt.

    Borrmann sieht in diesem sich über die Zeiten, Epochen und Kulturen hindurchziehenden Interesse am Sich-neu-Erschaffen gar nichts Erstaunliches, trägt der Mensch doch von Grund auf etwas Künstliches in sich, ist herausgefallen aus dem organischen Zusammenhang der Schöpfung. Der Mensch: das "künstliche Tier", das "gefährdete" Wesen, der "Irrläufer der Evolution", das rationale und instinktmäßige "Mängelwesen" - das sind nur einige der Charakterisierungen, mit denen man versucht hat, seine Sonderstellung in der Schöpfung zu fassen und sein Verlangen zu erklären, über sich hinauszukommen, an sich und seinen Projektionen zu wachsen; der zu werden, der er von seiner Anlage her sein könnte. Frankenstein eignet sich als übergeordnete Figur besonders gut, da in ihr Schöpfer und künstliches Geschöpf miteinander verschmelzen.

    Es ist die Stärke von Borrmanns Studie, die Konstruktionen eines künstliches Menschen als ein dichtgewobenes Netzwerk menschlicher Begierden und Fähigkeiten, Phantasien und Umsetzungsverfahren aufzuzeigen, deren Ursprung in den Schöpfungsmythen und -geschichten liegt. Die markantesten Ausprägungen sind: der Golem (eine Schöpfung jüdischer Esoterik, ein seiner Seele beraubter menschlicher Körper, eine Karikatur organisch-gewachsenen Daseins, "golem" bedeutet das "Ungeformte", "Klümpchen" oder "Embryo"), dann der Zombie (ein magisch erzeugter Roboter, ein willenloser Sklave, in dem es aber, wie auch im Frankenstein-Monster, den dumpfen Trieb gibt, seinen Schöpfer zu vernichten), dann die lebenden Statuen und Standbilder des griechischen Bildhauers Pygmalion (Figuren, denen Leben eingehaucht wird), schließlich die Phantasien der Alchemisten, Leben zu erschaffen (etwa gemäß Paracelsus' Rezeptur zur Geburt eines Menschen ohne natürliche Mutter), die Mischwesen, die bizarren Figuren, humanoiden Automaten und kybernetischen Maschinen, die im 15./16. Jahrhundert in der Phantasie ausprobiert wurden und bei dem Maler und "Seeleningenieur" Charles Le Brun einen ersten Höhepunkt erreichten.

    Für Le Brun war das Tier eine Maschine und der Mensch eine denkende Maschine. Als 'Seeleningenieur' konfrontiert er nicht nur wie gehabt Mensch und Tier miteinander, indem er z.B. Jupiter, den König der griechischen Götter, mit dem Löwen, dem König der Tiere, in Analogie setzt. Le Brun war so sehr Konstrukteur, das er nicht widerstehen konnte, seine eigenen Geschöpfe zu konstruieren ... Die 'Gene' von Mensch und Fuchs treibt Le Brun zusammen, indem er sie in seinem 'Labor' kräftig durcheinanderwirbelt und so eine Gruppe Fuchsmenschen kreiert, die mit ihrem sphinxhaften Lächeln bereits in eine weite Zukunft zu weisen scheinen. Charles Le Brun darf so betrachtet als der erste 'Gentechniker' gedeutet werden.

    Unerschöpflich die Vielfalt der künstlerischen Kreationen aus Lehm, Stein, Verwesungs- und Fäulnismaterialien, aus Blut, Urin und Sperma bis hin zu den technisch-synthetischen Kreaturen, den "Maschinen-Menschen" seit La Mettries Überzeugung (im 18. Jahrhundert), das die Menschen nur "senkrecht kriechende Maschinen" seien - eine Phantasie, die im 20. Jahrhundert in der Kybernetik ihre Vollendung findet.

    Kybernetiker nehmen an, das organische und technische Strukturen nach den gleichen Prinzipien aufgebaut sind und den gleichen Gesetzen unterliegen - Gesetzen, die oft erst auf dem Wege über die technische Erkenntnis freigelegt werden.

    Der triebgeschichtliche und mythisch-magisch-alchemistische Untergrund solcher Phantasien bis hin zu ihrer technischen Realisierung ist von einem derartigen kreativen Reichtum, das man sich an ihm berauschen könnte, wäre nicht das Abgründige und Monströse allgegenwärtig. Ein sehr schmaler Grat nur trennt etwa die Monster-Produktion des Dr. Frankenstein (die auf den 1818 veröffentlichten Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus von Mary Shelley zurückgeht) von dem in Elfenbein geschnitzten Liebestraum des Pygmalion. Sich von göttlichen und menschlichen Gesetzen befreiende "Automaten", also "Selbstbeweger", begegnen uns in der Antike in der Gestalt von "Androiden" (künstlichen Menschen, lebenden Statuen oder wahrsagenden Bildsäulen) und treten von dort ihren Siegeszug bis zur technischen Perfektionierung an. Sie üben eine gleichermaßen ästhetische wie intellektuelle Anziehungskraft aus, die immer schon die Hybris, die Verdammnis und den Fluch erahnen lassen.

    Frankenstein ist ein moderner Prometheus, geblendet vom hybriden männlichen Schöpferwahn. Nun machen die Kybernetik und die Genforschung die Schöpfungsphantasien effektiver, stellen sie auf eine breite wissenschaftliche Basis, organisieren alle Wissensaspekte. Was die Natur als eher monströse Ausnahmen vormacht (wie etwa das gleiche Aussehen von eineiigen Zwillingen) wird zu einem neuen Ideal hochstilisiert und von der Modebranche perfektioniert. Der "achte Schöpfungstag" hat längst begonnen.

    Es ist das Verdienst von Borrmanns Studie, Schneisen in das Dickicht eines wild wuchernden Phantasien-Dschungels geschlagen zu haben. Die über Jahrtausende hinweg allgegenwärtige Faszination für den künstlichen Menschen wird hier in kulturgeschichtlich brillanten Exkursen an den Mythen und Schöpfungsgeschichten, den literarischen und künstlerischen Dokumenten aufgezeigt. In einer an Hans Peter Duerr, Theweleit und Sloterdijk erinnernden Besessenheit widmet sich Borrmann jedem Detail und seiner Kontextualität sowie der Aussagekraft von Bildern quer durch die Epochen.

    Die Wissensfülle dieses Kompendiums ist zuweilen erdrückend: Das Vollständigkeitsideal des Autors fordert die gleiche Aufmerksamkeit für jede wissenschaftliche, vorwissenschaftliche und künstlerische Richtung. Erstaunlich, wie es ihm gelingt, bei aller Detailtreue, stets den Blick für die Struktur, den Strukturenvergleich und für übergeordnete Gesichtspunkte wach zu halten. Auf geradezu leichtfüßige und niemals penetrante Weise fundiert er jeden Begriff, der für seine Deutungen eine Rolle spielt, in präzisen Definitionen, geht den Ursprüngen der Schöpfungsphantasien und ihren Verzweigungen nach, bezieht sie auf die Aktualität der Kybernetik, der Robotik und Genforschung. Sein Fazit: "Gott spielen heißt noch nicht - Gott sein!"