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Frankreich
Schlechte Behandlung von angehendem Gesundheitspersonal

In Frankreich erleben viele angehende Ärzte, Krankenschwestern oder Hebammen Beschimpfungen, Mobbing und sogar Schläge. In dem Buch "Omerta im Krankenhaus" berichten 130 Medizinstudenten und Pflegepersonal-Nachwuchs über Missstände in ihrer Ausbildung. Ein Tabuthema, mit dem die Autorin und junge Ärztin Valérie Auslender derzeit in ihrem Land für Furore sorgt.

Von Suzanne Krause | 07.03.2017
    Eine Krankenschwester schiebt einen Infusionsständer über den Flur der Medizinischen Klinik des Werner-Forßmann-Krankenhauses in Eberswalde.
    "Ich musste sämtliche Dreckjobs erledigen, während Krankenschwestern und Pflegehilfen sich ausruhten", berichtet die Buchautorin über ihre Krankenschwester-Ausbildung. (picture alliance / dpa / Hans Wiedl)
    Charlotte Bailly ist frischgebackene Kinderärztin. Und sehr froh, die Krankenhaus-Praktika hinter sich zu haben.
    "Wenn ich morgens auf der Station antrat, hat mich keiner gegrüßt oder je mit meinem Namen angesprochen. Man behandelte mich wie einen Roboter. Und wenn ich mich darüber beschwerte, hieß es nur: 'Früher war alles noch viel schlimmer!'"
    Ihr Freund, ein Studienkollege, sei vor zwei Jahren bei einem Praktikum in der Neurochirurgie so schikaniert worden, dass er seinem Leben ein Ende setzte. Diese Geschichte ist eine der extremsten im Buch der jungen Ärztin Valérie Auslender. Aber schlechte Erfahrungen haben viele gemacht. Bei den heutigen Streiks in Frankreich, der vierten Protestaktion seit letztem September, skandieren viele: 'Nie war das Leid des Gesundheitspersonals größer als heute'. Auch Christine Moreaux heulte sich während ihrer praktischen Ausbildung häufig in den Schlaf. Dabei war für die damals 40-Jährige, die beruflich umsattelte, Krankenschwester seit jeher Traumberuf.
    "Ich musste sämtliche Dreckjobs erledigen, während Krankenschwestern und Pflegehilfen sich ausruhten. Gleichzeitig sollte ich die Akte aller Patienten kennen, obwohl ich bei den Schichtwechsel-Besprechungen kaum dabei sein konnte. Wenn ich es nicht schaffte, die Informationen aufzuschnappen, hieß es, ich sei zu blöd, unfähig - ungeeignet für diesen Job. In meinem Jahrgang an der Krankenpflegerschule war wirklich jeder mindestens einmal an dem Punkt, die Ausbildung schmeißen zu wollen. Meine Studie ergab: 40 Prozent derjenigen, die Medizin studieren, erleben psychologische Gewalt."
    Psychologische und körperliche Gewalt
    Während ihrer eigenen Ausbildung, sagt Ärztin und Buchautorin Valérie Auslender, habe sie selbst schnell gelernt, sich vor respektlosen Vorgesetzten zu schützen. Aber sie erlebte immer wieder mit, wie schlecht andere angehende Mediziner oder Krankenpfleger behandelt wurden. Ein Thema, dem Auslender ihre Doktorarbeit widmete.
    "Meine Studie ergab: 40 Prozent derjenigen, die Medizin studieren, erleben psychologische Gewalt, knapp zehn Prozent körperliche Gewalt. Vier Prozent werden Opfer sexueller Belästigung, jeder Zweite ist mit sexistischen Parolen konfrontiert. Eine andere Studie besagt: 85 Prozent der angehenden Krankenpfleger empfinden die Beziehungen zu ihren Ausbildern im Krankenhaus als gewaltgeprägt. 85 Prozent!"
    14 Prozent der Medizin-Studierenden hätten, sagt deren Landesverein, schon an Selbstmord gedacht. Das ist ein Hinweis auf die Missstände in Frankreichs Gesundheitswesen. Um die staatliche Pflichtkrankenversicherung aus den roten Zahlen zu holen, wird eifrig reformiert. Und jedes Mal die Finanzschraube enger angezogen. Es mangelt an Mitteln, an Posten, der Druck auf das Personal wird unerträglich. Gemeinsam mit den neun Experten, die sie zurate zog, vom Psychiater über die Philosophin bis zum Ehrenpräsidenten der nationalen Ethikkommission, fordert Valérie Auslender energisch ein Umdenken.
    "Wir müssen im Krankenhaus endlich wieder den menschlichen Aspekt in den Mittelpunkt stellen. Und nicht dauernd an Produktivität und Rentabilität denken."
    Viele Rückmeldungen mit Leidensgeschichten
    Politiker haben auf Auslenders Buch noch nicht reagiert. Dafür erhält die Autorin E-Mail über E-Mail von Lesern - mit deren eigenen Leidensgeschichten. Oder mit Vorschlägen. So kündigt eine Krankenschwester an, nun als Fürsprecherin für das Personal in Ausbildung agieren zu wollen. Und bei den heutigen Protestaktionen mehr Mittel zu verlangen: für die Versorgung der Patienten. Und für die korrekte Nachwuchs-Ausbildung.