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"Frankfurt ist immer ein Stück weiter"

Seit 1995 war Petra Roth (CDU) Bürgermeisterin von Frankfurt. In drei Wochen übergibt sie ihr Amt an den SPD-Kandidaten Peter Feldmann. Die Frankfurter seien in den letzten 20 Jahren zufriedener mit ihrer Stadt geworden, sagt sie selbst.

Petra Roth im Gespräch mit Friedbert Meurer | 10.06.2012
    Friedbert Meurer: Frau Roth, in knapp drei Wochen werden Sie Ihr Büro hier im Frankfurter Römer, in dem wir uns befinden, verlassen. Wenn man bei Ihnen aus dem Fenster schaut – fünfzig Meter entfernt - die berühmte Paulskirche. Jeden Morgen konnten Sie aus dem Fenster schauen – direkt auf die Paulskirche. Wird es das sein, was Sie am meisten vermissen werden?

    Petra Roth: Ja, die Paulskirche steht für geistige Freiheit, Meinungsfreiheit, Wiege der Demokratie, die ersten starken Gruppen einer sich emanzipierenden Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts, die dafür gekämpft haben, die im Nachhinein sogar ihr Leben haben lassen müssen für den Grundsatz "die Würde des Menschen ist unantastbar". Das ist etwas, was Frankfurt prägt. Jetzt mache ich einen großen Schritt: Diese Form, sich frei äußern zu können, wofür Menschen gekämpft haben, ist in der Frankfurter Gesellschaft zu Hause. Frankfurt ist immer ein Stück weiter als das, was sich an Entwicklungen in anderen Gebieten zeigt. Wir setzen dann schon um – wenn ich an die neue Philosophie nach dem Krieg der Frankfurter Schule – Adorno, Horkheimer – denke, wenn ich an Römerberggespräche denke, wenn ich an moderne Musik, an Michael Gielen denke, das sind alles neue Formen im 21. Jahrhundert gewesen, die in dem Mainstream noch nicht eine Mehrheit gefunden haben. Diese Form des städtischen Lebens, die ich mit 18 Stunden am Tag seit 1977 erlebe, die wird mir wahrscheinlich etwas fehlen. Aber ich glaube, es wird intensiver für mich möglich sein, Wurzeln zu ziehen, ob in der Frankfurter Schule, ob in der Musik, ob in der Kultur, in der Oper und in der Literatur – wir sind ja auch die Stadt des Buches.

    Meurer: Sie haben ja dann Ende letzten Jahres entschieden, ein Jahr früher aufzuhören, und zwar aus der Überlegung heraus, damit es Ihrem Nachfolger oder einem Nachfolger in der CDU einfacher zu machen – Boris Rhein, dem Innenminister der Hessischen Landesregierung. Der hat dann aber überraschend die Direktwahl verloren gegen den SPD-Kandidaten Peter Feldmann. Was ist denn da schiefgelaufen?

    Roth: Also, schiefgelaufen – das würde ich auch nicht so stehenlassen als Frage an mich. Die Stadt Frankfurt hat sich für einen in der Stichwahl zur Verfügung stehenden Kandidaten entschieden, den ich nicht gewählt hätte, weil ich als CDU-Frau und mit CDU-Politik in Frankfurt in dem Kandidaten Boris Rhein auch einen Kollegen gesehen habe, der diese moderne Großstadtpolitik mit dem Emblem CDU hätte umsetzen können. Zweiter Punkt: Wir haben eine schwarz-grüne Koalition. Diese Koalition besteht, es ist auch in der Identität zum Kandidaten Boris Rhein und mit der Unterschrift unter dem Vertrag gar kein Bruch zu erwarten gewesen. Und warum nun der Boris Rhein in der Stichwahl nicht die Mehrheit auf sich gezogen hat, ist sehr, sehr schwer festzulegen, woran es gelegen hat. Eines muss man wissen, das wussten aber alle Kandidaten, auch der der SPD: Eine Oberbürgermeisterwahl – Direktwahl – ist eine Persönlichkeitswahl. Da geht es wirklich letztendlich darum bei den Bürgern, ob die Nase einem Menschen gefällt, ob er ihn sympathischer findet. Kennen tun die Wahlbürger einen Kandidaten selten.

