1960, wenige Jahre nachdem Frankreich unter Charles De Gaule beschlossen hatte die Atombombe zu bauen, suchte das zur Armee gehörende Atom-Energie-Kommissariat nach einem Gelände, das geeignet wär für eine Plutoniumfabrik. Es sollte windig sein und von Wellen umtost, um die radioaktiven Abfälle schnell zu streuen:
La Hague ist der nördlichste Teil der Halbinsel Cotentin im Westen Frankreichs, ein mehr als 100 Meter hohes Plateau, das zu allen Seiten steil zum Meer abfällt.
Eine Landschaft von wilder Schönheit, eine Landschaft, in der sich die Atomanlagen so dicht konzentrieren wie nirgendwo sonst in Europa: Hier steht die größte atomare Wiederaufbereitungsanlage der Welt, direkt daneben ist ein Atommülllager, dessen Ausmaße wahrscheinlich nicht mal die staatliche Energiebehörde EDF kennt. Nur 15 Kilometer südlich davon stehen die zwei Reaktoren des Atomkraftwerks Flamanville. Für ein AKW der dritten Generation –den EPR - werden hier schon die Fundamente gegossen. Im Osten von La Hague, nur 20 Kilometer weiter bei Cherbourg, werden Frankreichs atomgetriebene U-Boote gebaut.
Monique Prunier, leitet des Fremdenverkehrsamtes in Beaumont-Hague, der Gemeinde, in der die Wiederaufbereitungsanlage steht. Atomindustrie und Tourismus schließen sich für sie nicht aus:
Strahlender Tourismus - Die Leiterin des Fremdenverkehrsamt
Es ist, von den Landschaften her, eine charakterstarke Region. Die Küste ist extrem zerklüftet und sehr hoch. Wir sind hier 128 Meter über dem Meer. Der Westwind ist dominierend und stark . Ich sage oft: wenn ich meine Fenster aufmache, ist gegenüber Kanada, 6000 Kilometer jodhaltige Luft kommen uns ins Haus. Der Landstrich wurde von unzähligen Bächen geformt , die Täler zum Meer hinunter sind tief eingeschnitten und stehen im Kontrast zur kargen Küste . Es gibt kaum mal Frost hier , es wird nie sehr heiss und wo es windgeschützt ist, wächst wirklich alles. Wir haben wunderschöne Gärten und den nördlichsten Palmenhain Europas.
Monique Prunier ist in ihrem Element. Von der Region hier zu schwärmen gehört zu ihrer Arbeit. In ihren weiten Kleidern vermittelt sie den Eindruck einer jung gebliebenen , aktiven Großmutter , die bei einem Kirchengemeindeausflug der Senioren nicht auffallen würde . Sie verlässt das Fremdenverkehrsamt direkt neben dem Rathaus von Beaumont Hague und steuert ein Büro im Nebengebäude an. Ihr Credo, das sie seit 10 Jahren allerorts herbetet, hat sie jetzt bereits zwei Mal an den Mann gebracht: " La Hague, das ist nicht die Plutoniumfabrik, La Hague, das ist ein Landstrich." La Hague ist auf jeden Fall ihr Land, wo der Urgroßvater Tagelöhner, der Großvater Leuchtturmwächter war. Es ist , als wollte die Frau mit den wachen und zugleich skeptischen Augen durch ihr Engagement für den Tourismus die Gegend hier reinwaschen von der Schmach, die ihr Atomkraftgegner zugefügt haben:
"Es gab in den Jahren 96 / 97 hier eine neue Welle der Antiatombewegung und ich habe es nicht ertragen, wie man mein Land hier attackiert hat. Das kam wirklich aus dem Bauch heraus. Es war für mich so, als würde man meine Kinder angreifen."
Die damals in Frankreich und darüber hinaus verbreiteten Lügen, so sagt sie, die Übertreibungen , die Ungenauigkeiten über Gefahren und Verstrahlung in der Region seien ihr im Hals stecken geblieben . Dagegen musste sie etwas tun und beschloss, das Kunststück fertig zu bringen, den Fremdenverkehr in der Region zu beleben, auch wenn die weltweit größte Atomanlage vor der Haustür liegt:
"Diese größte Atomanlage ist nur 245 Hektar groß, der gesamte Landstrich umfasst 30.000 Hektar – da bleibt noch viel zu erkunden, ohne dass man die Fabrik überhaupt mit eigenen Augen sieht. Wir haben hier die ältesten Steilküsten Europas, die sind 2 ½ Milliarden Jahre alt. Sehen sie, die Zeit vergeht und die Fabrik wird auch vergehen. Man muss nur über die Atomschranke im Kopf der Leute wegkommen .Und dabei, auch wenn das zynisch klingt, sind uns andere Umweltkatastrophen eine grosse Hilfe , denken wir nur an die Rinderseuche . Die Menschen werden sich bewusst, dass Verschmutzung im 21. Jahrhundert leider allgegenwärtig ist. Wir hier tragen dazu bei, aber andere auch."
Man muss der frühpensionierten Volksschullehrerin die Liebe zu diesem Landstrich einfach abnehmen. Eine Liebe, die so stark ist , dass die Fremdenverkehrschefin manchmal den Kopf sehr tief in den Sand steckt:
"Ich habe gesehen, wie man die ersten Gräben ausgehoben hat und dann das erste kleine Gebäude entstand und dann ein zweites. Ich sage den Touristen immer : wir hier akzeptieren die Fabrik, weil wir gesehen haben, wie sie heranwuchs . Sie ist nicht von einem Tag auf den anderen über uns hereingebrochen, das ging nach und nach und wir haben uns daran gewöhnt. Seit 40 Jahren fahre ich jeden Tag an der Fabrik vorbei. Am Anfang hat hier ja auch niemand verstanden, was das ist und was das werden sollte. Mit der Zeit aber haben wir es richtiggehend bewundert, denn immerhin waren wir hier dank dieser Fabrik weltweit an der Spitze der Technologie. "
Eines ist sicher: so lange Monique Prunier hier ist, wird man ihren Landstrich, La Hague , nicht unwidersprochen schlecht reden . Sie selbst hat nach dem Krieg noch wegziehen müssen , um Arbeit zu finden , heute sind zwei ihrer drei Kinder in der Region beschäftigt, dank der Atomindustrie . Und, so lacht sie, man solle doch mal versuchen, hier ein Haus zu kaufen. Die Immobilienpreise seien gesalzen, und das sei doch wohl ein Beweis dafür , dass bei weitem nicht alle Angst hätten vor der Atomkraft
Was wäre wenn in einer Nacht von Freitag auf Samstag, vom 6. auf den 7.Dezember 1990 im Atomkraftwerk Nogent sur Seine massiv Radioaktivität austritt. Wenn der Gau nicht in der Ukraine, sondern in Frankreich passiert wäre?
Helen Crie hat diesen Gedanken in ihrem Buch "Tschernobyl sur Seine" durchgespielt:
"Laurent Rolant geht ein Schauer über den Rücken. Der Alarm, den er gerade gehört hat, wurde von einer Messtange ausgelöst, die 20 Meter entfernt ist, er kann sie durch die Fensterfront deutlich erkennen. Die Büros im Verwaltungsgebäude dürfen nicht benutzt werden, wenn das Gelände kontaminiert ist. Rolant wird in den Sicherheitsblock umziehen müssen.
Roland Laurent ist weder ein Feigling, noch ein Anfänger. Trotzdem verflucht er das Schicksal, das ihn in dieser Situation zum einzigen Kapitän an Bord macht, während sein Direktor am Vorabend nach Maryland in den USA abgereist ist , zu einem Kongress über Nuklearsicherheit. Die Franzosen geniessen hohes Ansehen in der Atomindustrie. Ihre Technologie ist auf Topniveau. Der stellvertretende Direktor kann ein Kichern nicht unterdrücken.
Bevor er sich in den Sicherheitsblock zurückzieht, drückt Laurent Rolant auf den Knopf, der den vor aufgezeichneten , automatischen Anruf auslöst :
" Dringend ! Das Personal des Kraftwerks wird gebeten, sich im Eingangsgebäude zu versammeln. Der interne Notplan ist ausgelöst "
Keine Details . Der Nachricht ist nicht zu entnehmen, ob die Atomanlage verstrahlt ist oder nicht. Das Telefon klingelt jetzt in über 300 Häusern in 20 Kilometern Umgebung. Die 80 Angestellten, die in dieser Nacht abrufbereit sind, wird der Mobilisierungsbefehl auf jeden Fall erreichen. Alle anderen, wenn sie zu Hause sind und Lust haben, das Haus zu verlassen, werden die Wachmannschaften verstärken."
An Frankreichs Flüssen und Küsten produzieren die 58 Atommeiler über 80 Prozent des Stroms. Doch diese Investitionspolitik, des zentralistischen Stromgigant, EDF, rächt sich, denn die Versorgungssicherheit ist im Zuge des Klimawandels auch nicht mehr gegeben: Durch den niedrigen Wasserstand in Frankreichs Flüssen mussten im Sommer 2003 und in diesem Sommer mehrer Meiler runtergefahren werden: die Grenzwerte für die Aufheizung des Kühlwassers wären sonst überschritten worden. Frankreich musste Strom aus den Nachbarländern hinzukaufen!
