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Frankreich
Besuch im mittelalterlichen Provins

Provins mit seiner mittelalterlichen Oberstadt gehört zu den wichtigsten und besterhaltenen Anlagen aus dem 12. und 13. Jahrhundert in Frankreich. Champagne-Fürst Thibaud IV soll hier vom Kreuzzug die Urahnin aller Rosen Europas hingebracht haben.

Von Suzanne Krause | 15.12.2013
    Die aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammende Stadtmauer von Provins. Provins steht auf der UNESCO-Liste des Welt- und Kulturerbes.
    Die Stadtmauer von Provins aus dem 13. und 14. Jahrhundert. (picture alliance / Thomas Muncke)
    Schon aus der Ferne ist Provins' Oberstadt zu sehen: Um sie herum wogen weite Getreidefelder, ganz wie vor Hunderten von Jahren. Umringt wird die Stadt von fünf Kilometern hohem, grobem Mauerwall. Rechts von der Haupteingangspforte, zu Füßen der Stadtmauer, dekoriert mit Marktstand und hölzernen Wurfmaschinen, treten tagtäglich Ritter, Burgfräulein und Gesinde auf. Die Compagnie Equestrio erzählt farbig und in akrobatischen Reiter- und Ritternummern ein Kapitel Heimatgeschichte.
    "Provins, reiche Händlerstadt im 12. und 13. Jahrhundert. Zweite Hauptstadt der Fürsten der Champagne. Knapp zwei Jahrhunderte lang war Provins ein blühender Ort, ein Zentrum des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs. Berühmt für seine Märkte, auf denen unzählige Waren getauscht wurden: Gewürze aus dem Orient, Pelze aus Flandern, Tuch aus Provins und weitere Schätze aus fernen Landen. "
    Im Jahre 1241 kehrt der Champagne-Fürst Thibaud IV vom Kreuzzug heim, im Handgepäck eine Rose aus Damaskus – Urahnin aller Rosen Europas. Unter Thibaud IV, Sänger, Dichter und Kriegsmann, erblüht Provins. Die Soldaten des Champagne-Fürsten bieten Kaufleuten auf Thibauds Territorium Geleitschutz, das lockt von überall her Händler an. Und als böse Mächte Provins erobern wollen, macht ihnen Thibaud mit Schwert und Streitaxt den Garaus. Laurent Audureau, auf der Bühne Thibaud der IV., schwört: Seine Truppe Equestrio hält sich an die historischen Fakten. Mit den Ritterspielen möchte er die Zuschauer auf eine Zeitreise entführen, gute 800 Jahre in die Vergangenheit.
    "Ich bin vor zwölf Jahren eher zufällig hergekommen. Und seither geblieben. Ich bin dem Charme der alten Gemäuer hier erlegen."
    Von der Saint-Jean-Pforte, flankiert von zwei Wachtürmen, führt die breite Hauptstraße schnurgerade in die mittelalterliche Oberstadt. Beidseits weiterhin bewohnte historische Steinhäuser mit den regional typischen rötlichen Schindeldächern, steinernen Arkaden-Bögen, mächtigen Eichen-Türbalken. Laurent Audureau taucht sichtlich ein in eine andere Welt.
    "Im 12. Jahrhundert war Provins schon eine sehr begüterte Stadt. So reich, dass sie ihre eigene Münze schlug. Jeder fand hier sein Auskommen. Provins zählte damals schon 12.000 Bewohner, heute sind es nicht mehr. Aber damals wohnte man wesentlich beengter, das Stadtgebiet war viel kleiner. Umso belebter waren die Straßen, früher wimmelte es hier von Fußgängern und Reitern, von Hühnern und Schweinen, die frei herumliefen. Hier gerade aus geht es zur Grange des Dimes."
    Die sogenannte Zehent-Scheune. Ein mächtiges Gebäude aus Stein, vier ausgetretene Stufen führen hinein. Am Eingang wartet Fremdenführerin Clemence Coffinier-Vinckier. Im Inneren, im Erdgeschoss und darunter, zwei mächtige Säle mit gothischer Architektur. In dem früheren Warenlager sind akribisch alte Händlerstände nachgestellt. Darunter ein Tuchfabrikant aus Provins – der schwere Webstoff, europaweit ein Renner, wurde in schon fast industriellem Maßstab hergestellt, sagt Clemence Coffinier-Vinckier.
    "Bis 50.00 Stücke Stoff pro Jahr, Anfang des 13. Jahrhunderts. Und ein Viertel der Wollstücke, die in Norditalien verkauft wurden, stammen aus der Champagne. Das ist sehr sehr wichtig hier und viele Leute sind mit dieser Industrie beschäftigt. Und der Wollstoff von Provins ist in Blau gefärbt, das können wir unten sehen, den ganzen Prozess."
