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Frankreich
Radikal gescheitert

Der französische Staat steckt viel Geld in Anti-Islamismus-Programme. Nun stellt sich heraus, dass damit dubiöse Vereine gefördert wurden. Auch das staatliche Deradikalisierungszentrum steht vor dem Aus. Jetzt sollen Gefängnisse die Präventionsarbeit übernehmen.

Von Margit Hillmann | 08.11.2017
    Das Gefängnis Fresnes bei Paris. Etwa 400 Menschen sind derzeit wegen islamistischer Straftaten in Frankreich hinter Gittern.
    Das Gefängnis Fresnes bei Paris. Etwa 400 Menschen sind derzeit wegen islamistischer Straftaten in Frankreich hinter Gittern. (AFP / PATRICK KOVARIK)
    Esther Benbassa, grüne Senatsabgeordnete und Professorin für Religionsgeschichte an der Pariser Sorbonne, schlägt Alarm:
    "Frankreichs Entscheidungsträger müssen zuerst einmal ihre Sichtweise ändern. Wird die Präventionspolitik nicht überdacht, wird der Kampf gegen die islamistische Radikalisierung weiter scheitern."
    Als gescheitert gelten die sogenannten Deradikalisierungsprogramme, mit denen in Frankreich ab 2014 Vereine und selbsternannte Spezialisten betraut wurden. Viel Geld- und Zeitverschwendung, kommentiert Esther Benbassa. Sie hat einen parlamentarischen Bericht über die französische Deradikalisierungspolitik mitverfasst, der im Juli dem Senat übergeben wurde.
    "Nicht alles war schlecht, einige kleine Vereine arbeiten seriös. Aber eine ganze Reihe Vereine und private Deradikalisierungsberater haben enorme Summen vom Staat eingesackt. In einem Fall eine knappe Million - ohne nachvollziehbare Gegenleistungen. Mehrere Vereinsvorsitzende wurden unter anderem wegen Unterschlagung, Geldwäsche und Schwarzarbeit von der Justiz angeklagt."
    Ein teurer Flop
    Zu den im Bericht kritisierten Flops zählt auch ein staatliches Deradikaliserungszentrum. Eingerichtet auf einer ehemaligen Domäne in Mittelfrankreich sollten dort als gefährdet eingestufte Jugendliche und junge Erwachsene - freiwillig und fernab ihres Milieus - therapiert werden. Die Methode: Uniformpflicht, morgendliches Hissen der französischen Flagge, striktes Internet- und Handyverbot; dazu Kurse in Geopolitk, Geschichte und therapeutische Gespräche. Zapfenstreich um spätestens 22.30 Uhr.
    Erklärtes Ziel der staatlichen Deradikaisierungskur: den IS-Fanatikern die Werte der Republik vermitteln und ihren kritischen Verstand entwickeln. Ende Juli - nach nicht einmal einem Jahr - musste das 2,5 Millionen teure Zentrum mangels freiwilliger Kandidaten wieder schließen. Der Regierungsplan für ein gutes Dutzend solcher Deradikalisierungszentren verschwand sang- und klanglos in der Schublade. Für Senatorin Benbassa hat bereits der Begriff "Deradikalisierung" falsche Signale gesetzt.
    "In Wirklichkeit ist eine Deradikalisierung nicht möglich. Man kann keine Gehirnwäsche anordnen, jemandem sagen, dass er anders denken soll. Häufig verstehen meine Politikerkollegen unter Deradikalisierung auch, dass man islamistische Jugendliche von ihrem Glauben abbringt. Als Religionshistorikerin kann ich davor nur warnen: Nimmt man ihnen ihre Religion, werden sie noch instabiler. Man muss sich vor allem individuell um sie kümmern, sie kontinuierlich begleiten, ihrem Profil und ihrer Radikalisierung entsprechend. Wir brauchen keine Deradikalisierung, wir müssen diese jungen Leute aus der extremistischen Gewalt in die Gesellschaft zurückholen, sie resozialisieren."
