Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Frankreich
Interreligiöse Verständigung in den Banlieues

Rund fünf Millionen Muslime und eine halbe Million Juden leben in Frankreich. Die meisten von ihnen in den Großstädten und deren Vororten. Das Zusammenleben gestaltet sich immer seltener friedlich. So fühlt sich Frankreichs jüdische Gemeinde von radikalisierten Muslimen bedroht. Ein kleiner Verein kämpft gegen Vorurteile und Misstrauen.

Von Margit Hillmann | 28.10.2014
    Blick auf Paris vom 18. Stock des Rathauses im Vorort Gennevilliers am 25.11.2009.
    In den französischen Vorstädten kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen Muslimen und Juden. (picture alliance / dpa / Robert B. Fishman ecomedia)
    Ein Stadtfest in der Trabantenstadt Evry, 40 Kilometer südlich von Paris: Ein kleiner Informationsstand lockt mit Transparenten: "Die jüdisch-muslimische Freundschaft aufbauen! Nein zum Hass!" steht darauf mit dicken Ausrufezeichen. Es ist der Stand des Jüdisch-Muslimischen-Freundschaftsvereins. Mohammed und Aboudalaye, beide Mitte 20 und Mitarbeiter des Vereins, unterhalten sich mit einem gleichaltrigen Schwarzen aus dem angrenzenden Viertel, der neugierig in einer Broschüre blättert.
    Gegen Antisemitismus, Islamophobie und Rassismus
    "Wir sind Muslime und Juden", erklären sie ihm, und dass ihr Verein Antisemitismus, Islamophobie und Rassismus bekämpft. Der Jurastudent scheint interessiert. Mohammed lädt ihn ein, im Verein vorbeizuschauen. Das Büro ist im Nachbarort, in der Synagoge von Ris-Orangis. "Warum nicht?!", er komme gerne, sagt der Student. Dann muss er plötzlich lachen. Er ist Moslem und hat in seinem Leben noch keine Synagoge betreten:
    "Ich weiß nicht mal, wo hier in Evry die Synagoge ist. Ich war schon in der Kirche, aber nicht in einer Synagoge!"
    Rabbi Michel Serfaty aus Ris-Orangis hat den jüdisch-muslimischen-Freundschaftsverein gegründet. Während der zweiten Intifada im israelisch-palästinensischen Konflikt und nach einem antisemitischen Übergriff, als er abends mit seinem Sohn vom Beten kam.
    Heute, zehn Jahre später, steht der Rabbi vor der Synagoge und zeigt auf einen Siebzigerjahre-Bau, nur wenige Schritte entfernt: "Das ist die Moschee", sagt der 70-Jährige mit dem großen schwarzen Hut stolz. Als Serfaty anfing mit der muslimischen Gemeinde im Ort zusammenzuarbeiten, hatten sie nur einen kleinen Gebetsraum, den sie sich auch noch mit dem Angelverein teilen mussten, erzählt er.
    "Als das Gebäude hier frei wurde, habe ich den Imam gefragt, ob sie dort nicht einziehen wollen. 'Neben der Synagoge? Haben Sie keine Angst?', hat er gefragt. Dann habe ich den Bürgermeister angerufen, weil das Haus der Gemeinde gehört. Er hat auch gefragt: 'Aber haben Sie denn gar keine Angst?' Hören sie, habe ich gesagt, Muslime der Gemeinde arbeiten mit uns im Verein zusammen, wir sind sogar gemeinsam nach Israel gereist! Das Rathaus hat zugestimmt und der Imam und ich haben die Moschee zusammen eingeweiht."
    Die ungewöhnliche Nachbarschaft hat mehr als nur symbolischen Wert. Rabbi Serfati und dem Iman der Moschee nebenan ist es gelungen, Muslime und Juden füreinander zu interessieren. Sie kommen zu Tagen der offenen Tür, die der Freundschaftsverein regelmäßig organisiert: Jüdische Familien werden in die Moschee einladen, anschließend die Muslime in der Synagoge empfangen. Es gibt gemeinsame Feiern mit Essen und Musik, Vorträge über die Geschichte der beiden Religionen und Sportturniere für die Kinder. Im Sommer war der Verein mit Grundschülern beider Gemeinden zuerst einige Stunden in der Synagoge, dann besuchten sie in Paris das "Institut der arabischen Welt" und die große Moschee von Paris. Noch vor wenigen Jahren sei so etwas undenkbar gewesen, betont Rabbi Serfaty.