Eigentlich kommt sonst kein Strom aus den Nachbarländer, sondern Atommüll. Fast täglich rollen die 110 Tonnen schweren Castor-Behälter auf Tiefladern in Richtung La Hague. Jährlich können hier 1 600 Tonnen atomare Brennstäbe wiederaufbereitet werden. In einem chemischen Verfahren wird noch spaltbares, hochgiftiges Plutonium und Uran aus den Brennelementen abgetrennt. Dabei entsteht allerdings zusätzlicher radioaktiver Müll, und bei alldem ist die Frage nach der Endlagerung des Atommülls immer noch ungeklärt. Eine Frage, an der sich der stellvertretende Direktor der Wiederaufbereitungsanlage, Eric Blanc, gar nicht erst versucht:
Der Stellv. Direktor und seine Anlage
Im weißen Schutzanzug , aber mit Krawatte, sportlich-dynamisch , nach allen Seiten grüssend, bewegt sich Eric Blanc durch die endlosen Gänge der Anlage , sekundiert von Pressechef und Assistentin. . Der Mittfünfziger hatte vor dem Werk UP 3 schnell auf einen entladenen Kastorbehälter gezeigt, der da einsam auf den Schienen stand und auf ein Massiv verblühter Hortensien , das das Fundament der Fabrikhalle verdeckt und dann, fast im Laufschritt , die Eingangstür zur Abteilung aufgestossen, in der die Wiederaufarbeitung beginnt . Hinter der orangefarbene Scheibe eines Gucklochs zieht gerade ein Roboter die meterlangen, verbrauchten Brennstäbe aus ihren Behältern:
"Die Mauern sind über einen Meter dick und das Fenster hier, aus mit Blei versetztem Glas, ebenfalls. Es schützt sie vollständig vor den Strahlungen, die von den verbrauchten Brennstäben ausgehen. Natürlich wäre es völlig undenkbar, selbst in diese Zelle hineinzugehen. Sie sehen hier live, wie ein Brennelement entladen wird, es gibt keinen anderen Ort, wo man die Brennstäbe noch näher sehen könnte. " "
Der stellvertretende Direktor , der in den ersten 10 Jahre seines Berufslebens als Ingenieur auf Öltankern über die Weltmeere gefahren ist , hat 1986 hier angefangen, als einer von rund 300 Ingenieuren der Wiederaufarbeitungsanlage. An der Wand, links und rechts des Gucklochs, zeigt er einem zwei bewegliche Stahlarme, die an Dutzende Kabel und Schläuche angeschlossen sind. Die Griffe am Ende der Arme übertragen jede Bewegung einer menschlichen Hand auf die Roboter im Inneren der verstrahlten Zone - 250 dieser hochsensiblen Arbeitsplätze, sagt Eric Blanc, sind der Lebensnerv des gesamten Betriebs
" Wir haben hier schon ganz außergewöhnliche, völlig automatisierte Eingriffe gemacht. Wir haben Roboter in unzugängliche Bereiche gebracht und sie waren in der Lage, dort zu schneiden, zu fräsen oder zu schweißen. "
Der hoch gewachsene Mann mit blondem Haar hat diese Abteilung früher einmal selbst geleitet. Alle 3 bis 4 Jahre übernimmt man in La Hague eine neue Aufgabe. In welcher Abteilung man aber auch arbeite, meint er , als Ingenieur fühle man sich hier ständig gefordert:
"Die Vielfalt der Technik ist faszinierend. Wenn sie z.B. in der Abteilung arbeiten, wo Brennelemente chemisch aufgelöst werden , haben sie es mit Chemie zu tun , mit Mechanik, Hydraulik, Elektronik, mit der Technologie der Roboter oder mit speziellen Messsystemen . Jede Stunde, die man hier arbeitet, bringt einen mit einer anderen Spezialität in Berührung. / Ich empfinde schon eine gewisse Begeisterung für diese ganze Technologie, die die Menschen entwickelt haben und die man heute, alles in allem , beherrscht. Ja – man ist durchaus stolz darauf, an diesem Abenteuer beteiligt zu sein. "
Seine weiße Silhouette hebt sich ab gegen blau spiegelndes Wasser hinter ihm, im 100 mal 30 Meter großen Becken , das sie beschönigend "Schwimmbad" nennen. Darin warten hunderte, so genannte "Körbe", gefüllt mit den verbrauchten Brennstäben, bis die abgekühlt sind und weniger stark strahlen - fünf bis acht Jahre kann das dauern. Schmunzelnd verweist der stellvertretende Direktor auf die Rettungsringe, die entlang der Brüstungen hängen:
"Wir können hier 14 000 Tonnen Brennstäbe lagern. Ein Reaktor liefert 20 Tonnen pro Jahr, sie sehen also, wir haben hier ausreichend Lagerkapazitäten. Es ist für Frankreich und Europa sehr interessant, über einen zentralen Ort für die Lagerung zu verfügen. Lagern, das ist letztlich unser Beruf, und unsere ganze Aufmerksamkeit und unser Know How kommen diesem Beruf zu gute. " "
Man stutzt ein wenig. Eigentlich hatte man gelernt, eine Wiederaufarbeitungsanlage sei nicht in erster Linie zur Lagerung da, sondern um wieder verwertbare Brennstoffe herzustellen. Eric Blanc aber hastet weiter: das Herz der Anlage, wo die Brennelemente in Plutonium, Uran und hochradioaktive Spaltprodukte getrennt werden, ist nicht sichtbar . Man sieht auch nicht, wo die mindestens 50 Tonnen reines Plutonium gelagert sind, die sich im Werk inzwischen angesammelt haben
Durch eine Reihe schwerer, gesicherter Türen, vorbei an einem weiteren Guckloch , hinter dem bei 1100 Grad die Spaltprodukte in eine Glasgesteinmasse gegossen werden , hat einen der stellvertretende Direktor in eine Abteilung geführt, die einer riesigen Turnhalle gleicht , mit zahllosen kleinen Kreisen auf dem Boden. Unter jedem dieser Kreise lagern, aufeinander gestapelt und durch eine Bleikapsel gesichert in Stahlcontainern 9 Glaskokillen mit den hochradioaktiven Spaltprodukten
"Was davon aus dem Ausland kommt, wird nach und nach zurückgeschickt. Wir haben inzwischen rund 60% zurück verfrachtet, nach Belgien, Holland, in die Schweiz, nach Japan und Deutschland. Die französische Produktion bleibt so lange hier, bis im Land ein Endlager beschlossen und auch gebaut ist. Wir können hier 12 000 dieser Glaskokillen lagern und planen für die Zukunft, wenn nötig, auch eine Vergrösserung, denn die ist relativ leicht zu bauen. " "
Die Produktionskapazitäten in La Hague sind momentan nur zur Hälfte ausgelastet, die meisten ausländische Kunden schicken keine verbrauchten Brennstäbe mehr – die letzten aus Deutschland sind Ende 2005 gekommen . Doch es gehört nun mal zur Rolle eines stellvertretenden Direktors, positiv in die Zukunft zu blicken :
"Es stimmt, dass unsere Verträge mit dem Ausland zur Zeit etwas in der Talsohle sind, aber wir sind optimistisch. Die Amerikaner haben ihre Haltung, was die Wiederaufarbeitung angeht , geändert . Das wird in gewisser Weise befreiend wirken, was die Energiepolitik anderer Länder angeht: Taiwan, Südkorea, Südafrika. Die Belgier z.B. überlegen auch, was sie langfristig machen , und wir verhandeln auch mit ihnen. Wir sind also mittelfristig durchaus optimistisch, auch weiterhin europaweit und international zu arbeiten. " "
Am Ende der Wiederaufarbeitung bleiben 1% Plutonium , 4 % Spaltprodukte und - das größte Volumen- 95% Uran . Eric Blanc hat einem das mehrmals erläutert. Mit der Information konfrontiert, wonach der staatliche Elektrizitätskonzern EDF das hier wieder aufgearbeitete Uran in seinen AKW’s aber praktisch gar nicht mehr einsetzt, wechselt der stellvertretende Direktor schnell ein Blick mit dem Pressechef und spricht dann, bestens geschult, nur noch von dem neuen Brennelement , von MOX , der Mischung aus Plutonium und Uran , das bislang allerdings nur in 20 von 58 Reaktoren eingesetzt wird
"EDF verbraucht heute durchaus die Gesamtheit der MOX-Brennelemente, die wir produzieren. "
Kurz vor dem Ausgang noch ein Blick ins Kommandozentrum der Wiederaufarbeitungslage , das nach dem der NASA das weltweit zweitgrösste ist . Eric Blanc , der sich mit Radfahren fitt hält, gerne im Schwarzwald oder im Tannheimer Tal, hat sich wiederholt bemüht, die Plutoniumfabrik als eine Fabrik wie jede andere auch erscheinen zu lassen. Dem entsprechend versucht er dann noch ein letztes Mal das Prinzip der Wiederaufarbeitung auf den Punkt zu bringen:
"Jeder findet es normal, dass ein Auto, wenn es schrottreif ist , wiederverwertet wird , um daraus erneut Stahl zu gewinnen . Was wir hier tun, ist im Grunde nichts Anderes. Wir nehmen das Auto, ziehen den Stahl raus, legen Gummi zur Seite und um das Schädliche, um die Batterie, kümmern wir uns auch, indem wir sie konditionieren . "
Atomstrom galt in Frankreich lange als sauber, und bekommt im Zuge der Klimadebatte noch zusätzlichen Aufwind. Doch ist die Atomkraft auch weitgehend CO2-neutral und somit nicht klimaschädlich sind die radioaktiven Abfallprodukte aber extrem umweltschädlich. Die Wiederaufbereitung von Brennstäben entschärft die Situation nicht, denn das aufwendig zurück gewonnene Plutonium wird in der Praxis nur in geringen Mengen verwendet, darüber hinaus gibt es nach wie vor keine sichere Methode, um den strahlenden Sondermüll zu lagern. Ende 2004 zählt die staatliche Atommüllbehörde Andra in Frankreich gut eine Million Kubikmeter radioaktiven Müll, der größte Anteil liegt bei La Hague.
In diesem Sommer veröffentlichte das französische Labor ACRO die Ergebnisse einer Grundwasseranalyse: Rund um die Wiederaufbereitungsanlage ist das Wasser stark radioaktiv verseucht: die Tritiumwerte liegen bei 750 Becquerel/L, damit überschreiten sie den zulässigen europäischen Wert um mehr als das siebenfache! Eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Messung direkt an der Abwasserpipeline ergab einen derart hochkonzentrierten Cocktail an radiotoxischen Teilchen, das der Meeresboden eigentlich als radioaktiver Sondermüll entsorgt werden müsste. Die Kontamination der Krebse war so hoch wie nach einem nuklearen Großunfall. Trotz dieser Messergebnisse haben es Atomkraftgegner in dieser Region immer noch schwer:
Ein Leben gegen die Atomlobby - ein Lehrer kämpft mit Windmühlen
Didier Anger hat seinen alten Renault aus der Garage geholt, fährt murrend unter den Starkstromleitungen hindurch die 5 Kilometer zur Küste, in den kleinen, herausgeputzten Ort Flamanville. Hierher war er 1970, bevor das AKW gebaut wurde , gezogen , als junger Lehrer und engagierter Gewerkschafter . Umweltschutz und Ökologie waren damals für ihn fast Fremdwörter:
"Eines Tages wollten zwei Bekannte ein Flugblatt verteilen, vor einer öffentlichen Veranstaltung. . Die war zum Abschied des damaligen Direktors der Plutoniumfabrik in La Hague . Die Polizei hat sich diese zwei Atomkraftgegner geschnappt und sie auf dem Kommissariat so lange festgehalten, bis die Veranstaltung vorbei war . / Da hab ich mich gefragt: was ist denn das für eine Fabrik, damit die Polizei so reagiert. / Das war für mich der Auslöser . Ich hab mir gesagt, Atomkraft und Demokratie , das verträgt sich nicht. "
Durch die goldumrandete Brille wirft der inzwischen pensionierte Lehrer einen Blick hinunter auf die 1300 Megawattreaktoren des AKWs Flammanville :
"Heute stehen viele Autos auf dem Parkplatz. Das beutet, dass zur Zeit hier die Brennstäbe ausgewechselt werden. Alle 18 Monate macht man das. Dafür kommen dann Arbeiter von auswärtigen Firmen. Interessant ist: die Arbeiter dieser Privatunternehmen bekommen 3 Mal so viel Strahlung ab, wie die fest angestellten Arbeiter von EDF. "
In sein gutmütiges Gesicht haben sich Furchen gegraben . Schließlich hat Didier Anger seit über 3 Jahrzehnten jeden Kampf gegen die Atomkraft in diesem Landstrich mit gefochten, und die nächsten Auseinandersetzungen stehen schon bevor . Vom Uferweg entlang des Sicherheitszauns am AKW – Gelände sieht man auf den künftigen Bauplatz des neuen europäischen Druckwasserreaktors EPR .
" Man hört schon die Arbeiten. Offiziell arbeitet man noch nicht am Reaktor. Damit umgeht man die Bestimmungen, weil es offiziell noch kein Dekret gibt, das den Bau des Reaktors erlaubt. Man hat aber schon begonnen, die Baustelle für den künftigen EPR-Reaktor einzurichten. / Das ist das klassische französische Schema, an dem sich seit den 70-er Jahren nichts geändert hat. Die Atomkraft und EDF , das ist wie ein Staat im Staat und macht seine eigenen Gesetze. "
Didier Anger schiebt die Hände in die Taschen seiner abgewetzten Cordhose und blickt über die Bucht . Zur Rechten zeigt er auf die Strasse, die sie damals , Mitte der 70-er , vor Baubeginn des AKW’s Flamanville 4 Wochen lang blockiert hatten. Gegenüber, in 15 Kilometer Entfernung , leuchtet das Weiss der Wiederaufarbeitungsanlage oberhalb der märchenhaften Steilküste. . Der ehemalige Europaabgeordnete der Grûnen und langjährige Abgeordnete im Regionalparlament der Normandie ist das lebende Gedächtnis der Anti-AKW-Bewegung in der Region . Er weiß z.B. noch genau das Datum, der 6. Januar 81, als die Cogema nach einem Störfall auf dem Gelände der Wiederaufarbeitungsanlage die gesamte gemolkene Milch der Region aufgekauft und vernichtet hat . Trotz zunehmenden Alters ist er nicht konzilianter , ist seine Abneigung gegen die Atomlobby um keinen Deut geringer geworden
"" Schau’n sie sich doch diese Fabrik in La Hague da drüben an. Sie verfügt über mehrere Dutzend Tonnen Plutonium. Plutonium, das oft zu alt ist, um noch für Mox verwendet zu werden, das Brennelement, für das man Uran und Plutonium mischt. / Plutonium wird dort in kleinen Behältern von 2,9 Kilo aufbewahrt, denn je näher man der Menge von 5 oder 6 Kilo kommt, desto gefährlicher wird es. Fünf oder sechs Kilo, das ist schon die Bombe von Nagasaki. / Es heisst, das Plutonium lagert 25 Meter tief unter der Erde und die Leute, die es bewachen, seien bewaffnet. / Frankreich macht mit der Wiederaufarbeitung einfach weiter, das hat aber keinerlei wirtschaftliche Gründe, sondern man muss eben die Bombe bauen können. Das ist auch die französische Besonderheit im Vergleich zu Deutschland: die zivile Atomkraft war hierzulande immer mit dem militärisch - atomaren Komplex verschmolzen "
Didier Anger rümpft die Nase über die Heuchelei der Atomlobby, die von Transparenz rede, gleichzeitig aber die Veröffentlichung geheimer Dokumente über Atomkraftwerke strafrechtlich verfolgen lasse . So geschehen mit einem Schreiben, in dem es hiess, der neue EPR Reaktor würde einen Flugzeugabsturz nicht aushalten. Einer von Didier Angers Mitstreitern muss sich dafür gerichtlich verantworten. Und wenn der ehemalige Lehrer daran denkt, was die Öffentlichkeit alles nicht weiss, wird er fast wütend . Etwa, dass das wieder aufgearbeitete Uran vom AKW-Betreiber EDF in der Praxis gar nicht wieder verwendet wird und damit de facto ebenfalls radioaktiver Abfall ist:
" Es hat immer geheißen, man würde das Uran aus der Wiederaufarbeitung, immerhin 95% eines Brennstabes , wieder verwenden. Es gibt aber meines Wissens keinen einzigen Reaktor in Europa, der mit Uran aus der Wiederaufarbeitung funktioniert. In zwei Reaktoren im Rhone Tal hat man es versucht, das Experiment ist aber beendet. EDF will dieses Uran nicht haben, es ist nicht stabil genug / Die Atomlobby sagt immer: durch die Wiederaufarbeitung reduzieren wir das Volumen der atomaren Abfälle. Das ist aber reine Theorie und entspricht nicht der Realität."
