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Frankreichs 68er

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Unterrichtsformen an französischen Universitäten archaisch, Studenten wurden bespitzelt, die Jugend hatte sich vom Staat entfremdet. Aus dieser Stimmung heraus entstand die "Bewegung des 22. März" im Jahr 1968 mit ihren Schlüsselfiguren Daniel Cohn-Bendit und Jean-Pierre Duteuil.

Von Stefan Fuchs |
    "Es war eine geschlossene Gesellschaft, eine bleierne Gesellschaft und dann explodiert das und plötzlich kann man so vieles spüren. Zwei Monate lang fehlen uns die Worte, es auszudrücken. Alles was wir sagen können, ist, dass wir darüber sprechen wollen. Mehr nicht. Vor allem aber sehnt man sich danach, zu leben."

    Von Anfang an ist der Soziologie-Student deutsch-französischer Herkunft Daniel Cohn-Bendit eine Schlüsselfigur der studentischen Rebellion. Die Universitätsverwaltung hatte versucht, den wegen seiner rötlichen Haare als "Dany le Rouge" bekannten Anarchisten zu relegieren. Mit Massenstreiks hatten die Studenten seinen Verbleib erzwungen.

    Am Nachmittag des 22. März 1968 unterbricht er an der Spitze einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter den Vorlesungsbetrieb in Nanterre vor den Toren von Paris. Zuvor waren Kommilitonen bei einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg vor dem Büro der American-Express-Agentur verhaftet worden. Jetzt beschließt man, aus Protest das Verwaltungsgebäude der Hochschule zu besetzen.

    "Man muss sich den besonderen Charakter der Fakultät in Nanterre vor Augen führen. Paradoxerweise ist sie entstanden, weil man mit den archaischen Unterrichtsformen an der Sorbonne brechen wollte. Die Hochschullehrer in Nanterre waren überzeugt, Teil eines ganz neuen pädagogischen Experiments zu sein."

    Für die Historikerin Henriette Asseo ist es kein Zufall, dass die studentische Revolte 1968 zuerst in Nanterre aufflammt, bevor sie sechs Wochen später die Sorbonne und das Quartier Latin erfasst. Der Ansturm der Baby-Boom-Generation auf die Hochschulen hatte zu eiligen Neugründungen geführt. Aus Kostengründen hatte man die Fakultät in Nanterre auf einem ehemaligen Militärgelände hochgezogen. Direkt neben den Studentenwohnheimen wuchert ein Elendsquartier, das von algerischen und marokkanischen Einwanderern bewohnt wird. Weit und breit kein Bistro, kein Kino, nicht die Spur von Urbanität. Der Anarchist und Mitbegründer der "Bewegung des 22. März", Jean-Pierre Duteuil, erinnert sich.

    "Es gab gerade mal 1000 Studenten. Man kannte sich untereinander. Wir gingen über den Bretterzaun ins arabische Viertel essen, weil es dort noch am erträglichsten war. Die Frauen oder Kinder der Araber flüchteten zu uns ins Wohnheim, wenn sie von ihren Männern oder Vätern verprügelt wurden. Man war auf menschliche Beziehungen angewiesen, um in dieser Umgebung überleben zu können."

    Krass treten hier die repressiven Züge des patriarchalischen Erziehungssystems der französischen Nachkriegsgesellschaft zutage. Streng nach Geschlechtern getrennt, lebt man in den studentischen Wohnheimen wie in akademischen Kasernen, immer von den Hausmeistern bespitzelt, immer unter Beobachtung. Politische Meinungsäußerungen innerhalb der Hochschule sind verboten. Der viel zu spät beendete Kolonialkrieg in Algerien hat zur Entfremdung großer Teile der studentischen Jugend geführt. Ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz nach dem Studium stehen schlecht. Das Studium wird als sinnentleertes Pauken erfahren, der Prüfungsdruck als eine Art Initiationsritus in eine verachtete bürgerliche Gesellschaft. In der Verwaltung zirkulieren schwarze Listen von Studenten, derer man sich entledigen möchte. Und so wächst die Frustration der Jugendlichen, die sich in spontanen Aktionen Luft macht. Man benutzt den für die Professoren reservierten Lift, weigert sich in der Mensa zu bezahlen, besetzt die Schlafsäle der Studentinnen.

    "Eine Renaissance des Traums, eine Art, das eigene Leben neu zu erfinden. Plötzlich brechen jene, die die Elite der Nation darstellen sollen, die Regeln. Wir hatten die ganze Welt in Cinemascoop und in Farbe im Kopf. Die soziale Wirklichkeit aber war ein altmodischer Schwarzweiß-Film à la Jean Gabin. Kein Wunder, dass das mit der Frage des freien Zutritts zu den Schlafsälen der Mädchen begonnen hat. Das war wichtiger als der Sieg des Proletariats in China."

    Der ehemalige Maoist Michel Le Bris unterstreicht den unpolitischen Sponti-Charakter in dieser frühen Phase des Pariser Mai: mehr Novalis als Mao, mehr Free-Jazz als Marx, es ist die Geburt der ersten jugendlichen Gegenkultur in Frankreich.

    "Wovon man sich wirklich verabschieden muss, ist diese Vorstellung des ’Anführers’. Die 'Bewegung des 22. März' lehnt das ab. Sicher, es gibt Wortführer, die sich vorübergehend stärker zu Wort melden. Aber das ist einem ständigen Wechsel unterworfen. Jetzt werden andere diese Aufgabe übernehmen."

    Nicht zufällig legt sich der unbeugsame "rote Dany" mit der stalinistisch verhärteten französischen kommunistischen Partei ebenso an wie mit dem gaullistischen Establishment. Ein unbeirrbar antitotalitärer Zug macht die "Bewegung des 22. März" zur lebendigsten Strömung des Pariser Mai weit über 1968 hinaus. In ihrem Geist wird die unabhängige linke Tageszeitung "Libération" gegründet und das "Centre Universitaire Expérimental" in Vincennes, aus dem die Universität "Paris 8" hervorgeht, eine experimentelle Hochschule, Heimat der französischen Postmoderne.