    Steil geht es abwärts zu den Ständen der Weber: Anfang des 13. Jahrhunderts waren in der Stadt 3.400 Webstühle in Betrieb. Und um die Wolle zu entfetten, wurde unterirdisch eine spezielle Lehmkreide abgebaut, der Boden unter Provins nach und nach in eine Art Schweizer Käse verwandelt. Übrig blieben kilometerlange Gänge. 700 Meter Souterrain lassen sich besichtigen unter dem mittelalterlichen Spital, dem Hotel-Dieu. Von einem mächtigen Saal aus geht es durch eine Eisentür ins Dunkle.
    "Diese Gänge dienten als Steinbrüche bis zum 14. Jahrhundert. Dann, zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert, wissen wir nicht, wie man diese Galerien benutzt hat. Und danach, ab dem 18. und besonders ab dem 19. Jahrhundert haben wir solche Steinbrüche als Lagerhaus und Keller benutzt. Weil es das ganze Jahr eine schöne Temperatur, zwölf dégree Maximum, gibt. Und das ist sehr gut für Weinlagerung."
    Die Fremdenführerin zeigt auf eine Nische: Dort lagerte ein Monsieur Courtois seinen Wein. Und notierte an der Wand mit Kerzenruß den Lagerbestand. 484 Flaschen im Jahr 1860.
    "Im Juli 1866 gibt es nur hundert Flaschen und August 1868 nur 42 Flaschen. Und jetzt finden natürlich die Leute, dass es eine Schande ist, aber es gibt keine Flasche mehr."
    Das Wahrzeichen des mittelalterlichen Provins ist der Cäsar-Turm, der sich auf einem Felsen hoch über die Altstadt aufschwingt. Ein frankreichweit einmaliger Bau: auf viereckigen Grundfesten, flankiert von vier runden Türmchen, erhebt sich ein achteckiger Turm. Der Donjon aus dem 12. Jahrhundert diente zeitweise als Gefängnis. Seit der aufwändigen Renovierung lässt sich vom Wehrgang erneut das Umland kilometerweit überblicken. Ritter-Darsteller Laurent Audureau hat den Cäsar-Turm beim Spaziergang immer im Blick.
    "Der Turm wurde damals nur dazu gebaut, um Eindruck zu schinden. Wehrtechnisch hatte er keinerlei Bedeutung. Diese weithin sichtbare Darstellung der Macht kam nicht von ungefähr. Damals lagen der König von Frankreich und die Fürsten der Champagne im Clinch miteinander: Ihm schien, sie wollten ihn vom Thron stoßen, denn damals war die Champagne noch nicht dem französischen Königreich angegliedert. Fast wäre es zum Krieg gekommen. Aber letztendlich blieb der Herrscher Frankreichs in Paris - und der König."
    Provins' Blütezeit währte knapp 200 Jahre. Dann versank die Kleinstadt in einer Art Dornröschenschlaf und verfiel nach und nach. Jahrhunderte später suchten Schriftsteller wie Victor Hugo, Honoré de Balzac, Marcel Proust in den Ruinen vergangener Größe erfolgreich Inspiration. Umberto Ecco verewigte das Labyrinth der unterirdischen Galerien in seinem Roman "Das Foucaultsche Pendel". Die Wiedergeburt wurde erst vor gut zwei Jahrzehnten eingeläutet, als der damalige Bürgermeister erstmals auf den Fremdenverkehr setzte, um der wirtschaftlich benachteiligten Region eine Zukunft zu sichern. Ende 2001 wurde Provins in der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO aufgenommen, seither massiv und liebevoll renoviert. Heute zählt die Kleinstadt jährlich eine Million Besucher. Jean-François Robin leitet das Fremdenverkehrsamt:
    "Provins ist einen Besuch wert, denn bei Provins handelt es sich um eine Zusammenfassung der Architektur des Mittelalters. Das sagen nicht wir, sondern Historiker und sonstige Mittelalter-Experten. Wir haben vielleicht nicht die schönste Kathedrale, dafür aber eine sehr schöne Basilika. Unsere Festungsmauern sind vielleicht nicht die größten, aber wir haben Wehranlagen. Es gibt andernorts vielleicht schönere Privathäuser, aber auch wir verfügen über Denkmäler ziviler Architektur. Kurzum: Auf relativ engem Raum finden sich in Provins alle Elemente, die zur mittelalterlichen Architektur gehören und sie lesbar machen."
    Thibaud der IV - Pardon: Laurent Audureau - steht auf der Place du Chatel, Herzstück der Oberstadt. Ein geräumiger Platz mit tiefem Brunnen aus dem Mittelalter, rundum gesäumt von zweistöckigen historischen Häuschen, viel altes Fachwerk, kunstvolles Schmiedeeisen. Laurent zieht es auf ein Bierchen in sein Lieblingscafé, ein rustikal wirkendes Eckhaus mit überdachter Terrasse.
    Herzlich begrüßt er den Wirt. Und lobt dessen Küche: selbstgemachter Schinken und die regionale Käse-Spezialität Brie. Hausherr Jean-Philippe Favreau erzählt, wie er als Kind ständig in den unterirdischen Gängen quer durch die ganze Stadt unterwegs war.
    "Auch heute noch entdecke ich immer wieder Sehenswertes in Provins, obgleich ich hier geboren bin. Für Besucher gibt es also wirklich genug zu sehen."