    Meurer: Vor 30 Jahren, Anfang der 80er-Jahre, gab es gewaltige Auseinandersetzungen um den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens – verletzte Demonstranten, zwei erschossene Polizisten . . .

    Roth: . . . tote Demonstranten . . .

    Meurer: …tote Demonstranten, furchtbare Szenen, die sich damals abgespielt haben. Damals war der Protest gegen den Flughafen orientiert im linken Lager. Heute ist der Protest gegen die Landebahn, gegen die neue Landebahn des Frankfurter Flughafens zu verorten mitten im Bürgertum in Frankfurt und in den Umlandgemeinden bis nach Mainz auch. Was ist passiert in den 30 Jahren, dass heute das Bürgertum gegen eine solche Infrastrukturmaßnahme ist?

    Roth: Ich bin seit 1977 in der Kommunalpolitik – Stadtverordnete bis 87, dann neun Jahre Hessischer Landtag und 17 Jahre OB. Ich kenne die Proteste gegen die Startbahn West, ich habe bei der Demonstration, als die Polizisten zu Tode gekommen sind, mitdemonstriert. Ich habe der Beerdigung beigewohnt und ich habe auch hinterher die Nachbetreuung über soziale Vereine mit den Polizeimitarbeitern gepflegt. Und das ist schon sehr, sehr belastend, wenn Sie sehen, wie diese Menschen für ihr Leben gezeichnet sind, zum andern aber, wenn sie auch erzählen, welche Ängste sie selber ausgestanden hatten im Hüttendorf und etwas vertreten mussten – den Rechtsstaat vertreten. Jetzt – die Landebahn am Frankfurter Flughafen ist 1995/96 als Vorstellung der Lufthansa eingebracht worden, ich war da auch auf dem Podium, beim Binding Abendschoppen, und damals wurde gerade die vierte Bahn in Amsterdam eingeweiht, die 17 Jahre gedauert hatte, und da haben wir gesagt, wir nehmen an, dass dies schneller geht. Zweiter Punkt dazu, dass die Entwicklung zur Landebahn mit einem Mediationsverfahren vom damaligen Ministerpräsidenten Eichel und dem IHK-Präsidenten hier aus Frankfurt injiziert wurde, alle Beschlüsse sind demokratisch legitimiert, alle Beschlüsse sind in der Offenlage und in der möglichen Form der Partizipation beraten worden und entschieden. Und das, was wir heute wirklich seit dem Oktober hier wahrnehmen, ist das Erschüttern, dass die Dezibel, die in die Genehmigung und in die Benutzungsverordnung eingeflossen sind, eine solche Emission sind, die als krankmachender Lärm auch definiert werden.

    Meurer: Das ist ein Punkt, Frau Roth, an dem Sie sagen, das muss ich mir als Oberbürgermeisterin vorwerfen, das unterschätzt zu haben, war das vielleicht ein Fehler?
    Roth: Nein. Das müssten wir ja alle. Wir sind ja dabei, dass die Anflugrouten – es ist eineinhalb Jahre geprobt worden, wie die Anflug- und Abflugrouten verändert werden, und jetzt ist durch die neue Anflugroute auf der Nordwest-Bahn bei 580 Meter über einem Stadtteil über Grund der Dauerlärm in einer Form wahrnehmbar, den, glaube ich, keiner so vermutet hat. Denn die Stadtteile, die jetzt sich äußern und bei den Demonstrationen sich zu Wort melden, haben ja die ganzen Entwicklungsprozesse über zehn, fünfzehn Jahre nachlesen können, sind auch informiert worden, (haben das) auch nicht als eine solche Belastung empfinden können. Das sagen sie ja auch selber. Wir müssen versuchen – Lärm in den fünfzehn Jahren ist heute eine Emission, eine krankmachende Emission. Und der muss man begegnen.

    Meurer: Montag – morgen werden Sie verabschiedet in der Paulskirche, die Bundeskanzlerin wird kommen. Aber vermutlich werden auch Demonstranten – Fluglärmgegner – vor der Paulskirche sein. Betrübt Sie das etwas, dass das Ihren Abschied begleitet, die Proteste gegen den Fluglärm und auch in diesem Punkt gegen Sie selbst?

