Freitag, 29. März 2024

Archiv

Französische Studie
Dschihadisten unter der Lupe

Wie wird man Dschihadist? Wer sind die europäischen Islamisten, die bereit sind, skrupellos zu töten? In Frankreich haben Wissenschaftler erstmals minutiös Lebenswege von Dschihadisten studiert, die zu Haftstrafen verurteilt wurden. Die Studie erscheint als Sachbuch am 8. September.

Von Margit Hillmann | 08.09.2017
    Der erste Schritt der Radikalisierung erfolgt meist auf eigene Faust im Internet
    Der erste Schritt der Radikalisierung erfolgt meist auf eigene Faust im Internet (imago stock&people)
    Politologe Xavier Crettiez sitzt am Schreibtisch seiner Pariser Wohnung, vor sich ein druckfrisches Exemplar von "Soldats de Dieu" - Gottes' Soldaten. Ein Sachbuch. Es basiert auf der Studie, die Xavier Crettiez zusammen mit einem Kollegen geleitet hat: mit dem Soziologen und Islam-Spezialisten Romain Sèze. Das Buch soll ein breiteres Publikum erreichen, und - so hofft der Politologe - mit Klischees aufräumen. Xavier Crettiez:
    "Der islamistische Terrorismus wird nicht nur auf zu einseitige Erklärungsmodelle reduziert. Aus einer gewissen Ratlosigkeit heraus wird er auch noch psychoanalysiert: Islamistische Terroristen seien Psychos. Lauter durchgeknallte Typen, die völlig irrational handeln. Wir haben festgestellt, dass die Dschihadisten nicht verrückt sind. Nicht verrückter als Mitglieder der RAF oder der Action directe, nicht dümmer als nationalistische Terroristen der ETA oder der korsischen Befreiungsfront."
    Islamisten contra Nationalisten
    Um herauszufinden, wie Dschihadisten tatsächlich ticken, wie sie sich radikalisieren, hat das Wissenschaftlerteam insgesamt 20 Fälle untersucht: 13 Islamisten und - zum Vergleich - sieben nationalistische Separatisten, alle verurteilt wegen 'Beteiligung an organisierter Bandenkriminalität in Verbindung mit einem terroristischen Unternehmen'. Das französische Justizministerium hat dem Team Zugang zu Prozessakten gewährt und - ein seltenes Privileg - Gespräche mit den streng bewachten Häftlingen im Gefängnis erlaubt. Immerhin die Hälfte der kontaktierten Dschihadisten war auf Anhieb bereit, mit den Wissenschaftlern zu sprechen.
    "Es sind Dschihadisten, denen die Justiz nachweisen konnte, dass sie in Syrien gekämpft und Bluttaten begangen haben oder dass sie Netzwerken angehören, die Gotteskämpfer nach Syrien schicken. Sie hatten Lust zu reden. Die Gespräche waren intensiv, dauerten immer mehrere Stunden. Außerdem hatten wir von den Justizbehörden Informationen über ihre individuellen Biografien. Also beste Voraussetzungen für eine sehr gründliche Untersuchung."
    Wer wird Dschihadist? Aus welchen Kreisen kommen sie? Darauf gibt die Studie keine klaren Antworten. Es gibt kein typisches Profil, keine klassische Biografie, konstatieren die Autoren der Studie. Die befragten Dschihadisten kommen aus allen sozialen Milieus: aus der Stadt, aber auch vom Land. Ihr Ausbildungsniveau reicht vom abgeschlossenen Studium bis zum Schulabbrecher ohne Abschluss. Ähnlich diffus die psychosozialen Voraussetzungen der islamistischen Häftlinge: Misshandlungen in der Kindheit, zerrüttete Familienverhältnisse oder etwa die oft als typisches Merkmal beschriebene Kleinkriminellen-Vergangenheit in den Banlieues - all dies hat sich in der empirischen Studie nicht als Regel bestätigt.
    Radikalisierung nach Schema F
    Ganz anders der Radikalisierungsprozess: Der verlaufe, so die Analyse der Wissenschaftler, nach eindeutigen Mustern und in mehreren Etappen. Niemand entscheidet sich, von heute auf morgen Dschihadist zu werden. Politologe Crettiez:
    "Sie radikalisieren sich auf eigene Faust im Internet, nur selten in wahabitischen oder salafistischen Moscheen. Sie haben sich nie in muslimischen Vereinen oder politischen Bürgerinitiativen engagiert. Sie interessieren sich als junge Erwachsene quasi aus dem Stand für einen radikalen Islam, obwohl sie überwiegend aus Familien stammen, die ihre Religion ganz aufgeben haben. Deswegen brechen sie auch oft mit der Familie. Die nächste Etappe ist für viele die Reise in ein muslimisches Land gewesen. Einige behaupten aus humanistischen Gründen. Die meisten sagen aber, dass sie dort Arabisch lernen wollten, um die Texte des Korans in der Sprache des Propheten lesen zu können."
    Die Reisen - ob nach Syrien, Ägypten, Jemen, Pakistan oder Mauretanien - seien in allen Fällen ausschlaggebend gewesen. Dort seien aus den radikalen Islamisten extrem gewaltbereite und fanatische Dschihadisten geworden, die sich vor Ort islamistischen Terrorgruppen angeschlossen haben.
    "Die Konfrontation mit der Realität dieser Länder wirkt wie ein emotionaler Schock, der sie prägt und antreibt. Sie sagen, sie hätten gesehen, wie schiitische Milizen sunnitische Zivilisten massakrierten. Oder sie hätten westliche Bombenangriffe erlebt. Mehrere der Dschihadisten, die wir getroffen haben, erzählen, sie seien in Ägypten und Jemen von der Polizei verhaftet und gefoltert worden. Traumatisierende Erfahrungen, die sie aber als Beweis dafür interpretieren, dass sie auf Gottes Weg sind, oder als göttliche Bewährungsprobe."
    Politische Soldaten
    In den Gesprächen berufen sich die französischen Dschihadisten immer wieder auf Mohammed, ihren Propheten, und auf den Koran. Ihre radikale Lesart der Schriften liefere ihnen auch das Alibi für ihre besonders grausamen Gewalttaten und Tötungsmethoden. Extreme Formen der Gewalt, die - das unterstreichen die Autoren der Studie - sich für die nationalistischen Terroristen von der ETA oder von der korsischen Befreiungsfront verbieten. Dennoch kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass sich Dschihadisten nicht fundamental von anderen Terroristen unterscheiden. Wie diese seien die Gotteskrieger entschlossene politische Soldaten. Sie kämpfen zwar für eine islamische Revolution - aber auch gegen die herrschende Weltordnung, wollen die Muslime aus dem Joch ihrer Unterdrücker und Ausbeuter befreien. Xavier Crettiez:
    "Sie sind politisch strukturiert, argumentieren ihre Diskurse: antiimperialistische Diskurse, der Widerstand gegen den Westen und das Thema Postkolonialismus - oft versetzt mit Verschwörungs-Mythen und Antisemitismus."
    Die Politisierung, die nach den Beobachtungen des Wissenschaftlerteams im Laufe einer Dschihadisten-Karriere zunehme, werde allgemein unterschätzt, die Rolle der salafistischen Ideologie dagegen überschätzt, resümiert Xavier Crettiez, der nach der qualitativen Studie nun eine repräsentative Studie vorbereitet.