In den 80ern hat Didier Anger auch gegen das Atommülllager direkt neben der Wiederaufarbeitungsanlage mobil gemacht , mit seinen 500 000 Kubikmetern radioaktiven Abfällen. Seit 1991 ist es geschlossen, der Atommüll zugeschüttet und die Anlage verschwindet nach und nach aus dem Bewusstsein der Bevölkerung. Didier Anger aber, mit seinem Elefantengedächtnis, hat nicht vergessen, unter welchen Bedingungen der Müll dort gelagert wurde:
"Zwischen 1967 und 78 hat man dort gemacht , was man wollte. Es gibt heute Behälter, die leck sind , es kommt immer wieder zu Verschmutzungen in den zwei kleinen Bächen, die in der Nähe des Lagers entspringen . 1976 gab es große Probleme mit Tritium und auch heute noch hin und wieder. Außerdem findet man Spuren von Plutonium und Ameritium . Die haben sich verhalten, wie eine Katze, die ihren Haufen im Garten macht, ihn dann mit Erde bedeckt und so tut, als gäbe es keinen Haufen . "
In dieser kleinen, ländlichen Region, in der rund 10.000 Arbeitsplätze von der Atomkraft abhängen , könnte man meinen , einer wie Didier Anger hätte nicht besonders viele Freunde. Doch letztlich scheint das Verhältnis der Menschen zu den Atomanlagen in ihrer Nachbarschaft ziemlich ambivalent zu sein :
"Die größte Angst der Menschen ist die vor der Arbeitslosigkeit, dann kommt die Angst vor der Atomkraft. Manchmal schlägt das aber auch um. Ich war 1997 Kandidat bei den Parlamentswahlen , in einem Wahlkreis , in dem die Wiederaufarbeitungsanlage, das Atommülllager und das AKW Flamanville liegen. Ich habe zwar verloren , aber im 2. Wahlgang 42 % der Stimmen bekommen. Das heißt, im Geheimen sagen sich die Leute durchaus, vielleicht ist es eine gute Vorsichtsmassnahme, einen Abgeordneten zu haben , der der allmächtigen Atomkraft in der Region kritisch gegenüber steht. "
Ein halbes Leben lang hat Didier Anger gegen die Atomlobby angekämpft, verhindern konnte er nichts , auch nicht das neueste Projekt, den EPR – Reaktor . Nun koordiniert er in den nächsten Monaten zumindest den Widerstand gegen die geplante 3. Hochspannungsleitung, die von hier aus in die Bretagne führen soll – aufgeben will er keinesfalls
"Ich bin nicht resigniert und denke auch nicht, dass das alles nutzlos war. Denn selbst Leute hier , die für die Atomkraft sind, sagen ab und an: Gott sei Dank ist der Anger da , sonst wär’s noch schlimmer. Nein - wir sind hier an der Front. Ich sitze dabei tatsächlich ein wenig in der Falle . Aber würde ich weggehen, würde man das als Fahnenflucht ansehen - und das ist unmöglich. "
Durch einen Bruch im Primärkreislauf des Kühlsystems tritt im AKW nah bei Paris Radioaktivität aus. Und der Wind steht ungünstig!
Tschernobyl sur Seine, heißt der Roman von Helen Crie:
Industrieminister Pierre-Alain Chevelin geht auf heißen Kohlen . Man wird gut kalkulieren müssen beim Umgang mit der Presse, damit sie einen nicht verdächtigen, Informationen zurückzuhalten. Aber wie soll man die Panik aufhalten, wenn man die Auskünfte, die man Journalisten gibt, nicht ein wenig siebt ?
Der stellvertretende Direktor des Atomkraftwerks kommt noch einmal auf den Unfall in Tschernobyl zu sprechen, der in dieser Nacht wahrlich immer wieder eine Referenz ist.
" Wir sind hier nicht in der Ukraine. Es wird unmöglich sein, ein totales Verbot zu rechtfertigen, sich dem Kraftwerk zu nähern"
" Gewiss", sagt Professor Faucon, man darf sicher sein, dass die Journalisten durch die Maschen der Gendarmerie schlüpfen werden. Die Schlauesten werden den Wetterbericht konsultieren, um die gefährlichsten Zonen zu meiden, aber einige Dummköpfe werden mitten durchfahren. Es wäre besser, sie zu kanalisieren und sie an einen Ort zu bringen, der von den Strahlen nicht erreicht wurde , von dem aus man das Werk gut sieht, aber nicht zu nahe und aus einem Winkel, der es unmöglich macht, all das zu sehen, was man im am meisten betroffenen Bereich wird tun müssen .
" Ich fürchte, dass die Reaktionen der Öffentlichkeit weit über das hinausgehen, was wir uns vorstellen können, fuhr Pierre Faucon fort. Wir können nicht auf ein gemässigtes Verhalten der Medien setzen. Wir müssen vorgreifen, ich weiss nicht, für ein Ereigniss sorgen, das den extremen Massnahmen, die ergriffen werden müssen, die Schärfe nimmt ."
" Das geht über meine Zuständigkeiten", sagt Favart vom Atomenergiekommissariat, " aber es wäre nicht schlecht zu zeigen, dass man die Situation schon einigermaßen unter Kontrolle hat. Wenn wir es schaffen, die Radioaktivität zu fixieren, könnte man dem Präsidenten der Republik vorschlagen, nach Nogent zu kommen, um die öffentliche Meinung zu beruhigen".
" Ich hab besseres zu tun , als ein Spektakel zu organisieren " warf Laurent Rolant ein .
"Favarts Überlegung verdient es, dass man sie vertieft, antwortete der Minister ruhig.
" Sie haben recht, Herr Minister , warf Professor Faucon voller Gemeinheit ein , " jedem seine Rolle. Mir scheint es am vernünftigsten, wenn ein Mitglied der Regierung den Weg weist.
Als zuständiger Minister für EDF, den Betreiber , und für das Atomenergiekommissariat, das ihnen in Sicherheitsfragen sekundiert, kommt ihnen die Ehre zu . "
" Ihr Vorschlag ist exzellent" antwortete er " aber ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, das politisch ausschlachten zu wollen. Zweifelsohne ist der Präsident , von seiner Funktion her , der einzige Politiker , der jetzt über der Politik steht. Wenn er kommt, löst das keine Hintergedanken aus. Und - ich möchte hinzufügen : wenn ich mich recht erinnere, hat sich nach dem Unfall in Three Misle Island Präsident Carter persönlich vor Ort begeben und nicht irgendein Industrieminister.
Nach dem zweiten Weltkrieg lebten die Menschen in der Region Cotentin fast ausschließlich von ihren kleinen Bauernhöfen oder vom Fischfang. In diese bescheidene Welt brach Anfang der 60ger Jahre die Atomkraft ein. Und mit der Atomkraft kamen die Arbeitsplätze. Inzwischen sind es rund 10.000!
Einer, der damals wie heute von seinem kleinen Bauernhof lebt, ist der 76 jährige Paul Bedel. Auf seine alten Tage ist der Bauer noch ein Star geworden, als Hauptdarsteller in einem Dokumentarfilm, denn er schlägt die Butter noch mit der Hand. Der Film läuft seit dem Sommer in allen Kinos der Normandie und bricht alle Zuschauerrekorde. Und Paul Bedel? Er lebt immer noch auf seinem kleinen Hof nur fünf Kilometer entfernt vor der Plutoniumfabrik:
Der letzte Bauer vor der Atomanlage
Monsieur Paul nimmt die Kappe ab und wischt sich gemächlich den Schweiß von der Stirn, auf seinem Feld hinter den für die Gegend typischen, hüfthohen Steinmauern. Ein Feld, das die Ausmaße eines größeren Gartens hat und auf dem er gerade das karge Getreide bindet, das jetzt, da er die Landwirtschaft aufgegeben hat, nur noch den Hühnern zu gute kommt.
Beim Betreten seines Hauses aus schweren, grauen Granitsteinen mit leicht rötlichem Einschlag, muss man den Kopf einziehen.
Monsieur Paul ist die Güte selbst. So vorsichtig, wie er sich bewegt, spricht er auch , häufig von sich selbst in der 3. Person, als wollte er sich zurücknehmen, noch bescheidener erscheinen, als er ohnehin schon ist . Sein ganzes Leben hat der Bauer nach dem Prinzip gehandelt, der Erde nur so viel zu nehmen, wie er wirklich brauchte
"Uns ging es gut so. Ich sagte mir, es ist nicht nötig, etwas zu ändern, wir hatten auch so ausreichend zum Leben, machten es wie früher, ohne Kredit. Hätte ich was ändern wollen, hätte ich sofort viel mehr Kühe haben müssen und das hätte eine ganze Reihen von Dingen nach sich gezogen. Da hätte ich Kredite aufnehmen müssen. Mein Vater hatte mir aber gesagt: Kredite, das ist schön und gut, aber man muss aufpassen. Und ich hab’ mir immer gesagt, es ist das Beste, nach seiner Methode weiterzumachen. Wir hatten alles, was wir brauchten, wir lebten autark. Ich hab immer die frage gestellt: einer der 20 Eimer Milch melkt, wie viele davon hat er wirklich für sich? Wir melkten 4 Eimer, und die vier, die hier in den Hof hereinkamen, waren auch wirklich unsere. "
Monsieur Paul reibt sich die unverhältnismäßig großen, immer noch muskulösen Hände. Geheiratet hat er nie, eben so wenig, wie seine beiden Schwestern, die mit ihm auf dem Hof leben. Als der Vater gestorben sei, habe er auf sein persönliches Leben verzichtet, sagt er fast feierlich, um das Werk des Vaters fortzuführen. Bis zuletzt, vor wenigen Jahren, hat der untersetzte Mann mit den hängenden Schultern Butter mit der Hand geschlagen, auf alle chemischen Hilfsmittel verzichtet und sich mit einen kleinen Traktor begnügt, der aus dem Jahr 1937 stammte. Hart war es am Ende, die 15 Melkkühe weg zu geben :
"" Die Kühe waren unsere Gefährtinnen. Es waren ja die kleinen Kälber, die wir groß gezogen haben. Und vor allem: es war der Stamm des Vaters und der Mutter, jeder hatte seine Kühe mitgebracht, als sie geheiratet hatten und wir hatten bis zuletzt immer die gleiche Rasse behalten. Am meisten weh getan hat mir, dass mein Vater mir seinen Stamm anvertraut hat und ich den niemandem weitergeben konnte. Die Kühe wurden abgeholt, ich wollte gar nicht wissen wohin. "
Mit bedächtiger Geste nimmt er die Brille ab , wenn er sich erinnert, wie er Anfang der 60-er Jahre reagierte , als es plötzlich hieß, eine Fabrik solle gebaut werden, hier in seiner unberührten Welt , vielleicht sogar auf seinem Grund :
"Sie haben sie dann aber da oben hingebaut. Das war vielleicht eine Frage des Windes, weil es da oben noch mehr Wind gibt als hier, - vielleicht. Als sie angefangen haben die Fabrik zu bauen, hat mir das persönlich wehgetan. In meinen Augen war das wieder eine Zerstörung der Felder. Ich sag es ihnen nicht gerne, aber für mich war es eine Zerstörung, wie ich sie schon zwischen 39 und 45 erlebt hatte. Ich hoffe, das schockiert sie nicht. Als die deutschen Truppen ankamen, sind sie in unserem Feld gewesen und haben es für immer zerstört. Das hat uns in der Brust einen richtigen Riss gegeben . Und beim Bau der Fabrik hab ich mir gesagt, jetzt geht das noch mal los. Ich hatte immer diesen Gedanken an die Erde, die einen ernährt. Und am Anfang, da sagte man einem ja nichts. Wir wussten nichts . Eine Fabrik für Elektromotoren sollte es werden, hieß es zunächst . " ( am Ende Lachen ) "
Monsieur Paul , der von seinem Haus aus das wütende Meer und den Leuchtturm an der Spitze der Halbinsel Cotentin sehen kann, hat sich inzwischen, wie so viele hier, mit der Plutoniumfabrik oben auf dem Plateau abgefunden:
"Später hat uns die Fabrik viel gebracht. Bevor die Fabrik da war, gingen doch alle weg. So aber blieb die Bevölkerung und andere Arbeiter kamen dazu. Auch denen konnten wir unsere Produkte verkaufen . "
Nur vier Mal in seinem Leben hat der 76 Jährige das Dorf hier oben verlassen : das erste Mal, als er Ende der 40-er Jahre zur Armee musste, ausgerechnet ins ferne Strassburg und später noch drei Mal zu Wallfahrten nach Lourdes . Die Wiederaufarbeitungsanlage, die der streng Gläubige nie betreten hat, vergleicht er heute, fast spitzbübisch, mit seinen geliebten Vierbeinern. Die Fabrik, sagt Monsieur Paul und lacht dabei in sich hinein, sei doch eine gute Melkkuh für die gesamte Umgebung hier
David nimmt das Radio ins Badezimmer mit und gießt sich kaltes Wasser ins Gesicht.
