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Französische Sozialpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Auf dem informellen Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Hampton Court werden heute zwar keine Beschlüsse gefasst, doch das Fünf-Punkte-Programm von Ratspräsident Tony Blair wird für Konfliktstoff sorgen: Sieht doch vor allem Frankreich den Wohlfahrtsstaat durch das neoliberale Programm Blairs in Gefahr. Doch wie ist es um den Sozialstaat in unserem Nachbarland bestellt? Hans Woller berichtet aus Paris.

    Seit dem Nein der Franzosen beim EU-Verfassungsreferendum ist Tony Blair zu einer echten Figur in der innenpolitischen Debatte Frankreichs geworden, eine Art ständige Referenz , besonders, wenn es um die Zukunft oder Reformierbarkeit des so genannten " französischen Sozialmodells" geht, das fast gebetsmühlenhaft von Politikern verschiedenster Couleur seit Monaten immer wieder bemüht wird , schon während der Kampagne für das EU-Verfassungsreferendum auf allen Lippen war - Gegner und Befürworter der Verfassung präsentierten sich gleichermaßen als Verteidiger dieses Modells zur Abwehr eines puren Wirtschaftsliberalismus angelsächsischer Prägung. Noch drei Tage vor der großen Niederlage predigte Staatspräsident Chirac seinen Bürgern:

    "Ja, der Verfassungsvertrag stärkt unser Sozialmodell. Weil er den sozialen Fortschritt und die Vollbeschäftigung ins Zentrum jeder europäischen Politik stellt. Unser Sozialmodell wird außerdem gestärkt, weil wir erreicht haben, dass unsere öffentlichen Dienste endlich von Europa anerkannt werden."

    Doch seit geraumer Zeit ist im Grunde klar: dieses französische Sozialmodell , aus dem Pakt zwischen Gaullisten, Kommunisten und Gewerkschaften in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden , ist mehr als krank, ein Sozialmodell, das seit 20 Jahren drei Millionen Arbeitslose produziert, jedem Vierten unter 25 Jahren keinen Job bietet, in dem die Zahl der Sozialhilfeempfänger seit zehn Jahren um rund 50 Prozent gestiegen ist und mit einer Sozialversicherung , die jährlich rote Zahlen schreibt in der Höhe von zehn bis 15 Milliarden Euro,
    diesen Zustand als Modell zu verkaufen, so sagen Kritiker, ist nichts anderes als pure Rhetorik. Nicolas Sarkozy, Parteivorsitzender der konservativen UMP Partei, der Chirac im Amt des Präsidenten beerben will, sagt mittlerweile unumwunden: das französische Modell ist keines mehr und der Chef der zentrumsliberalen UDF Partei, Francois Bayrou meint:

    "Warum versteift man sich darauf, den Bürgern eine Welt zu präsentieren, die nicht der realen Welt entspricht. Das erweitert doch nur den Graben zwischen der Realität und der politischen Macht, und gerade an diesem Graben leiden wir seit langem - und dies in einem Land, in dem Haushaltdefizit und Staatsverschuldung so außerordentlich sind, wie nirgendwo in der EU."

    Die Realität des französischen Sozialmodells , das ist der Abbau von 100.000 Krankenhausbetten in den letzten Jahren, die völlig misslungene Integration der Einwandererkinder aus Nord- und Schwarzafrika in den letzten zwei Jahrzehnten, ein öffentliches Schulsystem , aus dem die Jugendlichen massenhaft an Privatschulen fliehen oder Gefängnisse in einem Zustand , der nur noch in Moldawien schlimmer ist - wie jüngst der Menschenrechtskommissar der Europarates Gil Robles konstatierte.

    Kurzum : das französische Sozialmodell, das Staatspräsident Chirac auch beim EU- Gipfel wieder verteidigen wird, wirkt mittlerweile sozial so wenig ausgleichend, dass der schwelende soziale und politische Unmut im Land selbst kühle , analytische Köpfe dazu bringt, in Frankreich einen echten Aufruhr zu fürchten .Christoph Barbier, Autor mehrerer Bücher über die Ära De Gaulles und Mitterands:
    "Man hat den Eindruck einer vorrevolutionären Situation, in der die Summe der Unzufriedenheiten und der Unmut in sechs Monaten, in einem Jahr in eine Art Mini Revolution münden könnte, eine Art 2. Mai 68. Die öffentlichen Finanzen sind in einem katastrophalen Zustand, mindestens so katastrophal wie im Jahr 1788 und vielleicht sorgt der Bankrott des französischen Haushalts ja für den Funken einer kommenden Revolution."

    Was viele Beobachter in diesem Zusammenhang zusätzlich beunruhigt, ist die große Schwäche der auch untereinander noch zerstrittenen französischen Gewerkschaften. Ganz anders als zurzeit, als das französische Sozialmodell ins Leben gerufen wurde, sind sie heute einfach nicht mehr repräsentativ und als Gesprächspartner für Reform- und Zukunftsstrategien de facto ungeeignet. Denn : über 90 Prozent der französischen Arbeitnehmer sind gewerkschaftlich nicht mehr organisiert und die, die es noch sind, sind ganz überwiegend Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes - sie stellen bei den spektakulären Streik- und Aktionstagen das Gros der Truppen, wenn , wie Anfang Oktober, eine Million Demonstranten auf die Strasse gehen. Nochmals Christophe Barbier:

    "Man muss die blockierte Situation in Frankreich überwinden, die Korporativismen, die dazu führen, dass die Menschen zwar sehen, dass es schlecht läuft , sie aber Angst haben, ihre sozialen Errungenschaften zu verlieren. Also heißt es: ändern wir nichts, so behalte ich wenigstens meinen kleinen Vorhof, ändert man alles, verliere ich vielleicht was, also bin ich lieber konservativ; Und man sieht nicht, wie man diesen französischen Konservatismus durchbrechen könnte."