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Frankreich dreht sich um sich selbst

Deutschland und Frankreich beschrieben sich gern als Lokomotive, die den Europazug zieht. Von dieser Triebkraft ist im Moment nicht viel zu sehen. Wo der französische Lokführer steckt, darüber hat sich Jaqueline Henard in unserer Europakolumne Gedanken gemacht. Sie ist Journalistin bei Radio Culture in Paris.

    Der Frühling ist in Paris immer ein beliebter Monat für Konferenz-Reisen. Das Wetter ist meistens gut, das Essen auch und schön ist die Stadt sowieso. Eigentlich kommt jeder gern. Letzten Dienstag - das war übrigens der Europa-Tag - gab es hier eine Tagung mit einem vielversprechenden Titel "La place de la France dans le monde", zu Deutsch: Frankreichs Platz in der Welt. Die Teilnehmerliste klang auch sehr gut, viel hochkarätige Redner, aber alles sehr französisch. Ein einziger Ausländer saß auf dem Podium, und das nur kurz.

    Warum nicht, könnte man sagen, wenn es nicht bezeichnend wäre für einen akuten französischen Missstand: Das Land dreht sich um sich selbst, auch in Fragen, die es mitnichten allen entscheiden kann. Frankreich kapselt sich ab.

    Dieser Rückzug, die zunehmende Selbstbezüglichkeit ist eine neue, bedenkliche Entwicklung. Der ehemalige Premierminister Jean-Pierre Raffarin, der nach dem gescheiterten EU-Verfassungsreferendum vor einem Jahr seinen Kopf hinhalten musste, hält sie für gefährlicher als den wirtschaftlichen Niedergang, den sein Nachfolger mit viel Eloquenz leugnet. Dabei ist Frankreich auch wirtschaftlich strukturell keineswegs in guter Verfassung. Das Land verliert an Wettbewerbsfähigkeit, wie zwei Zahlen schnell belegen: Im vergangenen Jahr haben die Ausfuhren in die anderen Mitgliedsländer der Europäischen Union um 15 Prozent abgenommen. Zum ersten Mal exportierte die kleine Tschechische Republik mehr in das große Industrieland Frankreich als umgekehrt.

    Über das politische Elend, das an der Staatsspitze herrscht, wollen wir hier nicht viele Worte verlieren. Wenn Staatspräsident Chirac nicht wider Erwarten zurücktritt, wird das kommende Jahr von abwechselnden Krisen und gesellschaftlichen Fieberstößen geprägt sein. Das Land braucht Orientierung und Reformen, die weder Chirac noch Premierminister Villepin in die Wege leiten können. Ihnen fehlt es aus unterschiedlichen Gründen an persönlicher Legitimität, die sie kaum zurückgewinnen können. Jeder Tag, den sie länger im Amt bleiben, schadet auch dem Ansehen der Institutionen, die sie vertreten.

    Der Generationenwechsel ist überfällig. Villepin ist zwar jünger, vom Geiste her aber ein Mann aus einer anderen Epoche. Frankreich braucht eine politische Führung, die seine gedankliche Anpassung an die neue Zeit begleitet und nicht mit Versprechen von mehr Staat und Nation konterkariert.

    Zurzeit stecken die Franzosen nämlich in einer schizophrenen Lage: Sie erleben den Bedeutungsverlust ihres Landes und die Globalisierung Tag für Tag am eigenen Leib, während die Politik ihnen watteweiche Versprechen von "Wirtschaftspatriotismus" und fortgesetzter staatlicher Umverteilung serviert.

    Und Europa in alledem? Verlegenheit allerorten. Seit dem Verfassungsreferendum vor einem Jahr ist das Thema aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Weder rechts noch links sind Schlüsse aus dem Ergebnis gezogen worden, die Perspektiven eröffnen. Besonders die linken Parteien wissen um die Sprengkraft, die Europa für ihre Wählerschaft bedeutet. Sie werden alles daran setzen, das Thema aus den Wahlkampfdebatten des kommenden Jahres herauszuhalten. Nicht nur die Verfassungsgegner haben allen Grund, Trompetenstöße zu vermeiden. Die traurige Gegenwart zeigt, dass es in Brüssel keinen Plan B gab und dass dieses Nichts keineswegs besser ist als das, was man hätte bekommen können. Im Rückblick wird deutlich, dass auch die Verfassungsbefürworter sich vergangenes Jahr nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Die Argumente, mit denen sie um das Ja warben, waren zum großen Teil defensiv. Sie stellten Europa dar als eine Art Schutzwall, der es Frankreich erlauben würde, sein Leben wie bisher fortzusetzen.

    Staatspräsident Chirac tut so, als hätte er mit alledem nichts zu tun. Er hat am 8. Mai an den Gedenkfeierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs teilgenommen und am 10. Mai die Festrede zum neuen Gedenktag an die Sklaverei gehalten. Am 9. Mai war er nicht zu sehen. Sein offizieller Terminkalender ist leer. Für den 29. Mai, wenn sich der Tag des Scheiterns jährt, hat er eine Reise nach Südamerika auf dem Programm. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Soll das Frankreichs Platz in Europa sein?