Dienstag, 30. April 2024

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Frankreich am Scheideweg
Sehnsucht nach einer Gesellschaft ohne Spaltungen

Frankreich erlebe eine tiefe Identitätskrise, sagte die Politologin Claire Demesmay im DLF. Der Arbeitsmarkt, der soziale Bereich und die Terrorgefahr lasteten schwer auf dem Bewusstsein der Franzosen. Das mache den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwierig. Die aktuelle EM-Euphorie zeige vor allem die Sehnsucht nach einem kollektiven Identitätsgefühl.

Claire Demesmay im Gespräch mit Änne Seidel | 12.06.2016
    Demonstration gegen geplante Arbeitsrechtsreform in Le Havre
    Demonstration gegen geplante Arbeitsrechtsreform in Le Havre (CHARLY TRIBALLEAU / AFP)
    Wut, Angst oder Tristesse : Viele Franzosen hätten das Gefühl, es nicht zu schaffen. Besonders drei Bereiche sorgten für tiefe Risse in der französischen Gesellschaft. Die offensichtlichsten Trennlinien bestünden zwischen Franzosen und Zuwandererkindern, die Diskrimierung im Alltag erleben. Zweitens zwischen Franzosen mit unbefristetem Arbeitsvertrag und denjenigen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen lebten oder keine Arbeit hätten. Sowie Franzosen, die einer liberalen Werteordnung nahestünden, und denjenigen, die sich als konservativ oder sehr konservativ empfänden. Dadurch entstünden viele Spaltungen und Zweifel am Modell der französischen Gesellschaft.
    Demesmay sagte, das französisches Ideal der unteilbaren Nation nach dem Motto "Liberté, Égalité, Fraternité" sei ein Versprechen, das nicht eingehalten werde. Das führe zu Frust und Enttäuschung. Auf gewisse Weise stünde Frankreich deshalb an einem Scheideweg. Die Politologin warf die Frage auf, ob man dieses Ideal wiederherstellen könne oder die Franzosen die Orientierungslosigkeit überwinden und gemeinsam ein neues, zukunftsorientiertes soziales Modell entwickeln könnten.
    Man könnte fast den Eindruck haben, dass sich die Franzosen mit der EM ein paar Wochen "Ausnahmezustand vom Ausnahmezustand" leisteten, unterstrich Demesmay. Durch das gemeinsame Feiern versuche man den Sorgen zu entkommen. Dahinter stecke auch das Bedürfnis, geschlossen als Volk aufzutreten. Nach der EM müsse sich dann allerdings zeigen, ob ein solcher Motivationsschub nachhaltig sei.
    Sie können das Interview mindestens sechs Monate nachhören.