    Roth: Also, ich bin – oder anders gesagt: In Frankfurt haben wir in den letzten drei Jahren über 1000 Demonstrationen gehabt – angemeldet und durchgeführt. Und wenn an dem Montag die Gruppe der Flughafenausbaugegner dort sich versammeln will, dann ist das in unserem demokratischen Rechtsstaat eine Form, Protest zu machen, die ich wahrzunehmen habe.

    Meurer: International – Frankfurt am Main, eine weltbekannte Stadt durch den Flughafen, darüber haben wir geredet. Aber natürlich Frankfurt auch berühmt und wichtig als Bankenstadt: Sitz der Europäischen Zentralbank, der Bundesbank, der Deutschen Bank, der Commerzbank. Wir hatten eingangs darüber gesprochen – Frankfurt, die Paulskirche, als Wiege der Demokratie. Jetzt wird Frankfurt so als Ort des Big Money wahrgenommen. Ist das ein bisschen schade, dass dieses demokratische Erbe heute so überlagert wird durch die Finanzpower dieser Stadt?

    Roth: Seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 und jetzt durch die Eurokrise, durch die Frage, ist Europa gefährdet, wenn ein Mitgliedsland aus der Währungsunion aussteigt, konzentriert sich die Nachdenklichkeit der Menschen, die da drüber nachdenken, ist das Kapitalismus, sind wir der Knecht des Kapitalismus, auf eine Stadt, in der natürlich die Headquarters dieser von Ihnen genannten Banken sind. Das ist ja nicht die Lebensform der Stadt Frankfurt. In Frankfurt haben wir eine wirklich engagierte, soziale, friedfertige gesamtgesellschaftliche Form des Miteinanders. Die Banken, die hier sind, haben einen Großteil der Arbeitsplätze, die sie anbieten. Die Banken sind aber nicht der einzige Gewerbesteuerzahler in der Größe, sonder Frankfurt – das ist der Vorteil dieser Stadt – hat fünf Säulen. Das ist der produzierende Bereich, das ist die Informationstechnologie, die neu gekommen ist, das ist der Finanzsektor, das ist die Chemie und unter anderem Dienstleistungsarbeitsplätze in der Finanzwirtschaft. Daraus entwickelt sich die Kreativwirtschaft. Und dass man jetzt sagt, in Frankfurt, da sehe ich eher eine Kritik an den Instituten, die weltweit global Finanzpolitik – die Betonung liegt eben auf der Politik über Finanzen – machen und die Länder sich dem beugen oder eben auch in eine schreckliche Verschuldungsspirale nach unten kommen. Aber die Stadt Frankfurt ist nicht der Punkt der Kritik dieser Blockupy Personen.

    Meurer: Umgekehrt, Sie als Oberbürgermeisterin, die natürlich viel mit Bankern auch zu tun hat, reden Sie Bankern auch einmal ins Gewissen und sagen, bitte überdenkt mal eure Geschäftspraktiken und die Auswirkungen auf das soziale Miteinander?

    Roth: Also umgekehrt, die Banken sind ein großer Partner der Stadt Frankfurt im Finanzieren von sozialen Einrichtungen, von Patenschaften wie der Arche, von der Finanzierung im Bildungsbereich, im Finanzierungsbereich der Kultur, der Literatur und fühlen sich als ein Unternehmen in einer Stadt, die natürlich auch hohe Kosten in der Infrastruktur hat und diese Qualität sie veranlasst, hierher zu kommen mit Nebenunternehmen und sind ein wichtiger Partner der Stadt Frankfurt.

    Meurer: Frankfurt hatte früher – 20, 30 Jahre her – einen etwas negativen Ruf wegen Kriminalitätsraten. Die Kriminalitätsrate ist deutlich zurückgegangen. Frankfurt hat einen Ausländeranteil von 25 Prozent, aber im Gegensatz zu Berlin hört man hier wenig von Auseinandersetzungen über die Integration. Sie selbst, Frau Roth, haben schon zu einem frühen Zeitpunkt sich für den Bau einer Moschee in Frankfurt ausgesprochen. Hat das mit dazu beigetragen, dass die Integration hier in Frankfurt besser gelaufen ist als vielleicht in anderen Großstädten Deutschlands?

