Archiv


"Französische Soldaten haben empfunden wie deutsche Soldaten"

Anlässlich der Wiederholung der Reihe "Feldpostbriefe - Lettres de poilus" hat der Programmdirektor des Deutschlandradios, Günter Müchler, an die große Herausforderung erinnert, die dieses Projekt vor zehn Jahren bedeutete. Niemand hätte wissen können, ob die Menschen bereit sein würden, die privaten Feldpostbriefe ohne Weiteres an eine fremde Instanz zu übergeben. Dass dann Tausende von Briefen geschickt wurden, "haben wir neben allem anderen auch als Vertrauensbeweis für den Deutschlandfunk aufgefasst", so Müchler.

Günter Müchler im Gespräch mit Susanne El Khafif |
    Susanne El Khafif: Die Feldpostbriefe wurden mit dem Deutsch-Französischen Journalistenpreis ausgezeichnet. Doch unabhängig davon, Herr Müchler, gab es damals Reaktionen im Publikum, Reaktionen, die uns dazu veranlasst haben, diese Sendereihe, wenn auch in kürzerer Form, erneut auszustrahlen. Wie reagierte unser Publikum auf die Briefe?

    Günter Müchler: Frau El Khafif, es war ein ganz ungewöhnliches Echo. Ich glaube, es hat noch auf keinen Beitrag, noch auf keine Serie, die wir im Deutschlandfunk gesendet haben, ein so überwältigendes Echo gegeben. Es haben uns Hunderte von Menschen geschrieben. Sie haben uns nicht nur pauschal gelobt für die Serie, sondern uns mitgeteilt, dass über diese Beiträge für viele der Hörer ein Kapitel der Familiengeschichte neu aufgeblättert wurde, dass wir Anregungen gegeben hätten, uns mit diesem Kapitel der Geschichte, aber eben auch der Familiengeschichte zu befassen.

    El Khafif: Wissen Sie denn, wie die Briefe in Frankreich aufgenommen wurden?

    Müchler: Dort war das Echo ganz ähnlich. In Frankreich hat der Erste Weltkrieg ja eine besondere Bedeutung. Man spricht dort von La Grande Guerre, dem Großen Krieg, einfach deshalb, weil man ihn gewonnen hat. Das ist Teil des Buches des nationalen Stolzes in Frankreich. Das Echo war quantitativ, aber auch in der Qualität so ähnlich wie in Deutschland, es war überwältigend. Ich weiß, das die französischen Kollegen, mit denen wir damals zusammengearbeitet haben, genauso beeindruckt und genauso glücklich waren.

    El Khafif: Was hat Sie nachhaltig beeindruckt?

    Müchler: Zunächst mal war es eine auch für uns ganz ungewöhnliche Herausforderung. Die Idee, an eine solche Koproduktion heranzugehen, kam nach meiner Erinnerung vom Deutsch-Französischen Jugendwerk. Wir hatten ohnehin vor, etwas zum Jahrestag des Waffenstillstandes zu machen. Dann kam diese Idee, die hat uns gleich gefallen. Ja, und dann ging es an die Vorbereitungen, an die Vorbereitung einer Arbeit zusammen mit "Radio France" und zusammen mit Kollegen, die wir schätzen gelernt haben, zusammen aber auch mit jungen Leuten, die bei der Produktion in Köln mitgeholfen haben. Das war eine große Herausforderung auch deshalb, weil wir überhaupt keine Ahnung hatten, ob die Hörerinnen und Hörer ihre Privatarchive für uns öffnen würden. Wir wussten nicht, ob der Aufruf, den der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hier für uns machen würde, ob der eine entsprechende Resonanz finden würde. Denn, man darf ja nicht vergessen, diese Briefe sind alle ganz persönlich gehalten gewesen. Und man gibt solche Briefe nicht ohne Weiteres an eine fremde Instanz heraus. Dass das dann doch geschah, es sind Tausende von Briefen zu uns gelangt und ganz ähnlich war es in Frankreich, haben wir neben allem anderen auch als Vertrauensbeweis für den Deutschlandfunk aufgefasst.