    "Maßgeschneiderte Prävention"
    Intelligente maßgeschneiderte Prävention nennt es die Senatorin. Die sei auch angesagt im Fall der sogenannten Revenants - französische Dschihadisten, die aus Irak und Syrien zurückkehren. Rund 270 sind laut Innenministerium bereits in Frankreich eingetroffen, darunter ein Viertel Frauen und 54 Kinder. Die Erwachsenen und auf eigene Faust in den Dschihad gezogene Jugendliche werden inhaftiert. Die Kinder - häufig im Kalifat geboren - werden von der Justiz in Pflegefamilien untergebracht, oder aber in Heimen und bei Verwandten. Senatorin Benbassa:
    "Ein Teil der Kinder sind zwischen fünf und ein Jahr alt. Wir haben in unserem parlamentarischen Bericht empfohlen, für ihre Mütter nach Alternativen zur Haftstrafe zu suchen. Um die Kinder nicht von ihren Müttern trennen zu müssen. Weil wir sonst nur neuen Hass produzieren, gegen die Gesellschaft, gegen Frankreich und so weiter. Aber bisher hat die Regierung darauf nur sehr vage reagiert."
    Die Gefängnislösung steht in Frankreich besonders hoch im Kurs: Um verdächtige Islamisten und IS-Anhänger möglichst frühzeitig aus dem Verkehr zu ziehen, aber auch als Mittel der Abschreckung. So steht etwa auf regelmäßiges Besuchen von dschihadistischen Internetseiten Gefängnis bis zu zwei Jahre; auf das Verherrlichen von IS-Terror oder Aufrufen zu islamistischer Gewalt in den sozialen Netzen bis zu sieben Jahre Haft.
    Soziologin Ouisa Kies kommt gerade von einem Termin im französischen Justizministerium. Sie ist Spezialistin für islamistische Radikalisierung und arbeitet im Auftrag des Ministeriums mit radikalisierten Häftlingen. Ein Großteil der Präventionsarbeit findet inzwischen im Strafvollzug statt. Über 400 zumeist junge Erwachsene und Minderjährige sitzen aktuell wegen islamistischer Straftaten im Gefängnis.
    "So viel waren es noch nie, das ist eine extrem hohe Zahl. Man kann sie grob in drei Profile einteilen: Zurückgekehrte Dschihadisten oder auf dem Weg zum Dschihad verhaftet worden; Häftlinge, die wegen Verherrlichung und Propaganda des IS-Terror angeklagt wurden. Und Islamisten, denen Straftaten im Zusammenhang mit einem terroristischen Unternehmen vorgeworfen werden."
    "Ein Identitätsproblem"
    Hinzu kommen knapp 1.000 Häftlinge, die wegen anderer Straftaten sitzen, aber ebenfalls als radikale Islamisten eingestuft werden. Um dem Radikalisieren von Mithäftlingen einen Riegel vorzuschieben, wurden Islamisten in speziellen Gefängniseinheiten konzentriert. Inzwischen gilt die Präventionsmethode als kontraproduktiv: die Einheiten sind nur schwer kontrollierbar, Gefängnispersonal wurde attackiert. Neuerdings setzt die französische Regierung auf sogenannte "Evaluierungseinheiten". Dort sollen die Häftlinge von Spezialisten gründlich begutachtet und anschließend - je nach Radikalisierungsgrad und Gewaltbereitschaft - auf die Gefängnisse verteilt oder in Isolationshaft untergebracht werden, individuell betreut von Sozialarbeitern und Psychologen. Ein Fortschritt, aber nicht ausreichend, meint Radikalisierungsspezialistin Ouisa Kies.
    "Man muss sich auch um die Zeit nach der Entlassung kümmern. Inzwischen haben viele ihre mehrjährigen Strafen so gut wie abgesessen. Meistens haben sie keine Ahnung, was sie draußen machen sollen. Das ist sehr gefährlich. Es muss unbedingt verhindert werden, dass sie nach der Haft auf sich allein gestellt sind."
    Sträflich vernachlässigt, kritisiert die praxiserfahrene Soziologin, werde wichtigere Präventionsarbeit in Frankreichs Schulen und in den Banlieuevierteln. Mehr Aufklärung und gezielte Sozialarbeit, bevor das Kind in den Brunnen fällt. Senatsabgeordnete Esther Benbassa geht noch weiter: Wer das Radikalismusproblem an der Wurzel packen will, muss sich auch unbequemen Fragen stellen.
    "Die eigentliche Frage ist doch: Warum schließen sich diese jungen Leute einer solchen Ideologie an? Weil es ein echtes Identitätsproblem gibt. Frankreich hat sie immer ein bisschen wie Kolonialisierte behandelt - was Arbeit, Ausbildung, Wohnungen und so weiter betrifft. Das ist keine Entschuldigung. Aber Daesch kristallisiert diese Dinge. Und das will man absolut nicht sehen."