" Straßensperren sind im Osten von Nogent errichtet worden. Die Bundesstrasse 19 ist kurz vor der Stadt gesperrt und macht den Zugang zur Unterpräfektur des Departements unmöglich. Der Kabinettschef der Präfektur in Troyes hat gesagt, dass in den Dörfern, die unter der radioaktiven Wolke liegen , Ausgehverbot besteht. In Nogent selbst hat die Feuerwehr um 2 Uhr morgens begonnen, eine Sicherheitszone einzurichten. Glaubt man ersten Messergebnissen, so ist nicht die gesamte Stadt von radioaktiven Niederschlägen betroffen. "
David Mann geht zum Schrank, zieht irgendwelche Schuhe an , es sind Sandalen , verzichtet auf das Frühstück, schnappt sich einen Parka und schliesst die Tür hinter sich.
" Haben sie Details über die verseuchten Zonen " , fragt er den Bürgermeister.
" Die Feuerwehr sagt, diese Seine Seite sei letzte Nacht nicht unter dem Wind gewesen, der vom Atomkraftwerk her wehte. Im Prinzip gibt es hier keine Gefahr. Aber ich ziehe es vor, dass momentan niemand auf den Strassen verweilt. Zumal die Präfektur die Evakuierung der anderen Stadthälfte ins Auge fasst. Auf , gehen sie , wir haben zu tun . "
Der Bürgermeister erhebt sich langsam von seinem Stuhl; Er drückt die Stirn gegen die Fensterscheibe und schaut die Rue Saint Laurent hinunter . Trotz aller Warnuingen der Lautsprecherwagen, haben Bewohner ihre Häuser verlassen. Vor dem Rathaus wird eine Ansammlung von Menschen von Minute zu Minute grösser. Von seinem Büro aus erkennt er die Mutter Germaine, Madame Simone und ihre Tochter Arlette die für die Bürger von Nogent eine Art Konferenz abhalten, wobei in den Gesichtern der Bürger absolutes Erstaunen zum Ausdruck kommt. Drei Männer gehen weg und kommen in die Vorhalle des Rathauses.
" Himmel noch mal" wettert der Bürgermeister an seinen Sekretär gewandt, warum hat niemand daran gedacht, die Tür abzuschliessen ? Wie soll man unter solchen Bedingungen arbeiten? "
Der Cafehausbesitzer aus der Rue du Lion d’Or, der Hotelier aus der Rue des Fossés und ein dem Bürgermeister unbekannter Mann stehen schon im Raum , ohne angeklopft zu haben.
" Was soll diese Geschichte ? Das Kraftwerk ist explodiert? Wir haben nichts gehört. Und jetzt hindern uns die Gendarmen daran, über die Brücken zu fahren. "
" Haben sie die Lautsprecherwagen nicht gehört" fragt der Bürgermeister ganz sanft. Sie täten besser daran nach Hause zu gehen und Radio zu hören. Im Lokalradio wird mein Stellvertreter in ein paar Minuten eine erste Bilanz bekannt geben. "
1997 wiesen zwei französische Wissenschaftler den Zusammenhang nach zwischen den radioaktiven Abwässern bei La Hague und der erhöhten Leukämierate bei Kindern und Jugendlichen. Im Umkreis von 35 Kilometern, ist laut der Studie, die Blutkrebsrate um den Faktor drei höher im Vergleich zum Landesdurchschnitt. Jean Francois Viel, Professor an der Uni Besancon, war einer der Köpfe der Studie von La Hague, seine Ergebnisse wurden kurz darauf angezweifelt. Doch Untersuchungen anderer Strahlenbiologen bei der Wiederaufbereitungsanlage in Sellafield kamen zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch im Umkreis dieser Anlage ist die Rate von Leukämie und Totgeburten erhöht.
Anderer wissenschaftliche Untersuchungen ergaben eine Korrelation zwischen dem Blutkrebsrisiko und dem Verzehr von Meeresfischen bei La Hague. Sogar die Aufenthaltsdauer am Strand erhöhte demnach das Krebsrisiko.
Seit acht Jahren kämpfen nun viele Mütter auf der Halbinsel, gegen die Geheimniskrämerei der Betreiberfirma:
Die wütenden Mütter
Mädchenhaft zierlich, in engen Jeans und T- Shirt , geht Nathalie Garnier durch das Theatercafé von Cherbourg - die Enddreißigerin hat einen neutralen Ort als Treffpunkt vorgezogen . Sie sieht ein wenig müde und abgespannt aus - vielleicht, sagt man sich, sind es die Spuren der jetzt seit 8 Jahren andauernden Auseinandersetzung mit der übermächtigen Wiederaufarbeitungsanlage, die auch sie nur mit dem alten Namen der Betreiberfirma als " COGEMA" bezeichnet. Vor der Schule ihrer beiden, damals sieben und vierjährigen Töchter, hat sie mit einigen anderen Frauen die Bewegung der " Wütenden Mütter" ins Leben gerufen. Als Mütter waren sie schockiert von der Art und Weise, wie die COGEMA auf die wissenschaftliche Studie von Professor Viel reagierte:
"Die Cogema hat sofort die wissenschaftliche Qualität der Arbeit von Professor Viel in Frage gestellte und alles en bloc abgestritten, ohne weitere Erklärungen. Diese Art zu reagieren löste bei uns wirklich Wut aus, das war sehr spontan . In einer Zeitung stand dann auch noch der Titel : "Cogema hält die Studie für absurd" . Absurd - dieses Wort war letztlich der Auslöser für unsere Bewegung. / Das Ganze hat einen Bewusstwerdungsprozess in der Region ausgelöst. Wir haben Unterschriften auf den Märkten gesammelt und forderten einfach mehr Informationen. Und wir merkten, dass wir sehr viele waren, die sich die gleichen Fragen stellten. Wir haben 5000 Unterschriften gesammelt, was für die Region sehr viel ist ."
Es war die erste Initiative überhaupt in über 30 Jahren, die unabhängig von Parteien oder Anti-Atom-Bewegung , hier auf der Halbinsel Cotentin die Stimme erhob gegen die Atomwirtschaft. Mit der Zeit fing man dann an, uns Mütter ernst zu nehmen, erinnert sich Nathalie Geismar. Cogema und staatliche Gesundheitsbehörden waren letztlich gezwungen zu reagieren, Kommissionen und Arbeitsgruppen wurden gebildet, an denen der Verein der "Wütenden Mütter" beteiligt war.
Die Geheimniskrämerei habe seitdem etwas abgenommen, meint sie und bindet ihr glattes, blondes Haar zu einem Pferdeschwanz. Doch wirklich beruhigt sind Nathalie Geismar und ihre Mitstreiterinnen auch nach acht Jahren nicht, selbst wenn sie heute wissen, dass die etwas höhere Zahl von Leukämie bei Kindern in der Region nicht wirklich signifikant ist:
"Wir warten immer noch auf durch Zahlen belegte Ergebnisse über die tatsächlichen Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und vor allem der Kinder hier . Es gibt inzwischen zwar ein Register über Krebs in der Region, das angeblich funktioniert, von dem man aber kaum was hört. Wir wissen inzwischen auch , dass es keine übermäßige Zahl von Leukämiefällen gibt. Aber wir haben nie Zahlen bekommen, was andere , durch Strahlen verursachte Krankheiten angeht , dabei wissen wir, dass es Anomalitäten gibt. / Es gibt Fälle, die die akzeptablen Werte überschreiten und man hat keine wirkliche Erklärung dafür: Missbildungen bei Neugeborenen, Schilddrüsen – und Lungenkrebs . Und was die Arbeiter in der Wiederaufarbeitungsanlage betrifft, da herrscht immer noch das Gesetz des Schweigens. Es gibt keine echte Statistik über den Gesundheitszustand der Arbeiter bei COGEMA . Die Arbeitsmedizin im Betrieb ist zwar sehr aktiv , aber alle Dokumente bleiben strikt intern , die Informationen zirkulieren nicht. Die wenigen Arbeiter, die sich dazu öffentlich geäußert haben, wurden sofort kaltgestellt und gleichzeitig gibt es immer mehr Teilzeitarbeiter, die ständig wechseln ."
Die selbstbewusste junge Frau blickt ein wenig versonnen an die Stuckdecke des Cafes. Letztlich seien die jahrelangen Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern der Atomkraft immer sehr offen und tolerant verlaufen, sie und ihre Kinder seien nie von anderen Mitbürgern wegen ihres Engagements angegriffen worden und auch sie urteilt nicht über diejenigen in der Region, die der Atomindustrie positiv gegenüber stehen :
"Es ist kompliziert, denn die Atomwirtschaft bringt ein enormes finanzielles Manna, sie ist überall präsent, in allen Sport – und Kulturvereinen und bei allen Infrastrukturmaßnahmen. Man hat hier Bedürfnisse geschaffen, die es früher gar nicht gab. Jede Gemeinde hat ihr Schwimmbad, es gibt hier 25 Fußballstadien, die Strassen hat man fast zu Autobahnen ausgebaut - das wird alles zu reich. " "
Bei aller Energie, die sie verstrahlt, hin und wieder vernimmt man aus Nathalie Geismars Worten auch so etwas wie Resignation , etwa wenn sie darüber spricht , dass in Flamanville jetzt auch noch der EPR , der neue europäische Druckwasserreaktor gebaut wird :
"Die atomare Monoindustrie, das ist doch kein Reichtum . Wir hätten so viele andere Trümpfe hier, um diese Region wirtschaftlich voran zu bringen. Der EPR aber wird uns noch mehr zum Gefangenen der bisherigen Logik machen und die Ausbreitung der Atomanlagen, das ist wirklich etwas Unerträgliche . / Wir haben hier keine Phantasie mehr , man wartet darauf , was die Atomindustrie entscheidet, alle hängen an ihren Lippen und es fehlt ein echter Wille, hier wirklich andere wirtschaftliche Aktivitäten zu entwickeln . "
La Hague ist der nördlichste Teil der Halbinsel Cotentin im Westen Frankreichs, ein mehr als 100 Meter hohes Plateau, das zu allen Seiten steil zum Meer abfällt.
