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Frankreichs Arbeitsmarkt im Ausnahmezustand

Mehr als 740.000 Arbeitsplätze gingen in Frankreich in den letzten zehn Jahren verloren, und der Abbau geht weiter. Nur 12 Prozent der Angestellten sind heute in der Industrie tätig. Die Regierung von Jean-Marc Ayrault macht die Krise zur Chefsache - doch kann sie halten, was sie verspricht?

Von Birgit Kaspar | 10.01.2013
    Moderne Roboter verpacken kleine, gelbe Maiskörner in Tütchen von der Größe eines Briefumschlages. In der Mikrowelle poppen sie später zu Popcorn. Eine industrielle Erfolgsgeschichte aus den winterlich kargen Hügeln des südwestfranzösischen Départements Gers. Denn hier steht die führende Popcorn-Fabrik Europas. Michael Ehmann, Firmenchef von Nataïs, ist zuversichtlich.

    "Wir haben auch weiterhin vor zu wachsen und auch relativ schnell. Der Markt ist da und wir haben das entsprechende Umfeld, was uns das ermöglichen wird, weiterhin zu wachsen."

    Im starken Kontrast zur allgemein düsteren Lage der französischen Industrie. Mehr als 740.000 Arbeitsplätze gingen in den letzten zehn Jahren verloren und der Abbau geht weiter. Nur noch 12 Prozent der Angestellten sind heute in der Industrie tätig. Diesen Trend will die Regierung umkehren. Arnaud Montebourg, Minister für industrielle Wiederbelebung, rief die Franzosen deshalb zu Jahresbeginn zu einem Kraftakt auf.

    "Wir müssen gemeinsam vorangehen, mutig und kühn neue Lösungen suchen, unsere Produktivkräfte wieder aufbauen und unsere Industrie neu erfinden."

    Erwünscht sind weitere Erfolgsgeschichten, die der des Popcorn-Produzenten Ehmann gleichen. Mit nur einem Angestellten, aber einem innovativen Konzept hatte der gebürtige Schwabe 1994 begonnen. Heute beschäftigt er 110 Mitarbeiter, zudem bauen mehr als 200 Landwirte in der Nachbarschaft den Popcorn-Mais an. Eine große Hilfe war die Mitgliedschaft beim "Pôle de Compétitivité Agrimip Sud-Ouest Innovation" nahe Toulouse.

    "Also das hat uns gebracht, dass wir einen Gesprächspartner hatten für Projekte oder für Ideen (bezüglich R & D) und Agrimip hat uns dann geholfen, die verschiedenen Partner zu finden und denn auch dafür zu sorgen, dass wir da ne Finanzierung haben."

    71 dieser Pôles de Compétitivité, Kompetenzzentren - ähnlich den deutschen Exzellenzclustern - gibt es in Frankreich. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Regierung will sie weiter stärken, um die Reindustrialisierung voranzutreiben.

    Beispiel Agrimip: In diesem Kompetenzzentrum haben sich mehr als 180 Firmen aus den Bereichen Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion, überwiegend kleinere und mittlere Unternehmen, mit knapp 90 Forschungszentren und Institutionen zusammengeschlossen. Der Staat unterstützt ausgewählte Projekte aus einem Spezialfonds. Patrice Roché, Direktor von Agrimip und selbst Unternehmer, weist konkrete Erfolge vor: Neue, erfolgreiche Produkte sind auf den Markt, die Firmen exportieren mehr, und:

    "Zwei Drittel unserer Mitglieder haben die Zahl ihrer Angestellten erhöht, also neue Stellen geschaffen."

    Dennoch: Angesichts Zehntausender Stellen, die wahrscheinlich noch in diesem Jahr gestrichen werden - ob beim Stahlriesen ArcelorMittal oder beim Autobauer Peugeot-Citroen – dürfte dies keine Trendumkehr bewirken. Deshalb räumt Robert Castagnac, Regionalbauftragter für industrielle Wiederbelebung in der Region Midi-Pyrenäen, bedauernd ein:

    "Heute ist unsere Priorität, den Firmen zu helfen, die in Schwierigkeiten sind. Denn wir befinden uns im Ausnahmezustand angesichts der dramatisch steigenden Arbeitslosigkeit."

    Die neue öffentliche Bank für Investitionen, die mittelständische Unternehmen unterstützen soll, ist nach Ansicht des Vizepräsidenten des Dachverbandes kleiner und mittlerer Unternehmer CGPME, Frédéric Grivop, ein Schritt in die richtige Richtung. Das Gleiche gilt für den Pakt für Wettbewerbsfähigkeit, der den von hohen Steuern und Sozialabgaben geplagten Unternehmern finanzielle Entlastung verschafft. Dringend notwendig sei nun eine tief greifende strukturelle Reform im Arbeitsrecht wie im Sozialsystem. Nur: Bei Gesprächen über erste konkrete Maßnahmen fanden Arbeitgeber und Gewerkschaften bis jetzt keinen Kompromiss. Popcorn-Produzent Ehmann betont, es sei nicht alles schlecht in Frankreich. Aber:

    "Das ist schon besorgniserregend, was in Frankreich in den letzten zehn Jahren passiert ist. Ich denke, wenn sich da tendenziell was ändern soll, dann müssen sehr mutige und größere Entscheidungen getroffen werden. Aber jeder ist sich dessen bewusst."

    Statt dem Ernst der Lage gerecht zu werden, dominieren jedoch politische Grabenkämpfe.