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Frankreich
Richterspruch über Leben und Tod

Aktive Sterbehilfe ist in Frankreich verboten. Die passive Sterbehilfe regelt ein vages Gesetz von 2005. Nun streitet die Familie eines unheilbaren Koma-Patienten darüber, wie gehandelt werden soll. Das Oberste Verwaltungsgericht fällt heute ein Urteil, das Präzedenzcharakter haben könnte.

Von Bettina Kaps | 24.06.2014
    Die Eltern von Vincent Lambert sitzen in einem Gerichtssaal und schauen nach links, in Richtung des Richters.
    Die Eltern von Vicent Lambert wollen ihren Sohn nicht durch passive Sterbehilfe verlieren. (AFP/Herve Oudin)
    Der 39-jährige Vincent Lambert liegt seit einem Motorrad-Unfall vor sechs Jahren im Koma. Er befindet sich im sogenannten minimal bewussten Zustand. Das heißt: Er bewegt die Augen und ist schmerzempfindlich. Aber es unmöglich, mit ihm zu kommunizieren. Nach Ansicht aller Experten gibt es keine Hoffnung auf Besserung. Der Patient wird künstlich über eine Sonde ernährt, andere Behandlungen erhält er nicht.
    Eltern klagten auf künstliche Ernährung
    Seine Ehefrau betont, dass sich ihr Mann – ehemals Krankenpfleger – vor seinem Unfall gegen lebensverlängernde Maßnahmen um jeden Preis ausgesprochen hätte, aber eine Patientenverfügung gibt es nicht. Anfang des Jahres folgte das Ärzteteam zunächst dem Wunsch der Ehefrau und sieben weiterer Familienmitglieder: Es stellte die künstliche Ernährung ein. Doch als die Eltern Klage einreichten und die Justiz ihnen recht gab, musste die Klinik den Patienten wieder versorgen. Eine Schwester des Kranken reagierte entsetzt:
    "Was ist grausamer: Vincent sterben zu lassen oder ihn in einem Zustand zu halten, in dem er weder tot noch lebendig ist? Sein Anblick ist verwirrend: Er ist schön und jung und muss noch nicht einmal beatmet werden. Aber dieses Erscheinungsbild täuscht, denn er ist nicht mehr wirklich unter uns."
    Ehefrau klagt auf Recht zur passiven Sterbehilfe
    Der Rechtsstreit ging weiter: Vincent Lamberts Ehefrau rief das Oberste Verwaltungsgericht, den "Conseil d´Etat" an, um das Recht auf passive Sterbehilfe einzuklagen, das seit 2005 gesetzlich geregelt ist. Der juristische Berichterstatter des Gremiums riet den 17 Richtern, den Abbruch der Behandlung zu genehmigen, Vincent Lambert also sterben zu lassen. Der Verteidiger der Eltern widersprach heftig. Rechtsanwalt Jean Paillot:
    "Der Staatsrat wird heute eine Entscheidung fällen, die nicht nur für Vincent Lambert, sondern für alle Patienten ungeheuer wichtig ist, die sich in einem ähnlichen Zustand der Abhängigkeit befinden. Ein staatlicher Berichterstatter will hier im französischen Recht die Möglichkeit zur Euthanasie schaffen. Ich bin überzeugt, dass der Conseil d´Etat diesen Weg nicht einschlagen wird. Wir können nicht akzeptieren, dass Vincents Leben beendet wird, nur weil er behindert und anders ist als Sie und ich."
    Die Eltern von Vincent Lambert sind überzeugte Katholiken aus traditionalistischen Kreisen. Wie sie wehrt sich auch sein Halbbruder David Philippon gegen die Sterbehilfe:
    "Vincent liegt nicht im Sterben, er ist schwerstbehindert, aber er zeigt Emotionen und reagiert auf Menschen, deren Stimme er kennt."
    Zwischen Sterben lassen und Sterbehilfe
    Für den juristischen Berichterstatter des Obersten Verwaltungsgerichts steht der Wunsch der Ärzte von Vincent Lambert, die künstliche Ernährung einzustellen, jedoch ganz und gar im Einklang mit dem Gesetz zur passiven Sterbehilfe. Das sogenannte "Gesetz Leonetti" verbietet es, unheilbar kranke Menschen mit "Therapien um jeden Preis" zu traktieren. Aber es definiert nicht, wo genau der Übergang vom "Sterben lassen""zur "Sterbehilfe" liegt.
    Dass die Ärzte mit dieser schweren Gewissensfrage häufig überfordert sind, zeigt ein weiterer Sterbehilfe-Prozess in der südfranzösischen Stadt Pau. Dort droht dem Notfallarzt Nicolas Bonnemaison lebenslänglich Gefängnis, weil er sieben alten, schwerkranken Patienten zum Sterben verholfen hat. Zumindest in einem Fall ohne Zustimmung der Familie.
    Und doch hat der Arzt zahlreiche Unterstützer. 66.000 Menschen haben eine Petition zu seinen Gunsten unterzeichnet. Selbst Bernard Kouchner, Ex-Gesundheitsminister und Mitbegründer der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen", hat vor dem Schwurgericht für ihn ausgesagt und dabei vehement für eine aktive Sterbehilfe plädiert.
    Der Fall Nicolas Bonnemaison
    "Nicolas Bonnemaison darf nicht als Mörder bezeichnet werden. Er war völlig isoliert. Es geht hier um die Frage, welchen Platz der Tod im Krankenhaus, der Tod in unserer Gesellschaft einnimmt und wie wir diesen Platz verändern. Wenn gläubige Menschen dagegen sind, zwingt sie ja niemand dazu. Aber es gibt nun mal Menschen, die über ihren Körper und ihre Seele verfügen wollen, und diese Menschen muss man auch berücksichtigen."
    Der Fall Vincent Lambert und der Prozess in Pau haben die Debatte um Sterbehilfe angeheizt und inzwischen auch den Élysée-Palast erreicht. Staatspräsident Francois Hollande hat jetzt zwei Parlamentsabgeordnete beauftragt, Vorschläge zu erarbeiten, um das bestehende Gesetz über die passive Sterbehilfe zu verbessern. Einer der Beauftragten ist der Autor der ersten Gesetze, der konservative Abgeordnete Jean Leonetti. Daher ist anzunehmen, dass die aktive Sterbehilfe in Frankreich auch in Zukunft verboten bleiben wird. Falls der Conseil d´Etat heute Nachmittag zulässt, dass Vincent Lambert sterben darf, macht aber auch die gültige Gesetzessprechung einen kleinen Schritt in diese Richtung.