Eine Landschaft von wilder Schönheit, eine Landschaft, in der sich die Atomanlagen so dicht konzentrieren wie nirgendwo sonst in Europa: Hier steht die größte atomare Wiederaufbereitungsanlage der Welt, direkt daneben ist ein Atommülllager, dessen Ausmaße wahrscheinlich nicht mal die staatliche Energiebehörde EDF kennt. Nur 15 Kilometer südlich davon stehen die zwei Reaktoren des Atomkraftwerks Flamanville. Für ein AKW der dritten Generation –den EPR - werden hier schon die Fundamente gegossen. Im Osten von La Hague, nur 20 Kilometer weiter bei Cherbourg, werden Frankreichs atomgetriebene U-Boote gebaut.
Monique Prunier, leitet des Fremdenverkehrsamtes in Beaumont-Hague, der Gemeinde, in der die Wiederaufbereitungsanlage steht. Atomindustrie und Tourismus schließen sich für sie nicht aus:
Strahlender Tourismus - Die Leiterin des Fremdenverkehrsamt
Es ist, von den Landschaften her, eine charakterstarke Region. Die Küste ist extrem zerklüftet und sehr hoch. Wir sind hier 128 Meter über dem Meer. Der Westwind ist dominierend und stark . Ich sage oft: wenn ich meine Fenster aufmache, ist gegenüber Kanada, 6000 Kilometer jodhaltige Luft kommen uns ins Haus. Der Landstrich wurde von unzähligen Bächen geformt , die Täler zum Meer hinunter sind tief eingeschnitten und stehen im Kontrast zur kargen Küste . Es gibt kaum mal Frost hier , es wird nie sehr heiss und wo es windgeschützt ist, wächst wirklich alles. Wir haben wunderschöne Gärten und den nördlichsten Palmenhain Europas.
Monique Prunier ist in ihrem Element. Von der Region hier zu schwärmen gehört zu ihrer Arbeit. In ihren weiten Kleidern vermittelt sie den Eindruck einer jung gebliebenen , aktiven Großmutter , die bei einem Kirchengemeindeausflug der Senioren nicht auffallen würde . Sie verlässt das Fremdenverkehrsamt direkt neben dem Rathaus von Beaumont Hague und steuert ein Büro im Nebengebäude an. Ihr Credo, das sie seit 10 Jahren allerorts herbetet, hat sie jetzt bereits zwei Mal an den Mann gebracht: " La Hague, das ist nicht die Plutoniumfabrik, La Hague, das ist ein Landstrich." La Hague ist auf jeden Fall ihr Land, wo der Urgroßvater Tagelöhner, der Großvater Leuchtturmwächter war. Es ist , als wollte die Frau mit den wachen und zugleich skeptischen Augen durch ihr Engagement für den Tourismus die Gegend hier reinwaschen von der Schmach, die ihr Atomkraftgegner zugefügt haben:
"Es gab in den Jahren 96 / 97 hier eine neue Welle der Antiatombewegung und ich habe es nicht ertragen, wie man mein Land hier attackiert hat. Das kam wirklich aus dem Bauch heraus. Es war für mich so, als würde man meine Kinder angreifen."
Die damals in Frankreich und darüber hinaus verbreiteten Lügen, so sagt sie, die Übertreibungen , die Ungenauigkeiten über Gefahren und Verstrahlung in der Region seien ihr im Hals stecken geblieben . Dagegen musste sie etwas tun und beschloss, das Kunststück fertig zu bringen, den Fremdenverkehr in der Region zu beleben, auch wenn die weltweit größte Atomanlage vor der Haustür liegt:
"Diese größte Atomanlage ist nur 245 Hektar groß, der gesamte Landstrich umfasst 30.000 Hektar – da bleibt noch viel zu erkunden, ohne dass man die Fabrik überhaupt mit eigenen Augen sieht. Wir haben hier die ältesten Steilküsten Europas, die sind 2 ½ Milliarden Jahre alt. Sehen sie, die Zeit vergeht und die Fabrik wird auch vergehen. Man muss nur über die Atomschranke im Kopf der Leute wegkommen .Und dabei, auch wenn das zynisch klingt, sind uns andere Umweltkatastrophen eine grosse Hilfe , denken wir nur an die Rinderseuche . Die Menschen werden sich bewusst, dass Verschmutzung im 21. Jahrhundert leider allgegenwärtig ist. Wir hier tragen dazu bei, aber andere auch."
Man muss der frühpensionierten Volksschullehrerin die Liebe zu diesem Landstrich einfach abnehmen. Eine Liebe, die so stark ist , dass die Fremdenverkehrschefin manchmal den Kopf sehr tief in den Sand steckt:
"Ich habe gesehen, wie man die ersten Gräben ausgehoben hat und dann das erste kleine Gebäude entstand und dann ein zweites. Ich sage den Touristen immer : wir hier akzeptieren die Fabrik, weil wir gesehen haben, wie sie heranwuchs . Sie ist nicht von einem Tag auf den anderen über uns hereingebrochen, das ging nach und nach und wir haben uns daran gewöhnt. Seit 40 Jahren fahre ich jeden Tag an der Fabrik vorbei. Am Anfang hat hier ja auch niemand verstanden, was das ist und was das werden sollte. Mit der Zeit aber haben wir es richtiggehend bewundert, denn immerhin waren wir hier dank dieser Fabrik weltweit an der Spitze der Technologie. "
Eines ist sicher: so lange Monique Prunier hier ist, wird man ihren Landstrich, La Hague , nicht unwidersprochen schlecht reden . Sie selbst hat nach dem Krieg noch wegziehen müssen , um Arbeit zu finden , heute sind zwei ihrer drei Kinder in der Region beschäftigt, dank der Atomindustrie . Und, so lacht sie, man solle doch mal versuchen, hier ein Haus zu kaufen. Die Immobilienpreise seien gesalzen, und das sei doch wohl ein Beweis dafür , dass bei weitem nicht alle Angst hätten vor der Atomkraft
Was wäre wenn in einer Nacht von Freitag auf Samstag, vom 6. auf den 7.Dezember 1990 im Atomkraftwerk Nogent sur Seine massiv Radioaktivität austritt. Wenn der Gau nicht in der Ukraine, sondern in Frankreich passiert wäre?
Helen Crie hat diesen Gedanken in ihrem Buch "Tschernobyl sur Seine" durchgespielt:
"Laurent Rolant geht ein Schauer über den Rücken. Der Alarm, den er gerade gehört hat, wurde von einer Messtange ausgelöst, die 20 Meter entfernt ist, er kann sie durch die Fensterfront deutlich erkennen. Die Büros im Verwaltungsgebäude dürfen nicht benutzt werden, wenn das Gelände kontaminiert ist. Rolant wird in den Sicherheitsblock umziehen müssen.
Roland Laurent ist weder ein Feigling, noch ein Anfänger. Trotzdem verflucht er das Schicksal, das ihn in dieser Situation zum einzigen Kapitän an Bord macht, während sein Direktor am Vorabend nach Maryland in den USA abgereist ist , zu einem Kongress über Nuklearsicherheit. Die Franzosen geniessen hohes Ansehen in der Atomindustrie. Ihre Technologie ist auf Topniveau. Der stellvertretende Direktor kann ein Kichern nicht unterdrücken.
Bevor er sich in den Sicherheitsblock zurückzieht, drückt Laurent Rolant auf den Knopf, der den vor aufgezeichneten , automatischen Anruf auslöst :
" Dringend ! Das Personal des Kraftwerks wird gebeten, sich im Eingangsgebäude zu versammeln. Der interne Notplan ist ausgelöst "
Keine Details . Der Nachricht ist nicht zu entnehmen, ob die Atomanlage verstrahlt ist oder nicht. Das Telefon klingelt jetzt in über 300 Häusern in 20 Kilometern Umgebung. Die 80 Angestellten, die in dieser Nacht abrufbereit sind, wird der Mobilisierungsbefehl auf jeden Fall erreichen. Alle anderen, wenn sie zu Hause sind und Lust haben, das Haus zu verlassen, werden die Wachmannschaften verstärken."
An Frankreichs Flüssen und Küsten produzieren die 58 Atommeiler über 80 Prozent des Stroms. Doch diese Investitionspolitik, des zentralistischen Stromgigant, EDF, rächt sich, denn die Versorgungssicherheit ist im Zuge des Klimawandels auch nicht mehr gegeben: Durch den niedrigen Wasserstand in Frankreichs Flüssen mussten im Sommer 2003 und in diesem Sommer mehrer Meiler runtergefahren werden: die Grenzwerte für die Aufheizung des Kühlwassers wären sonst überschritten worden. Frankreich musste Strom aus den Nachbarländern hinzukaufen!