    Roth: Also die Umfragen der Zufriedenheit der Bürger mit dieser Stadt ist in den letzten 20 oder 15 Jahren erheblich besser geworden. Da hat die Stadt Frankfurt, die Kommunalpolitik und dann der Magistrat mit Mehrheiten das so umgesetzt, was ich damals, als ich zur Wahl antrat 1995, gesagt habe. Mehr Sauberkeit, dieser Broken-Window-Effekt, der aus Amerika kam – damals war eine Entsiedlung der Kernstädte zu verzeichnen – dass wir die Stadt dem Bürger zurückgeben indem wir aber als Kommune auch für Sauberkeit und Sicherheit des öffentlichen Raumes uns einsetzen, Betreuung auf den öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Bürger das Gefühl zu geben, er ist sicher in dieser Stadt. Das gehört zu der Grundversorgung von Städten, Daseinsvorsorge. Der zweite Punkt ist, dass ich – da haben Sie recht – in meiner Person mich sehr stark für die Integration von Ausländern als Teil der Frankfurter Gesellschaft eingesetzt habe. Und Sie müssen den Menschen auch das Gefühl geben, dass Sie neben ihnen stehen, dass Sie authentisch sind, nicht nur Programme entwickeln und sie nicht umsetzen oder nicht danebenstehen, sondern das auch glauben. Das ist mir in der Sozialpolitik gelungen, das ist mir in der Drogenpolitik gelungen, zu sagen, der Kranke in die Hände des Arztes, der Dealer in die Hände der Polizei. Sie müssen gesellschaftspolitisch eine klare Furche ackern. Also, Sie müssen schon wissen, wo Sie hin wollen. Und Sie müssen in der Form der Integration dann auch – heute heißt es der Restgesellschaft oder der Mehrheitsgesellschaft, kommt drauf an – der Mehrheitsgesellschaft vermitteln, dass wir in der Bundesrepublik die Religionsfreiheit haben, dass wir aber auf dem Boden des Grundgesetzes auch miteinander in den Städten leben. Und dann gehört…

    Meurer: . . . gehört der Islam zu Deutschland?

    Roth: Nein, der Islam nicht, aber meine Muslime gehören zu Frankfurt. Das wollte ich gerade sagen. Wir haben 700.000 Einwohner ungefähr. Die Hälfte sind religiös gebunden. Davon haben wir 200.000 Christen, halbe-halbe, katholisch und evangelisch in Frankfurt. Und die anderen 100.000 sind ungebunden und der größere Anteil daran sind muslimischen Glaubens. Denen muss man eine . . .

    Meurer: Empfinden das die Muslime nicht als Zurücksetzung, wenn Sie sagen, der Islam gehört nicht zu Deutschland.

    Roth: . . . ich wollte gerade sagen, ich muss – das ist meine Meinung –in Frankfurt auch Gebetshäuser für diese Gruppen einer Religionsgemeinschaft zur Verfügung stellen. Das Baurecht ermöglicht das, und da kann ich nicht gesellschaftspolitisch sagen, ich will das nicht. Denn wir wollen ja gerade – in Frankfurt haben wir zahlreiche Moscheen in den Hinterhöfen, und wenn jetzt die Muslime beginnen, Gotteshäuser zu bauen, ist das ja ein Zeichen, dass sie integriert sind hier, dass sie zuhause bleiben, dass sie ihren Gebetsraum auch in der Form ausstatten wollen, wie die Mehrheitsgesellschaft, in die sie gekommen sind. Der dritte Punkt: In Frankfurt gibt es keine Parallelgesellschaften. Die Integration läuft hier seit Mitte der 50er-Jahre. In Frankfurt geht kein Kind ohne Kenntnis der deutschen Sprache in die Grundschule. Wir haben besondere Sprachförderung im Kindergarten schon. Wir haben mehr Mädchen, die Abitur machen als Jungen heute. Das hat sich alles geändert. Und 30 Prozent der Migrantenkinder machen Abitur. Und dabei sind die Mädchen noch die besseren Schülerinnen. Ich freue mich sehr darüber, dass es mir gelungen ist – das erzählen mir zumindest die ausländischen Frankfurter, die heute deutsche Frankfurter sind – dass sie sich in dieser Stadt wohlfühlen, dass sie mit mir als Oberbürgermeisterin sich identifizieren können, dass diese Menschen jetzt Deutsche geworden sind. Als ich begann, hatten wir 29 Prozent Ausländer. Heute haben wir 25 Prozent, haben aber über 30.000 Frankfurter, die ausländischen Hintergrunds waren, jetzt zu deutschen Frankfurtern gemacht.

