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Fransige Symphonie der Alltäglichkeit

In seiner kraftvollen Lyrik versucht der Amerikaner Peter Gizzi, die Phänomene der Welt, der Sprache und der ihn umgebenden Gesellschaft zu fassen. Gizzi macht sich zur sensiblen Stimme einer als zerfranst empfundenen Gegenwart. Mit "totsein ist gut in amerika" ist jetzt ein Auswahlband seiner Gedichte erschienen.

Von Arne Rautenberg | 24.07.2012
    "totsein ist gut in amerika" – was für ein Titel! Ist es denn nicht gut, lebendig zu sein? Und ist es denn nicht noch besser, auf der mentalen Sonnenseite der Erdkugel, im gelobten Land Amerika zu leben? Nein, "totsein ist gut in amerika", sagt Peter Gizzi in seinem Gedicht "Revival", das dem 2001 verstorbenen Beat-Dichter Gregory Corso zugeeignet ist. Totsein ist nämlich deswegen gut in Amerika, weil es dort kein Totsein gibt: in Amerika ist nämlich alles, so die These des Gedichts, ja doch immer nur Film, Theater, Simulation, Schmierenkomödie, Selbstinszenierung – sogar das Gedicht, das diesen Umstand behauptet, ist letztlich nichts anderes. "Leg das Buch hin und schau in den Tag./ Ich will eine Kunst, die sagen kann, wie ich mich fühle" heißt es im besagten Gedicht und kurz darauf deckt Gizzi nicht ohne Ironie den Grund auf, weshalb Totsein ein erwünschter Zustand in den Vereinigten Staaten ist, wenn es heißt: "gut ist es, nicht zu stören in Amerika." The show must go on! Die Schau des Lebens muss weiter gehen. -

    Allerdings möchte einer, Peter Gizzi nämlich, dabei wenigstens einen Blick hinter die Kulissen werfen, auf der Suche nach einem originären Ausdruck, nach einer Berührbarkeit, die aus dem Leben selbst kommt – nach einer Art Notausgang aus dem Film der Wirklichkeit. Doch es gibt keinen Notausgang, keinen Ausweg, um der fransigen Symphonie der Alltäglichkeit zu entkommen. Und so versucht Peter Gizzi in seinen Gedichten, die Symphonie wenigstens in immer neuen Anläufen und Ausrichtungen sprachlich abzubilden. "Für mich ist die Filmsprache näher an der Lyrik als an der erzählenden Tradition", tut er in einem Interview kund, "die Filmsprache ist heutzutage unvermeidlich, sie ist Teil unseres Unterbewusstseins, unserer Wünsche, Erinnerungen – eine sehr vereinnahmende und kraftvolle Sprache", so Gizzi. Und sie ist, möchte man hinzufügen, eine Sprache, die mit vielen Schnitten arbeitet und einem damit immer neue Perspektiven eröffnet; diese multiperspektivische Darstellung ist nämlich auch ein wesentliches Kennzeichen in Gizzis Gedichten:

    Ein Kind wurde ich, eine Frage
    sitzend im Gras.
    Gesagt bekommen, ich habe Glück.
    Ein offenes Feld.
    Diese körperliche Ausdehnung
    war selbst ein Körper
    im Magnetismus von Silber.
    Wenn ich so licht wurde,
    war es nicht Glück. Es war leicht.
    Glocken verklingen
    entlang der Nachtscheide.
    Entlang der Nachtscheide
    ein altes Gesicht. Eine traurige Gaube
    verzogen und schief
    unter dem kommenden Donner.


    Peter Gizzi ist 1959 in der kleinen Textilstadt Pittsfield im Bundesstaat Massachusetts geboren. Im Alter von zwölf Jahren verfolgt er eine Sondersendung über einen nahen Flugzeugabsturz. Wie sich herausstellt, saß sein Vater in der Maschine. Gizzis Mutter ist nun alleinerziehend. Ihr Sohn fliegt von einigen Schulen, beginnt als Teenager die Beat-Autoren zu lesen, arbeitet einige Jahre später tagsüber am Fließband und nachts in einem Heim für psychisch Kranke. Er interessiert sich für die Punk-Kultur und findet schließlich den Weg an die New York University, wo er alte Sprachen studiert. Er wechselt auf die Brown University und schreibt sich im Fach Creative Writing bei Keith und Rosemarie Waldrop ein, belegt Kurse beim berühmten Black Mountain Dichter Robert Creeley und ist überhaupt ein reger Student: Gizzi gründet die wichtige Literaturzeitschrift "o-blék" und schreibt seine Doktorarbeit über den San Francisco Renaissance-Poeten Jack Spicer, dessen Nachlass er noch heute betreut. Und so lebt Peter Gizzi als Dichter, Herausgeber und Creative Writing Lehrer an der University of Massachusetts. Sein Werk ist mehrfach ausgezeichnet worden: Kein geringerer als John Ashbery übergab ihm den Lavan Younger Poets Award. Kurzum: Peter Gizzis poetische Stimme findet mittlerweile Gehör.