    "Sie haben sich an die Idee eines friedlichen Zusammenlebens gewöhnt. Sie treffen sich hier auf der Straße, weil sie zur gleichen Zeit vom Gebet kommen. Dann lächelt man sich an, schüttelt sich die Hände - und irgendwann wird es normal. Sie akzeptieren sich zunehmend."
    Doch Ris-Orangis ist nicht Frankreich. Besonders in den Einwanderervierteln und -ghettos französischer Banlieues, sagt Serfaty, sei das Klima zwischen Muslimen und Juden so rau wie nie. Dort diene der Nahostkonflikt immer häufiger als Vorwand für antisemitische Propaganda und Gewalt. Dann erzählt der Rabbi von einer Pädagogin, die in Evry Erst- und Zweitklässler betreut und beim Verein Hilfe gesucht hat.
    "Sie hat gesagt, dass sie es nicht mehr ertragen würde, was sie da jeden Tag hören müsse: Die Kinder - ich zitiere - die Kinder stinken nur so nach Judenhass. So hat sie es gesagt und sie ist selbst Muslimin. Für uns ist das nichts Ungewöhnliches. Wir wissen, dass es in den Vierteln Eltern gibt, die ihren Kindern die tiefe Abscheu vor Juden schon frühzeitig einflößen. Wenn wir in die Kindertagesstätten und Jugendzentren gehen, wiederholen die Kinder die antisemitischen Ressentiments ihrer Eltern ganz unschuldig."
    Erweiterter Aktionsradius
    Der jüdisch-muslimische Freundschaftsverein hat seinen Aktionsradius inzwischen auf die sogenannten "sensiblen Viertel" in und um Paris ausgedehnt. Mit der Hilfe von Mohammed Azizi: Der Imam und Krankenhausseelsorger, den Serfaty seinen wertvollsten Verbündeten nennt, ist vor fünf Jahren in das Projekt eingestiegen.
    "Das war für mich gleich etwas Besonderes. Eine vergleichbare Initiative gab es vorher nicht. Sich an Juden und Muslime gleichzeitig wenden, um Spannungen abzubauen und freundschaftliche Kontakte zwischen den beiden Gemeinden zu knüpfen. Ein Verein, der auch vor Ort in den schwierigen Vierteln jungen Muslimen die Hand reicht, mit ihnen diskutiert, die mit ihrem Verhalten häufig das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen gefährden"
    Rabbi Serfaty und seine Mitstreiter leisten Aufklärungsarbeit in Kultur- und Jugendzentren, fahren mit ihrem bunten Vereinsbus in die Gettosiedlungen der Banlieues. Dort waren sie auch während des Gaza-Kriegs im Juli unterwegs. Als im Pariser Viertel Barbès und in der Vorstadt Sarcelles pro-palästinensische Protestaktionen eskalierten, und es zu antisemitischen Übergriffen und heftigen Zusammenstößen mit der Polizei kam.
    "Ob vor, während oder gleich nach einem Konflikt - wir haben zusammen entschieden, trotzdem weiterzumachen, auch Flugblätter vor den Moscheen zu verteilen und mit den Leuten zu diskutieren, wenn sie vom Gebet kommen. Wir machen unsere Arbeit, als wäre nichts passiert. Ich wurde in den letzten zehn Jahren - auch in akuten Kriegsphasen - nicht einmal angegriffen. Und ich glaube, man wird uns nicht angreifen."
    Das ungewöhnliche Gespann will auf keinen Fall locker lassen. Sie sind überzeugt, dass nur ein permanenter Dialog und mehr Vertrauen zwischen Frankreichs Muslimen und Juden ein endgültiges Überschwappen des Nahostkonflikts verhindern kann.