Eigentlich kommt sonst kein Strom aus den Nachbarländer, sondern Atommüll. Fast täglich rollen die 110 Tonnen schweren Castor-Behälter auf Tiefladern in Richtung La Hague. Jährlich können hier 1 600 Tonnen atomare Brennstäbe wiederaufbereitet werden. In einem chemischen Verfahren wird noch spaltbares, hochgiftiges Plutonium und Uran aus den Brennelementen abgetrennt. Dabei entsteht allerdings zusätzlicher radioaktiver Müll, und bei alldem ist die Frage nach der Endlagerung des Atommülls immer noch ungeklärt. Eine Frage, an der sich der stellvertretende Direktor der Wiederaufbereitungsanlage, Eric Blanc, gar nicht erst versucht:
Der Stellv. Direktor und seine Anlage
Im weißen Schutzanzug , aber mit Krawatte, sportlich-dynamisch , nach allen Seiten grüssend, bewegt sich Eric Blanc durch die endlosen Gänge der Anlage , sekundiert von Pressechef und Assistentin. . Der Mittfünfziger hatte vor dem Werk UP 3 schnell auf einen entladenen Kastorbehälter gezeigt, der da einsam auf den Schienen stand und auf ein Massiv verblühter Hortensien , das das Fundament der Fabrikhalle verdeckt und dann, fast im Laufschritt , die Eingangstür zur Abteilung aufgestossen, in der die Wiederaufarbeitung beginnt . Hinter der orangefarbene Scheibe eines Gucklochs zieht gerade ein Roboter die meterlangen, verbrauchten Brennstäbe aus ihren Behältern:
"Die Mauern sind über einen Meter dick und das Fenster hier, aus mit Blei versetztem Glas, ebenfalls. Es schützt sie vollständig vor den Strahlungen, die von den verbrauchten Brennstäben ausgehen. Natürlich wäre es völlig undenkbar, selbst in diese Zelle hineinzugehen. Sie sehen hier live, wie ein Brennelement entladen wird, es gibt keinen anderen Ort, wo man die Brennstäbe noch näher sehen könnte. " "
Der stellvertretende Direktor , der in den ersten 10 Jahre seines Berufslebens als Ingenieur auf Öltankern über die Weltmeere gefahren ist , hat 1986 hier angefangen, als einer von rund 300 Ingenieuren der Wiederaufarbeitungsanlage. An der Wand, links und rechts des Gucklochs, zeigt er einem zwei bewegliche Stahlarme, die an Dutzende Kabel und Schläuche angeschlossen sind. Die Griffe am Ende der Arme übertragen jede Bewegung einer menschlichen Hand auf die Roboter im Inneren der verstrahlten Zone - 250 dieser hochsensiblen Arbeitsplätze, sagt Eric Blanc, sind der Lebensnerv des gesamten Betriebs
" Wir haben hier schon ganz außergewöhnliche, völlig automatisierte Eingriffe gemacht. Wir haben Roboter in unzugängliche Bereiche gebracht und sie waren in der Lage, dort zu schneiden, zu fräsen oder zu schweißen. "
Der hoch gewachsene Mann mit blondem Haar hat diese Abteilung früher einmal selbst geleitet. Alle 3 bis 4 Jahre übernimmt man in La Hague eine neue Aufgabe. In welcher Abteilung man aber auch arbeite, meint er , als Ingenieur fühle man sich hier ständig gefordert:
"Die Vielfalt der Technik ist faszinierend. Wenn sie z.B. in der Abteilung arbeiten, wo Brennelemente chemisch aufgelöst werden , haben sie es mit Chemie zu tun , mit Mechanik, Hydraulik, Elektronik, mit der Technologie der Roboter oder mit speziellen Messsystemen . Jede Stunde, die man hier arbeitet, bringt einen mit einer anderen Spezialität in Berührung. / Ich empfinde schon eine gewisse Begeisterung für diese ganze Technologie, die die Menschen entwickelt haben und die man heute, alles in allem , beherrscht. Ja – man ist durchaus stolz darauf, an diesem Abenteuer beteiligt zu sein. "
Seine weiße Silhouette hebt sich ab gegen blau spiegelndes Wasser hinter ihm, im 100 mal 30 Meter großen Becken , das sie beschönigend "Schwimmbad" nennen. Darin warten hunderte, so genannte "Körbe", gefüllt mit den verbrauchten Brennstäben, bis die abgekühlt sind und weniger stark strahlen - fünf bis acht Jahre kann das dauern. Schmunzelnd verweist der stellvertretende Direktor auf die Rettungsringe, die entlang der Brüstungen hängen:
"Wir können hier 14 000 Tonnen Brennstäbe lagern. Ein Reaktor liefert 20 Tonnen pro Jahr, sie sehen also, wir haben hier ausreichend Lagerkapazitäten. Es ist für Frankreich und Europa sehr interessant, über einen zentralen Ort für die Lagerung zu verfügen. Lagern, das ist letztlich unser Beruf, und unsere ganze Aufmerksamkeit und unser Know How kommen diesem Beruf zu gute. " "
Man stutzt ein wenig. Eigentlich hatte man gelernt, eine Wiederaufarbeitungsanlage sei nicht in erster Linie zur Lagerung da, sondern um wieder verwertbare Brennstoffe herzustellen. Eric Blanc aber hastet weiter: das Herz der Anlage, wo die Brennelemente in Plutonium, Uran und hochradioaktive Spaltprodukte getrennt werden, ist nicht sichtbar . Man sieht auch nicht, wo die mindestens 50 Tonnen reines Plutonium gelagert sind, die sich im Werk inzwischen angesammelt haben
Durch eine Reihe schwerer, gesicherter Türen, vorbei an einem weiteren Guckloch , hinter dem bei 1100 Grad die Spaltprodukte in eine Glasgesteinmasse gegossen werden , hat einen der stellvertretende Direktor in eine Abteilung geführt, die einer riesigen Turnhalle gleicht , mit zahllosen kleinen Kreisen auf dem Boden. Unter jedem dieser Kreise lagern, aufeinander gestapelt und durch eine Bleikapsel gesichert in Stahlcontainern 9 Glaskokillen mit den hochradioaktiven Spaltprodukten
"Was davon aus dem Ausland kommt, wird nach und nach zurückgeschickt. Wir haben inzwischen rund 60% zurück verfrachtet, nach Belgien, Holland, in die Schweiz, nach Japan und Deutschland. Die französische Produktion bleibt so lange hier, bis im Land ein Endlager beschlossen und auch gebaut ist. Wir können hier 12 000 dieser Glaskokillen lagern und planen für die Zukunft, wenn nötig, auch eine Vergrösserung, denn die ist relativ leicht zu bauen. " "
Die Produktionskapazitäten in La Hague sind momentan nur zur Hälfte ausgelastet, die meisten ausländische Kunden schicken keine verbrauchten Brennstäbe mehr – die letzten aus Deutschland sind Ende 2005 gekommen . Doch es gehört nun mal zur Rolle eines stellvertretenden Direktors, positiv in die Zukunft zu blicken :
"Es stimmt, dass unsere Verträge mit dem Ausland zur Zeit etwas in der Talsohle sind, aber wir sind optimistisch. Die Amerikaner haben ihre Haltung, was die Wiederaufarbeitung angeht , geändert . Das wird in gewisser Weise befreiend wirken, was die Energiepolitik anderer Länder angeht: Taiwan, Südkorea, Südafrika. Die Belgier z.B. überlegen auch, was sie langfristig machen , und wir verhandeln auch mit ihnen. Wir sind also mittelfristig durchaus optimistisch, auch weiterhin europaweit und international zu arbeiten. " "
Am Ende der Wiederaufarbeitung bleiben 1% Plutonium , 4 % Spaltprodukte und - das größte Volumen- 95% Uran . Eric Blanc hat einem das mehrmals erläutert. Mit der Information konfrontiert, wonach der staatliche Elektrizitätskonzern EDF das hier wieder aufgearbeitete Uran in seinen AKW’s aber praktisch gar nicht mehr einsetzt, wechselt der stellvertretende Direktor schnell ein Blick mit dem Pressechef und spricht dann, bestens geschult, nur noch von dem neuen Brennelement , von MOX , der Mischung aus Plutonium und Uran , das bislang allerdings nur in 20 von 58 Reaktoren eingesetzt wird
"EDF verbraucht heute durchaus die Gesamtheit der MOX-Brennelemente, die wir produzieren. "
Kurz vor dem Ausgang noch ein Blick ins Kommandozentrum der Wiederaufarbeitungslage , das nach dem der NASA das weltweit zweitgrösste ist . Eric Blanc , der sich mit Radfahren fitt hält, gerne im Schwarzwald oder im Tannheimer Tal, hat sich wiederholt bemüht, die Plutoniumfabrik als eine Fabrik wie jede andere auch erscheinen zu lassen. Dem entsprechend versucht er dann noch ein letztes Mal das Prinzip der Wiederaufarbeitung auf den Punkt zu bringen:
"Jeder findet es normal, dass ein Auto, wenn es schrottreif ist , wiederverwertet wird , um daraus erneut Stahl zu gewinnen . Was wir hier tun, ist im Grunde nichts Anderes. Wir nehmen das Auto, ziehen den Stahl raus, legen Gummi zur Seite und um das Schädliche, um die Batterie, kümmern wir uns auch, indem wir sie konditionieren . "
Atomstrom galt in Frankreich lange als sauber, und bekommt im Zuge der Klimadebatte noch zusätzlichen Aufwind. Doch ist die Atomkraft auch weitgehend CO2-neutral und somit nicht klimaschädlich sind die radioaktiven Abfallprodukte aber extrem umweltschädlich. Die Wiederaufbereitung von Brennstäben entschärft die Situation nicht, denn das aufwendig zurück gewonnene Plutonium wird in der Praxis nur in geringen Mengen verwendet, darüber hinaus gibt es nach wie vor keine sichere Methode, um den strahlenden Sondermüll zu lagern. Ende 2004 zählt die staatliche Atommüllbehörde Andra in Frankreich gut eine Million Kubikmeter radioaktiven Müll, der größte Anteil liegt bei La Hague.
In diesem Sommer veröffentlichte das französische Labor ACRO die Ergebnisse einer Grundwasseranalyse: Rund um die Wiederaufbereitungsanlage ist das Wasser stark radioaktiv verseucht: die Tritiumwerte liegen bei 750 Becquerel/L, damit überschreiten sie den zulässigen europäischen Wert um mehr als das siebenfache! Eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Messung direkt an der Abwasserpipeline ergab einen derart hochkonzentrierten Cocktail an radiotoxischen Teilchen, das der Meeresboden eigentlich als radioaktiver Sondermüll entsorgt werden müsste. Die Kontamination der Krebse war so hoch wie nach einem nuklearen Großunfall. Trotz dieser Messergebnisse haben es Atomkraftgegner in dieser Region immer noch schwer:
Ein Leben gegen die Atomlobby - ein Lehrer kämpft mit Windmühlen
Didier Anger hat seinen alten Renault aus der Garage geholt, fährt murrend unter den Starkstromleitungen hindurch die 5 Kilometer zur Küste, in den kleinen, herausgeputzten Ort Flamanville. Hierher war er 1970, bevor das AKW gebaut wurde , gezogen , als junger Lehrer und engagierter Gewerkschafter . Umweltschutz und Ökologie waren damals für ihn fast Fremdwörter:
"Eines Tages wollten zwei Bekannte ein Flugblatt verteilen, vor einer öffentlichen Veranstaltung. . Die war zum Abschied des damaligen Direktors der Plutoniumfabrik in La Hague . Die Polizei hat sich diese zwei Atomkraftgegner geschnappt und sie auf dem Kommissariat so lange festgehalten, bis die Veranstaltung vorbei war . / Da hab ich mich gefragt: was ist denn das für eine Fabrik, damit die Polizei so reagiert. / Das war für mich der Auslöser . Ich hab mir gesagt, Atomkraft und Demokratie , das verträgt sich nicht. "
Durch die goldumrandete Brille wirft der inzwischen pensionierte Lehrer einen Blick hinunter auf die 1300 Megawattreaktoren des AKWs Flammanville :
"Heute stehen viele Autos auf dem Parkplatz. Das beutet, dass zur Zeit hier die Brennstäbe ausgewechselt werden. Alle 18 Monate macht man das. Dafür kommen dann Arbeiter von auswärtigen Firmen. Interessant ist: die Arbeiter dieser Privatunternehmen bekommen 3 Mal so viel Strahlung ab, wie die fest angestellten Arbeiter von EDF. "
In sein gutmütiges Gesicht haben sich Furchen gegraben . Schließlich hat Didier Anger seit über 3 Jahrzehnten jeden Kampf gegen die Atomkraft in diesem Landstrich mit gefochten, und die nächsten Auseinandersetzungen stehen schon bevor . Vom Uferweg entlang des Sicherheitszauns am AKW – Gelände sieht man auf den künftigen Bauplatz des neuen europäischen Druckwasserreaktors EPR .
" Man hört schon die Arbeiten. Offiziell arbeitet man noch nicht am Reaktor. Damit umgeht man die Bestimmungen, weil es offiziell noch kein Dekret gibt, das den Bau des Reaktors erlaubt. Man hat aber schon begonnen, die Baustelle für den künftigen EPR-Reaktor einzurichten. / Das ist das klassische französische Schema, an dem sich seit den 70-er Jahren nichts geändert hat. Die Atomkraft und EDF , das ist wie ein Staat im Staat und macht seine eigenen Gesetze. "
Didier Anger schiebt die Hände in die Taschen seiner abgewetzten Cordhose und blickt über die Bucht . Zur Rechten zeigt er auf die Strasse, die sie damals , Mitte der 70-er , vor Baubeginn des AKW’s Flamanville 4 Wochen lang blockiert hatten. Gegenüber, in 15 Kilometer Entfernung , leuchtet das Weiss der Wiederaufarbeitungsanlage oberhalb der märchenhaften Steilküste. . Der ehemalige Europaabgeordnete der Grûnen und langjährige Abgeordnete im Regionalparlament der Normandie ist das lebende Gedächtnis der Anti-AKW-Bewegung in der Region . Er weiß z.B. noch genau das Datum, der 6. Januar 81, als die Cogema nach einem Störfall auf dem Gelände der Wiederaufarbeitungsanlage die gesamte gemolkene Milch der Region aufgekauft und vernichtet hat . Trotz zunehmenden Alters ist er nicht konzilianter , ist seine Abneigung gegen die Atomlobby um keinen Deut geringer geworden
"" Schau’n sie sich doch diese Fabrik in La Hague da drüben an. Sie verfügt über mehrere Dutzend Tonnen Plutonium. Plutonium, das oft zu alt ist, um noch für Mox verwendet zu werden, das Brennelement, für das man Uran und Plutonium mischt. / Plutonium wird dort in kleinen Behältern von 2,9 Kilo aufbewahrt, denn je näher man der Menge von 5 oder 6 Kilo kommt, desto gefährlicher wird es. Fünf oder sechs Kilo, das ist schon die Bombe von Nagasaki. / Es heisst, das Plutonium lagert 25 Meter tief unter der Erde und die Leute, die es bewachen, seien bewaffnet. / Frankreich macht mit der Wiederaufarbeitung einfach weiter, das hat aber keinerlei wirtschaftliche Gründe, sondern man muss eben die Bombe bauen können. Das ist auch die französische Besonderheit im Vergleich zu Deutschland: die zivile Atomkraft war hierzulande immer mit dem militärisch - atomaren Komplex verschmolzen "
Didier Anger rümpft die Nase über die Heuchelei der Atomlobby, die von Transparenz rede, gleichzeitig aber die Veröffentlichung geheimer Dokumente über Atomkraftwerke strafrechtlich verfolgen lasse . So geschehen mit einem Schreiben, in dem es hiess, der neue EPR Reaktor würde einen Flugzeugabsturz nicht aushalten. Einer von Didier Angers Mitstreitern muss sich dafür gerichtlich verantworten. Und wenn der ehemalige Lehrer daran denkt, was die Öffentlichkeit alles nicht weiss, wird er fast wütend . Etwa, dass das wieder aufgearbeitete Uran vom AKW-Betreiber EDF in der Praxis gar nicht wieder verwendet wird und damit de facto ebenfalls radioaktiver Abfall ist:
" Es hat immer geheißen, man würde das Uran aus der Wiederaufarbeitung, immerhin 95% eines Brennstabes , wieder verwenden. Es gibt aber meines Wissens keinen einzigen Reaktor in Europa, der mit Uran aus der Wiederaufarbeitung funktioniert. In zwei Reaktoren im Rhone Tal hat man es versucht, das Experiment ist aber beendet. EDF will dieses Uran nicht haben, es ist nicht stabil genug / Die Atomlobby sagt immer: durch die Wiederaufarbeitung reduzieren wir das Volumen der atomaren Abfälle. Das ist aber reine Theorie und entspricht nicht der Realität."