    Meurer: Deutschlandfunk, das Interview der Woche mit Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth. Frau Roth, Sie gelten seit Jahrzehnten als Exponentin einer liberalen, modernen Großstadt-CDU. Die CDU ist jetzt dabei, das Betreuungsgeld einzuführen, und manche sagen, das ist ein Schritt hin wieder zur konservativen Stammwählerschaft der CDU. Haben Sie den Eindruck, die CDU rückt wieder ein bisschen weg von der Modernisierung hin zum Konservativismus?

    Roth: Nein, die CDU Deutschlands hat ein Grundsatzprogramm. Also ich bin eine sehr stringente Auslegerin des Grundsatzprogramms Ende der 40er-Jahre der Sozialen Marktwirtschaft und den Schöpfungsgedanken, der sich auch in der christlich-sozialen Welt widerspiegelt, in die Kommune umzusetzen. Ich war einige Jahre Vorsitzende, die einzige Frau oder die erste Frau der CDU von einem großen Kreisverband Anfang der 90er-Jahre. Ich bin der Ansicht, auch heute noch, dass das Grundsatzprogramm der CDU alle Elemente beinhaltet, um eine Gesellschaftspolitik zu machen, die der heutigen Zeit entspricht. Der Schöpfungsgedanke und der christliche Gedanke, mit dem ich Politik mache, ist Fürsorge und Schutz den Menschen zu geben und daraus abgeleitet eine Bildungschance. Ich behaupte – und ich habe das hier in Frankfurt versucht umzusetzen, wir sind noch mitten drin – jeder Bürger hat ein Recht auf Bildung. Und Bildung ist natürlich frühkindliche Bildung, Bildung ist aber auch, einen Raum zu Hause zu garantieren, in dem die elterliche Fürsorge das Kind sozial bildet oder mit einem Bildungsauftrag versehen kann, der im Kindergarten gegeben wird. Deshalb . . .

    Meurer: Wir erleben die große Auseinandersetzung über das Betreuungsgeld, eine der wichtigsten Diskussionen in diesem Land. Man kann es gut finden oder nicht gut finden, es ist ein heiß diskutiertes Thema. Ist das Betreuungsgeld nicht aus der Zeit gefallen?

    Roth: Also, ich muss sagen, als Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt, wo wir die Kinderbetreuungsplätze jetzt einrichten, dass wir hier einen Bedarf von über 50 Prozent haben, dass der Bund nur 30 Prozent bezahlt, sollten diese Mittel in die Kinderbetreuung gehen. Ob das nun nach der Wahlfreiheit zuhause ein Elternpaar bekommt oder ob es in dem anderen Bereich zur Investition – es wäre schön, wenn wir noch Betriebsmittel bekämen vom Bund – eingesetzt wird, wichtig ist, dass die Kinder gebildet werden, damit wir den Wettbewerb in der globalisierten Welt als Bundesrepublik Deutschland noch schaffen.

    Meurer: Aber beides geht manchmal nicht, Geld für Betreuungsgeld ausgeben und für die Kita.