    In der zeitgenössischen Lyrik gibt es immer noch ein wichtiges Spannungsfeld, nämlich dass ein Dichter in sich hineinhorcht, dass er versucht, sich bis in die Nervenfasern zu spüren, um empfindsam seine Umwelt in sich aufzunehmen. Und dass er dann im Ausdruck seines Gedichts ein großes Ich in die Welt zu setzen pflegt; zugleich kann er nicht anders, als die völlige Nichtigkeit eines jeden Ichs im Raum-Zeitgefüge zu erkennen – was jedweder empfundenen Einmaligkeit einen relativierenden Dämpfer gibt. In genau diesem Spannungsfeld steckt auch Peter Gizzi. Und er lotet es in vielerlei Richtungen aus: Er fischt nicht mit kurzen Gedichten nach schnellen Pointen, sondern umspult und umgarnt in immer neuen Anläufen Naturbeobachtungen, biografisch-historische Begebenheiten, Phänomenologisches, Wissenschaftlich-Reflektiertes - das, was war, und das, was ist, wird in einen großen Topf geworfen und dann wird ein Feuer darunter entfacht und umgerührt; alles relativiert sich, so die Botschaft, die Gizzi auch in seinem lyrischem Testament, den prosaisch-durchnummerierten "Apokryphen" weitergibt:
    An die Times Roman gebe ich mein Stammeln, meine Verbissenheit, meine Neue-Welt-Gewalttätigkeit, Form und all das, Formulare, und all das Papier, Windstöße. Kleine Strebwerke.

    Ich sende liebe Grüße und Waffen an jeden, der von nächtlichen Visionen besessen ist.


    In einem Interview betont Peter Gizzi die Rolle, die das Nichtwissen beim Schreiben seiner Gedichte spielt. Vor allem das Nichtwissen ist in der Lage, Realität in einem Gedicht zu erzeugen, so Gizzi. Man spürt beim Lesen seiner Gedichte, dass sie von einem intuitiven Geist mitgetragen sind. Das macht es dem Leser nicht immer einfach: Gizzi klebt nicht lange an den Bildern, die er entwirft, sondern zwingt seine Leser, ständig im Kopf umzuschalten; es gibt kein mildes Nachschmecken, sondern vielmehr ein Zack! – und ein neues suggestives Bild kreuzt den imaginären Blick, nimmt einen mit in eine wieder andere Gedankendrift. -

    Gizzis Gedichte lesen heißt, sich einem fremden Bewusstseinsstrom hinzugeben, dabei im besten Fall Rückkopplungen zu spüren und sich hell und leicht fühlen zu dürfen. Von seinem Lehrmeister Jack Spicer führt Gizzi gern folgendes Zitat ins Feld: "Ich verstehe die Leute nicht, die keine Gedichte lesenden Dichter sind, denn es sind doch die Dichter, die die Botschaften kriegen." Wobei die Botschaften, wie Peter Gizzi zufügt, jetzt keine spezielle Bedeutungen sein müssen, sondern vielmehr zu ermitteln helfen, wie Bedeutungen eigentlich gestrickt sind.

    Jetzt ist draußen in 3D. Innen kein
    repräsentativer Raum.
    Jedes Gesetz hat ein außen
    und ein innen
    ich war dabei als Grausamkeit
    brach und würgte und schwitzte und dann
    ein Lächeln auswarf. Um wach zu sein. Dieses Reden im Raum.
    Absorbiert sein im Fortlaufenden.


    Gizzis Gedichte wollen beides sein: einerseits deutlich und zupackend, andererseits Teil der "großen Sache", als die wir die Welt spüren – das Suchende und das Findende halten sich so in seinen Gedichten die Waage. Diese Balance ist eine Qualität, welche die Gedichte leicht zu halten versteht. Eine weitere Qualität ist der lange Atem, der viele Gedichte zusammen hält; etwa den Gedichtzyklus "Die Outernationale": versammelte Gedichte mit narrativen und instabilen Zügen. Alles scheint zerbrochen und zugleich mit allem verbunden.

    Gizzis lyrisches Ich ist ein an die Vergangenheit angekoppeltes, in der Jetztzeit surfendes Iich. "Mir gefällt der Gedanke", sagt Peter Gizzi, "beides sein zu dürfen, so exakt und dennoch so offen wie möglich." In seinem Bedürfnis, lyrisch in der Welt mit all seinen Erscheinungsformen aufzugehen – sich in ihr zu verlieren – zeigt sich ein zeitgemäß-meditativer Aspekt, ja, ein spiritueller Kern, der durchaus in der Tradition der Beat-Autoren steht – eine Annäherung an die Improvisation und die Geschwindigkeit modernen Lebens.

    Ich fand, ich war vorbei und noch einmalig viele, das Viele und das Einmalige, die Vielen und das Evolutionäre, das Viele im Korn. Viele mehr.
    Für wen zur Hölle schreibe ich?


    Peter Gizzi, totsein ist gut in amerika
    luxbooks-verlag, 200 Seiten, 24 Euro