In den 80ern hat Didier Anger auch gegen das Atommülllager direkt neben der Wiederaufarbeitungsanlage mobil gemacht , mit seinen 500 000 Kubikmetern radioaktiven Abfällen. Seit 1991 ist es geschlossen, der Atommüll zugeschüttet und die Anlage verschwindet nach und nach aus dem Bewusstsein der Bevölkerung. Didier Anger aber, mit seinem Elefantengedächtnis, hat nicht vergessen, unter welchen Bedingungen der Müll dort gelagert wurde:
"Zwischen 1967 und 78 hat man dort gemacht , was man wollte. Es gibt heute Behälter, die leck sind , es kommt immer wieder zu Verschmutzungen in den zwei kleinen Bächen, die in der Nähe des Lagers entspringen . 1976 gab es große Probleme mit Tritium und auch heute noch hin und wieder. Außerdem findet man Spuren von Plutonium und Ameritium . Die haben sich verhalten, wie eine Katze, die ihren Haufen im Garten macht, ihn dann mit Erde bedeckt und so tut, als gäbe es keinen Haufen . "
In dieser kleinen, ländlichen Region, in der rund 10.000 Arbeitsplätze von der Atomkraft abhängen , könnte man meinen , einer wie Didier Anger hätte nicht besonders viele Freunde. Doch letztlich scheint das Verhältnis der Menschen zu den Atomanlagen in ihrer Nachbarschaft ziemlich ambivalent zu sein :
"Die größte Angst der Menschen ist die vor der Arbeitslosigkeit, dann kommt die Angst vor der Atomkraft. Manchmal schlägt das aber auch um. Ich war 1997 Kandidat bei den Parlamentswahlen , in einem Wahlkreis , in dem die Wiederaufarbeitungsanlage, das Atommülllager und das AKW Flamanville liegen. Ich habe zwar verloren , aber im 2. Wahlgang 42 % der Stimmen bekommen. Das heißt, im Geheimen sagen sich die Leute durchaus, vielleicht ist es eine gute Vorsichtsmassnahme, einen Abgeordneten zu haben , der der allmächtigen Atomkraft in der Region kritisch gegenüber steht. "
Ein halbes Leben lang hat Didier Anger gegen die Atomlobby angekämpft, verhindern konnte er nichts , auch nicht das neueste Projekt, den EPR – Reaktor . Nun koordiniert er in den nächsten Monaten zumindest den Widerstand gegen die geplante 3. Hochspannungsleitung, die von hier aus in die Bretagne führen soll – aufgeben will er keinesfalls
"Ich bin nicht resigniert und denke auch nicht, dass das alles nutzlos war. Denn selbst Leute hier , die für die Atomkraft sind, sagen ab und an: Gott sei Dank ist der Anger da , sonst wär’s noch schlimmer. Nein - wir sind hier an der Front. Ich sitze dabei tatsächlich ein wenig in der Falle . Aber würde ich weggehen, würde man das als Fahnenflucht ansehen - und das ist unmöglich. "
Durch einen Bruch im Primärkreislauf des Kühlsystems tritt im AKW nah bei Paris Radioaktivität aus. Und der Wind steht ungünstig!
Tschernobyl sur Seine, heißt der Roman von Helen Crie:
Industrieminister Pierre-Alain Chevelin geht auf heißen Kohlen . Man wird gut kalkulieren müssen beim Umgang mit der Presse, damit sie einen nicht verdächtigen, Informationen zurückzuhalten. Aber wie soll man die Panik aufhalten, wenn man die Auskünfte, die man Journalisten gibt, nicht ein wenig siebt ?
Der stellvertretende Direktor des Atomkraftwerks kommt noch einmal auf den Unfall in Tschernobyl zu sprechen, der in dieser Nacht wahrlich immer wieder eine Referenz ist.
" Wir sind hier nicht in der Ukraine. Es wird unmöglich sein, ein totales Verbot zu rechtfertigen, sich dem Kraftwerk zu nähern"
" Gewiss", sagt Professor Faucon, man darf sicher sein, dass die Journalisten durch die Maschen der Gendarmerie schlüpfen werden. Die Schlauesten werden den Wetterbericht konsultieren, um die gefährlichsten Zonen zu meiden, aber einige Dummköpfe werden mitten durchfahren. Es wäre besser, sie zu kanalisieren und sie an einen Ort zu bringen, der von den Strahlen nicht erreicht wurde , von dem aus man das Werk gut sieht, aber nicht zu nahe und aus einem Winkel, der es unmöglich macht, all das zu sehen, was man im am meisten betroffenen Bereich wird tun müssen .
" Ich fürchte, dass die Reaktionen der Öffentlichkeit weit über das hinausgehen, was wir uns vorstellen können, fuhr Pierre Faucon fort. Wir können nicht auf ein gemässigtes Verhalten der Medien setzen. Wir müssen vorgreifen, ich weiss nicht, für ein Ereigniss sorgen, das den extremen Massnahmen, die ergriffen werden müssen, die Schärfe nimmt ."
" Das geht über meine Zuständigkeiten", sagt Favart vom Atomenergiekommissariat, " aber es wäre nicht schlecht zu zeigen, dass man die Situation schon einigermaßen unter Kontrolle hat. Wenn wir es schaffen, die Radioaktivität zu fixieren, könnte man dem Präsidenten der Republik vorschlagen, nach Nogent zu kommen, um die öffentliche Meinung zu beruhigen".
" Ich hab besseres zu tun , als ein Spektakel zu organisieren " warf Laurent Rolant ein .
"Favarts Überlegung verdient es, dass man sie vertieft, antwortete der Minister ruhig.
" Sie haben recht, Herr Minister , warf Professor Faucon voller Gemeinheit ein , " jedem seine Rolle. Mir scheint es am vernünftigsten, wenn ein Mitglied der Regierung den Weg weist.
Als zuständiger Minister für EDF, den Betreiber , und für das Atomenergiekommissariat, das ihnen in Sicherheitsfragen sekundiert, kommt ihnen die Ehre zu . "
" Ihr Vorschlag ist exzellent" antwortete er " aber ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, das politisch ausschlachten zu wollen. Zweifelsohne ist der Präsident , von seiner Funktion her , der einzige Politiker , der jetzt über der Politik steht. Wenn er kommt, löst das keine Hintergedanken aus. Und - ich möchte hinzufügen : wenn ich mich recht erinnere, hat sich nach dem Unfall in Three Misle Island Präsident Carter persönlich vor Ort begeben und nicht irgendein Industrieminister.
Nach dem zweiten Weltkrieg lebten die Menschen in der Region Cotentin fast ausschließlich von ihren kleinen Bauernhöfen oder vom Fischfang. In diese bescheidene Welt brach Anfang der 60ger Jahre die Atomkraft ein. Und mit der Atomkraft kamen die Arbeitsplätze. Inzwischen sind es rund 10.000!
Einer, der damals wie heute von seinem kleinen Bauernhof lebt, ist der 76 jährige Paul Bedel. Auf seine alten Tage ist der Bauer noch ein Star geworden, als Hauptdarsteller in einem Dokumentarfilm, denn er schlägt die Butter noch mit der Hand. Der Film läuft seit dem Sommer in allen Kinos der Normandie und bricht alle Zuschauerrekorde. Und Paul Bedel? Er lebt immer noch auf seinem kleinen Hof nur fünf Kilometer entfernt vor der Plutoniumfabrik:
Der letzte Bauer vor der Atomanlage
Monsieur Paul nimmt die Kappe ab und wischt sich gemächlich den Schweiß von der Stirn, auf seinem Feld hinter den für die Gegend typischen, hüfthohen Steinmauern. Ein Feld, das die Ausmaße eines größeren Gartens hat und auf dem er gerade das karge Getreide bindet, das jetzt, da er die Landwirtschaft aufgegeben hat, nur noch den Hühnern zu gute kommt.
Beim Betreten seines Hauses aus schweren, grauen Granitsteinen mit leicht rötlichem Einschlag, muss man den Kopf einziehen.
Monsieur Paul ist die Güte selbst. So vorsichtig, wie er sich bewegt, spricht er auch , häufig von sich selbst in der 3. Person, als wollte er sich zurücknehmen, noch bescheidener erscheinen, als er ohnehin schon ist . Sein ganzes Leben hat der Bauer nach dem Prinzip gehandelt, der Erde nur so viel zu nehmen, wie er wirklich brauchte
"Uns ging es gut so. Ich sagte mir, es ist nicht nötig, etwas zu ändern, wir hatten auch so ausreichend zum Leben, machten es wie früher, ohne Kredit. Hätte ich was ändern wollen, hätte ich sofort viel mehr Kühe haben müssen und das hätte eine ganze Reihen von Dingen nach sich gezogen. Da hätte ich Kredite aufnehmen müssen. Mein Vater hatte mir aber gesagt: Kredite, das ist schön und gut, aber man muss aufpassen. Und ich hab’ mir immer gesagt, es ist das Beste, nach seiner Methode weiterzumachen. Wir hatten alles, was wir brauchten, wir lebten autark. Ich hab immer die frage gestellt: einer der 20 Eimer Milch melkt, wie viele davon hat er wirklich für sich? Wir melkten 4 Eimer, und die vier, die hier in den Hof hereinkamen, waren auch wirklich unsere. "
Monsieur Paul reibt sich die unverhältnismäßig großen, immer noch muskulösen Hände. Geheiratet hat er nie, eben so wenig, wie seine beiden Schwestern, die mit ihm auf dem Hof leben. Als der Vater gestorben sei, habe er auf sein persönliches Leben verzichtet, sagt er fast feierlich, um das Werk des Vaters fortzuführen. Bis zuletzt, vor wenigen Jahren, hat der untersetzte Mann mit den hängenden Schultern Butter mit der Hand geschlagen, auf alle chemischen Hilfsmittel verzichtet und sich mit einen kleinen Traktor begnügt, der aus dem Jahr 1937 stammte. Hart war es am Ende, die 15 Melkkühe weg zu geben :
"" Die Kühe waren unsere Gefährtinnen. Es waren ja die kleinen Kälber, die wir groß gezogen haben. Und vor allem: es war der Stamm des Vaters und der Mutter, jeder hatte seine Kühe mitgebracht, als sie geheiratet hatten und wir hatten bis zuletzt immer die gleiche Rasse behalten. Am meisten weh getan hat mir, dass mein Vater mir seinen Stamm anvertraut hat und ich den niemandem weitergeben konnte. Die Kühe wurden abgeholt, ich wollte gar nicht wissen wohin. "
Mit bedächtiger Geste nimmt er die Brille ab , wenn er sich erinnert, wie er Anfang der 60-er Jahre reagierte , als es plötzlich hieß, eine Fabrik solle gebaut werden, hier in seiner unberührten Welt , vielleicht sogar auf seinem Grund :
"Sie haben sie dann aber da oben hingebaut. Das war vielleicht eine Frage des Windes, weil es da oben noch mehr Wind gibt als hier, - vielleicht. Als sie angefangen haben die Fabrik zu bauen, hat mir das persönlich wehgetan. In meinen Augen war das wieder eine Zerstörung der Felder. Ich sag es ihnen nicht gerne, aber für mich war es eine Zerstörung, wie ich sie schon zwischen 39 und 45 erlebt hatte. Ich hoffe, das schockiert sie nicht. Als die deutschen Truppen ankamen, sind sie in unserem Feld gewesen und haben es für immer zerstört. Das hat uns in der Brust einen richtigen Riss gegeben . Und beim Bau der Fabrik hab ich mir gesagt, jetzt geht das noch mal los. Ich hatte immer diesen Gedanken an die Erde, die einen ernährt. Und am Anfang, da sagte man einem ja nichts. Wir wussten nichts . Eine Fabrik für Elektromotoren sollte es werden, hieß es zunächst . " ( am Ende Lachen ) "
Monsieur Paul , der von seinem Haus aus das wütende Meer und den Leuchtturm an der Spitze der Halbinsel Cotentin sehen kann, hat sich inzwischen, wie so viele hier, mit der Plutoniumfabrik oben auf dem Plateau abgefunden:
"Später hat uns die Fabrik viel gebracht. Bevor die Fabrik da war, gingen doch alle weg. So aber blieb die Bevölkerung und andere Arbeiter kamen dazu. Auch denen konnten wir unsere Produkte verkaufen . "
Nur vier Mal in seinem Leben hat der 76 Jährige das Dorf hier oben verlassen : das erste Mal, als er Ende der 40-er Jahre zur Armee musste, ausgerechnet ins ferne Strassburg und später noch drei Mal zu Wallfahrten nach Lourdes . Die Wiederaufarbeitungsanlage, die der streng Gläubige nie betreten hat, vergleicht er heute, fast spitzbübisch, mit seinen geliebten Vierbeinern. Die Fabrik, sagt Monsieur Paul und lacht dabei in sich hinein, sei doch eine gute Melkkuh für die gesamte Umgebung hier
David nimmt das Radio ins Badezimmer mit und gießt sich kaltes Wasser ins Gesicht.