    Roth: Ja, der Bund sagt doch, es geht. Also, der Haushaltsplan, die verschulden sich zwar immer weiter, aber das Betreuungsgeld ist ja jetzt vor wenigen Tagen entschieden worden, dass es kommt. Und es sollen jetzt noch zusätzlich mit sozusagen mit null Kreditzinsen vom Bund den Kommunen Investitionsmittel zum Entstehen von Kindertageseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden. Als Kommunalpolitikerin macht mich das nicht zufrieden. Ich würde lieber haben, dass wir die Finanzierung bekommen und nicht Kredite bekommen. Es gibt so viele Städte, die überhaupt nicht mehr einen Kredit aufnehmen können, weil sie so verschuldet sind. Wir haben das Kindergartengesetz 1992 eingeführt, den Rechtsanspruch. Ich habe auch eine andere Vorstellung. Warum machen wir nicht überhaupt ab Drei eine Vorschule und ziehen alles runter, und jetzt mit Sechs in die Schule, sagen wir mir Drei in den Kindergarten, und das bezahlt völlig der Staat und nicht die Kommune. Man muss ja immer den Unterschied machen. Und dann hätten wir von Null bis Drei noch den Bereich des Betreuungsgeldes. Aber da muss vielleicht auch mehr Großstadtleben in der CDU diskutiert werden, denn die Partei ist ja nicht nur aus Großstädten, sondern eben auch aus Flächenstaaten.

    Meurer: Sie haben, Frau Roth, dreimal die Direktwahl gewonnen zur Frankfurter Oberbürgermeisterin, sind eine der populärsten Oberbürgermeister in Deutschland überhaupt. Würde etwas mehr Direktwahl unserer Politik insgesamt gut tun?

    Roth: Die Stadtoberhäupter sind als Persönlichkeiten heute andere Personen als früher, weil sie nicht aus der Verwaltung kommen müssen. Direktwahlen hat natürlich . . . also, ideal wäre es, wenn – wir haben das ja in Frankreich, wir haben ja Präsidenten, die Präsidialdemokratie – wenn dann die Person auch die Möglichkeit hat, das, was sie formuliert hat, warum sie gewählt werden will, umsetzen zu können. Also bitte nicht nur Schaufensterdirektwahlen, wo einer drin steht und sagt, ich bin direkt gewählt aber machen kann ich nichts. Und unter dem Gesichtspunkt ist es richtig, dass wir in den Kommunen, wo die Verfassung dem OB – leider in Hessen nicht, der baden-württembergische und der rheinland-pfälzische und der bayerische Oberbürgermeister sind viel, viel stärker als der hessische – und da gehört dann bei mir das Talent dazu, Mehrheiten immer zu finden für ihre Ideen. Die anderen Länder können, wenn der Oberbürgermeister sagt, wir fahren links rum oder rechts rum, das auch umsetzen.

    Meurer: Aber Direktwahl zum Beispiel auf Ministerpräsidentenebene oder den Bundespräsidenten direkt zu wählen, so weit gehen Sie jetzt nicht?

    Roth: Also, die Diskussion hatten wir, wenn wir den Bundespräsidenten wählen, dann müssen wir unsere Verfassung verändern. Da kann man drüber nachdenken, aber Sie sehen ja, dass wir in Herrn Gauck jetzt einen sehr politischen und streitbaren im Sinne von Streitkultur Präsidenten haben, der eine staatspolitische Meinung hat. Ich empfinde das als sehr erfrischend. Und bei den Ministerpräsidenten, denen müsste dann nach wie vor aber auch die Möglichkeit gegeben werden, dass sie ihr Kabinett zusammenstellen können. Wenn Sie da nur eine Figur alleine haben und das Kabinett wird wieder aus den Wahlstimmen, die über die Liste und über die Wahlkreise zusammenkommen, zusammengesetzt wird, dann gibt es da ein Schisma.

    Meurer: Bei einer Direktwahl des Bundespräsidenten wären Sie jetzt vielleicht das Staatsoberhaupt.

    Roth: Aber ich bin Oberbürgermeisterin von Frankfurt und ich muss wirklich sagen, ich kenne Herrn Gauck recht lange, auch in Begegnungen, und wir haben schon miteinander als Oberbürgermeister und er in der Gauck-Behörde zu tun gehabt, und ich habe ihn häufig geladen, in der Paulskirche zu sprechen. So ist das jetzt endlich ein Repräsentant der Bundesrepublik, der mir sehr viel Freude macht. Man ist so schön entspannt, wenn er Auslandsreisen macht, dass er unser erster Repräsentant im Ausland ist und mit Sicherheit das Richtige sagt.

    Meurer: Frau Roth, scheidende Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt am Main. Ich danke Ihnen für das Interview.

    Roth: Danke schön, Herr Meurer.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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