    El Khafif: Es sollen damals mehr als 28 Milliarden Briefe, Postkarten und Päckchen zwischen Front und Heimat gewechselt worden sein. 28 Milliarden, das ist ja eine schier unvorstellbare Menge. Und doch macht sie deutlich, wie sehr dieser Krieg erlebt und durchlitten wurde. Ist es die Auferstehung der Geschichte, die sich in diesen Briefen gespiegelt hat?

    Müchler: Was ich auch rückblickend als sehr schön empfunden habe, ist, dass hier eine Programmserie zustande kam, die gewissermaßen die Hörerrinnen und Hörer selbst gestalten konnten, nämlich durch den Stoff, die sie uns lieferten, durch die Briefe. Zum Zweiten, und das macht den besonderen Reiz der Serie aus, bei aller Unterschiedlichkeit im Ton stellte sich dann doch heraus, dass französische Soldaten genauso gedacht und empfunden haben wie deutsche Soldaten. Man konnte das sehr gut verfolgen an den Stationen des Krieges, am Anfang, die Begeisterung und die Gewissheit, wir werden schon übermorgen Paris besetzen, wir werden schon in einer Woche Berlin erobert haben, die Erwartung eines kurzen und natürlich siegreichen Feldzuges. So im Laufe der Zeit ändert sich die Stimmung. Man macht Bekanntschaft mit dem massenhaften Sterben, mit dem Wahnsinn des Krieges, mit der Verzweifelung, mit der eigenen Angst. All dies spiegelt sich in diesen Briefen, ganz gleichgültig, ob sie geschrieben worden sind von französischen Soldaten, von Poilus oder von deutschen Landsern.

    El Khafif: Wir werden gleich noch einen Ausschnitt hören, der sich am Ende des Krieges abgespielt hat, geschrieben wurde in den Endphasen des Krieges. Doch vorweg noch eine Frage zu den Redakteuren, die das Ganze umgesetzt haben. Es waren vier Redakteure, zwei auf deutscher, zwei auf französischer Seite, die sich mit den Briefen befasst haben. Ein Jahr lang liefen die Arbeiten, begleitet von wissenschaftlichem Sachverstand außerhalb der Funkhäuser. Und am Ende saßen die Kollegen Tag und Nacht, teils mit der Lupe über den Briefen, um zu entziffern, was dort zum Teil ja noch in Sütterlin geschrieben stand.

    Müchler: Ja, ich kann mich erinnern, dass ich selbst mal eine Briefkiste mit nach Hause genommen habe, weil ich ein bisschen Sütterlin langsam zwar, aber ja immerhin transkribieren konnte. Das war jede Menge Arbeit, aber man hat sie gern getan, weil das ja einem historischen Studium gleichkam.

    El Khafif: Deutsche wie Franzosen haben den Ersten Weltkrieg bis zu seinem bitteren Ende durchleben müssen. Wir wollen einen Ausschnitt hören aus einem Brief, der im Verlauf des Krieges spät, im Mai 1917, erst von einem französischen Soldaten an seine Frau geschrieben wurde, von Maurice Drans:

    "Meine liebe Georgette, vorgestern Abend habe ich im tintenblauen Licht der Nacht hier auf der Erde die Kreuzeszeichen aus dem Jenseits gesehen. Ein aufgewühltes Massengrab. Mehr als Tausend Leichname krümmten sich dort, zerstückelt, angekarrt und aufeinandergestapelt. Freund und Feind im allerletzten Grinsen sympathisierend. Franzosen und Deutsche, die miteinander verwesen, ohne jede Hoffnung, dass jemals eine brüderliche oder fromme Hand sie zudecken wird."

    El Khafif: Freund und Feind, die miteinander verwesen. Herr Müchler, ist es das, was sich in den Briefen am Ende als eine Art Erkenntnis spiegelt, die Erkenntnis des gemeinsamen Leids?

    Müchler: Ja, genau das ist es gewesen. Es war ein kollektives Empfinden, gleichgültig, ob es sich um französische oder deutsche Soldaten handelte. Man hat den Schrecken des Krieges kennengelernt. Man hat festgestellt, im Krieg ist es vollkommen gleichgültig, auf welcher Seite man leidet, man stirbt.

    El Khafif: Herr Müchler, ich danke fürs Gespräch!