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Frankreichs Mittelschicht droht abzurutschen

Die Wirtschaftskrise verändert die französische Gesellschaft, denn immer mehr Menschen verlieren ihren Job. Einrichtungen wie soziale Lebensmittelläden sind für die sogenannten neuen Armen eine wichtige Stütze, doch viele von ihnen empfinden tiefe Scham für ihre Lebenssituation.

Von Daniela Kahls |
    Die Scham liegt wie ein dickes schweres Handtuch über dem neuen Tabu-Thema in Frankreich. Obwohl das Heer der Arbeitslosen in Frankreich scheinbar unaufhörlich wächst, ist es gar nicht so leicht, mit den "neuen Armen" ins Gespräch zu kommen. Die Organisatoren von Suppenküchen zum Beispiel raten Journalisten ab, einfach so die Wartenden in der Schlange zu befragen. Stattdessen vermitteln sie diskret Kontakte. Zum Beispiel zu der 50-jährigen Patricia Chardonneau. Die Innenarchitektin ist seit fast drei Jahren arbeitslos. Auch sie ist mittlerweile Stammkundin bei Suppenküchen und sozialen Supermärkten in ihrem Pariser Vorort.

    "Als ich das erste Mal Lebensmittelmarken bekommen habe, habe ich mich gefragt, wo ich sie einlösen soll. Ich wollte auf keinen Fall irgendwo bei mir in der Nähe in den Supermarkt gehen, weil ich mich geschämt habe."

    Auch heute noch fällt es Patricia schwer, über ihre Armut zu sprechen. Kein Wunder, vor Kurzem hat sie noch 3000 Euro netto im Monat zur Verfügung gehabt, für sich und ihre zwölfjährige Tochter, die sie alleine erzieht. Heute bekommt sie 460 Euro Sozialhilfe und 400 Euro Mietkostenzuschuss. Aber allein ihre Wohnung kostet 850 Euro Miete, dabei ist es eine kleine Sozialwohnung.

    "Ich habe 53 Quadratmeter, ein einziges Zimmer, das hier ist mein Wohnzimmer, mein Esszimmer, mein Arbeitszimmer. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nicht mein eigenes Schlafzimmer."

    Der selbstbewussten Patricia sieht man gar nicht an, dass sie arm ist. Sie ist geschmackvoll gekleidet, die Bluse passt farblich zu der Kette mit roten und orangenen Steinen. Früher hat sie eben gut verdient, davon zehrt sie noch heute, erzählt Patricia. Aber sich und ihre Tochter zu ernähren, das ist für die elegante Französin nun jeden Monat eine Herausforderung.

    "Es ist wirklich eine schmerzhafte Prüfung, weil man das nicht kennt, jemanden um Hilfe zu bitten, um sich zu ernähren. Das ist so schmerzhaft und erniedrigend oder sagen wir: Es könnte erniedrigend sein."

    Denn immerhin gibt es sie, all die Ehrenamtlichen, die in den "Restaurants der Herzen" oder den sozialen Lebensmittelläden arbeiten. Für Patricia sind diese Menschen eine wichtige Stütze. Und sie nehmen ihr die Scham.

    "Ich habe eine Möhre pro Person, eine Zwiebel pro Familie und einen Lauch ab zwei Personen."

    In den Resto du Coeur, den Restaurants der Herzen, werden Lebensmittel und fertige Gerichte an Bedürftige verteilt. Über 1900 dieser Einrichtungen gibt es mittlerweile in ganz Frankreich. Die Zahl derer, die diese Lebensmittelhilfe in Anspruch nehmen müssen, wächst täglich. Mittlerweile sind es 900.000 Franzosen, die sich mithilfe der Resto du Coeur ernähren, erzählt die ehrenamtliche Mathilde.

    "Es ist mehr als nützlich, mehr als wichtig. Wir servieren Tausende Essen zusätzlich. Es ist eine traurige Bilanz zu sehen, dass die Zahl derer, denen wir helfen, in den vergangenen vier Jahren um 25 Prozent zugenommen hat."

    Es ist ein sozialer Wandel, der da stattfindet. Noch findet er im Stillen statt. Das Straßenbild hat sich kaum verändert. Noch immer sind die Straßencafés in Paris voll, die Pariser nach der neuesten Mode gekleidet. Natürlich gibt es Obdachlose, doch das ist nicht neu. Und natürlich gibt es die Banlieues, die Vororte, in denen die ehemaligen Einwanderer wohnen, wo viel Arbeitslosigkeit und Kriminalität herrscht. Doch auch das ist ein altes, ein gewohntes Problem. Aber wenn man genauer hinschaut, dann sieht man ihn doch: den Abstieg der Mittelschicht.