" Straßensperren sind im Osten von Nogent errichtet worden. Die Bundesstrasse 19 ist kurz vor der Stadt gesperrt und macht den Zugang zur Unterpräfektur des Departements unmöglich. Der Kabinettschef der Präfektur in Troyes hat gesagt, dass in den Dörfern, die unter der radioaktiven Wolke liegen , Ausgehverbot besteht. In Nogent selbst hat die Feuerwehr um 2 Uhr morgens begonnen, eine Sicherheitszone einzurichten. Glaubt man ersten Messergebnissen, so ist nicht die gesamte Stadt von radioaktiven Niederschlägen betroffen. "
David Mann geht zum Schrank, zieht irgendwelche Schuhe an , es sind Sandalen , verzichtet auf das Frühstück, schnappt sich einen Parka und schliesst die Tür hinter sich.
" Haben sie Details über die verseuchten Zonen " , fragt er den Bürgermeister.
" Die Feuerwehr sagt, diese Seine Seite sei letzte Nacht nicht unter dem Wind gewesen, der vom Atomkraftwerk her wehte. Im Prinzip gibt es hier keine Gefahr. Aber ich ziehe es vor, dass momentan niemand auf den Strassen verweilt. Zumal die Präfektur die Evakuierung der anderen Stadthälfte ins Auge fasst. Auf , gehen sie , wir haben zu tun . "
Der Bürgermeister erhebt sich langsam von seinem Stuhl; Er drückt die Stirn gegen die Fensterscheibe und schaut die Rue Saint Laurent hinunter . Trotz aller Warnuingen der Lautsprecherwagen, haben Bewohner ihre Häuser verlassen. Vor dem Rathaus wird eine Ansammlung von Menschen von Minute zu Minute grösser. Von seinem Büro aus erkennt er die Mutter Germaine, Madame Simone und ihre Tochter Arlette die für die Bürger von Nogent eine Art Konferenz abhalten, wobei in den Gesichtern der Bürger absolutes Erstaunen zum Ausdruck kommt. Drei Männer gehen weg und kommen in die Vorhalle des Rathauses.
" Himmel noch mal" wettert der Bürgermeister an seinen Sekretär gewandt, warum hat niemand daran gedacht, die Tür abzuschliessen ? Wie soll man unter solchen Bedingungen arbeiten? "
Der Cafehausbesitzer aus der Rue du Lion d’Or, der Hotelier aus der Rue des Fossés und ein dem Bürgermeister unbekannter Mann stehen schon im Raum , ohne angeklopft zu haben.
" Was soll diese Geschichte ? Das Kraftwerk ist explodiert? Wir haben nichts gehört. Und jetzt hindern uns die Gendarmen daran, über die Brücken zu fahren. "
" Haben sie die Lautsprecherwagen nicht gehört" fragt der Bürgermeister ganz sanft. Sie täten besser daran nach Hause zu gehen und Radio zu hören. Im Lokalradio wird mein Stellvertreter in ein paar Minuten eine erste Bilanz bekannt geben. "
1997 wiesen zwei französische Wissenschaftler den Zusammenhang nach zwischen den radioaktiven Abwässern bei La Hague und der erhöhten Leukämierate bei Kindern und Jugendlichen. Im Umkreis von 35 Kilometern, ist laut der Studie, die Blutkrebsrate um den Faktor drei höher im Vergleich zum Landesdurchschnitt. Jean Francois Viel, Professor an der Uni Besancon, war einer der Köpfe der Studie von La Hague, seine Ergebnisse wurden kurz darauf angezweifelt. Doch Untersuchungen anderer Strahlenbiologen bei der Wiederaufbereitungsanlage in Sellafield kamen zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch im Umkreis dieser Anlage ist die Rate von Leukämie und Totgeburten erhöht.
Anderer wissenschaftliche Untersuchungen ergaben eine Korrelation zwischen dem Blutkrebsrisiko und dem Verzehr von Meeresfischen bei La Hague. Sogar die Aufenthaltsdauer am Strand erhöhte demnach das Krebsrisiko.
Seit acht Jahren kämpfen nun viele Mütter auf der Halbinsel, gegen die Geheimniskrämerei der Betreiberfirma:
Die wütenden Mütter
Mädchenhaft zierlich, in engen Jeans und T- Shirt , geht Nathalie Garnier durch das Theatercafé von Cherbourg - die Enddreißigerin hat einen neutralen Ort als Treffpunkt vorgezogen . Sie sieht ein wenig müde und abgespannt aus - vielleicht, sagt man sich, sind es die Spuren der jetzt seit 8 Jahren andauernden Auseinandersetzung mit der übermächtigen Wiederaufarbeitungsanlage, die auch sie nur mit dem alten Namen der Betreiberfirma als " COGEMA" bezeichnet. Vor der Schule ihrer beiden, damals sieben und vierjährigen Töchter, hat sie mit einigen anderen Frauen die Bewegung der " Wütenden Mütter" ins Leben gerufen. Als Mütter waren sie schockiert von der Art und Weise, wie die COGEMA auf die wissenschaftliche Studie von Professor Viel reagierte:
"Die Cogema hat sofort die wissenschaftliche Qualität der Arbeit von Professor Viel in Frage gestellte und alles en bloc abgestritten, ohne weitere Erklärungen. Diese Art zu reagieren löste bei uns wirklich Wut aus, das war sehr spontan . In einer Zeitung stand dann auch noch der Titel : "Cogema hält die Studie für absurd" . Absurd - dieses Wort war letztlich der Auslöser für unsere Bewegung. / Das Ganze hat einen Bewusstwerdungsprozess in der Region ausgelöst. Wir haben Unterschriften auf den Märkten gesammelt und forderten einfach mehr Informationen. Und wir merkten, dass wir sehr viele waren, die sich die gleichen Fragen stellten. Wir haben 5000 Unterschriften gesammelt, was für die Region sehr viel ist ."
Es war die erste Initiative überhaupt in über 30 Jahren, die unabhängig von Parteien oder Anti-Atom-Bewegung , hier auf der Halbinsel Cotentin die Stimme erhob gegen die Atomwirtschaft. Mit der Zeit fing man dann an, uns Mütter ernst zu nehmen, erinnert sich Nathalie Geismar. Cogema und staatliche Gesundheitsbehörden waren letztlich gezwungen zu reagieren, Kommissionen und Arbeitsgruppen wurden gebildet, an denen der Verein der "Wütenden Mütter" beteiligt war.
Die Geheimniskrämerei habe seitdem etwas abgenommen, meint sie und bindet ihr glattes, blondes Haar zu einem Pferdeschwanz. Doch wirklich beruhigt sind Nathalie Geismar und ihre Mitstreiterinnen auch nach acht Jahren nicht, selbst wenn sie heute wissen, dass die etwas höhere Zahl von Leukämie bei Kindern in der Region nicht wirklich signifikant ist:
"Wir warten immer noch auf durch Zahlen belegte Ergebnisse über die tatsächlichen Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und vor allem der Kinder hier . Es gibt inzwischen zwar ein Register über Krebs in der Region, das angeblich funktioniert, von dem man aber kaum was hört. Wir wissen inzwischen auch , dass es keine übermäßige Zahl von Leukämiefällen gibt. Aber wir haben nie Zahlen bekommen, was andere , durch Strahlen verursachte Krankheiten angeht , dabei wissen wir, dass es Anomalitäten gibt. / Es gibt Fälle, die die akzeptablen Werte überschreiten und man hat keine wirkliche Erklärung dafür: Missbildungen bei Neugeborenen, Schilddrüsen – und Lungenkrebs . Und was die Arbeiter in der Wiederaufarbeitungsanlage betrifft, da herrscht immer noch das Gesetz des Schweigens. Es gibt keine echte Statistik über den Gesundheitszustand der Arbeiter bei COGEMA . Die Arbeitsmedizin im Betrieb ist zwar sehr aktiv , aber alle Dokumente bleiben strikt intern , die Informationen zirkulieren nicht. Die wenigen Arbeiter, die sich dazu öffentlich geäußert haben, wurden sofort kaltgestellt und gleichzeitig gibt es immer mehr Teilzeitarbeiter, die ständig wechseln ."
Die selbstbewusste junge Frau blickt ein wenig versonnen an die Stuckdecke des Cafes. Letztlich seien die jahrelangen Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern der Atomkraft immer sehr offen und tolerant verlaufen, sie und ihre Kinder seien nie von anderen Mitbürgern wegen ihres Engagements angegriffen worden und auch sie urteilt nicht über diejenigen in der Region, die der Atomindustrie positiv gegenüber stehen :
"Es ist kompliziert, denn die Atomwirtschaft bringt ein enormes finanzielles Manna, sie ist überall präsent, in allen Sport – und Kulturvereinen und bei allen Infrastrukturmaßnahmen. Man hat hier Bedürfnisse geschaffen, die es früher gar nicht gab. Jede Gemeinde hat ihr Schwimmbad, es gibt hier 25 Fußballstadien, die Strassen hat man fast zu Autobahnen ausgebaut - das wird alles zu reich. " "
Bei aller Energie, die sie verstrahlt, hin und wieder vernimmt man aus Nathalie Geismars Worten auch so etwas wie Resignation , etwa wenn sie darüber spricht , dass in Flamanville jetzt auch noch der EPR , der neue europäische Druckwasserreaktor gebaut wird :
"Die atomare Monoindustrie, das ist doch kein Reichtum . Wir hätten so viele andere Trümpfe hier, um diese Region wirtschaftlich voran zu bringen. Der EPR aber wird uns noch mehr zum Gefangenen der bisherigen Logik machen und die Ausbreitung der Atomanlagen, das ist wirklich etwas Unerträgliche . / Wir haben hier keine Phantasie mehr , man wartet darauf , was die Atomindustrie entscheidet, alle hängen an ihren Lippen und es fehlt ein echter Wille, hier wirklich andere wirtschaftliche Aktivitäten zu entwickeln . "