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Frau Häuptling

Dieser Tage, vor exakt 116 Jahren, nimmt im nebelverhangenen London ein außerordentliches Unternehmen seinen Anfang. Eine Hundertschaft besorgter Zeitgenossen hat sich auf dem Bahnhof eingefunden, letzte sinnlose Warnungen werden ausgesprochen, Segenswünsche und Stossgebete liegen in der Luft. Tränen fließen, dann setzt sich der Zug Richtung Neapel in Bewegung.

Von Imogen Reisner | 18.05.2007
    Mit ihm reist eine reiche Amerikanerin mittleren Alters, ein paar enge Vertraute derselben und eine unüberschaubare Zahl an Gepäckstücken. Zelte, Tische, Stühle, Laternen, Gewehre, eine Badewanne, ein Palankin - das ist eine indische Sänfte - Kleider, fotografisches Material, Medikamente und medizinisches Gerät für ein mittelgroßes Hospital sind bereits auf dem Seeweg nach Afrika unterwegs.

    Wir schreiben das Jahr 1891, und die Verlegerin, Autorin und Übersetzerin May Sheldon ist auf dem Weg nach Mombasa. In ihrem heimatlichen Bekanntenkreis tummeln sich so schillernde Figuren wie Henry Morton Stanley, der den in Ostafrika verschollenen englischen Missionar Dr. David Livingstone aufspürte. Mit Männern dieses Schlages will Lady Sheldon es in puncto Wissensdurst und Unerschrockenheit partout aufnehmen.

    So bricht sie an einem Montagmorgen im April mit ihrer Karawane von 138 einheimischen Trägern ins Landesinnere, Richtung Kilimandscharo, auf. Ihr Weg ist voller Hindernisse - geistiger, klimatischer und bürokratischer Art. Er führt durch wegeloses Gelände, das Terrain zahlloser, teils verfeindeter Ethnien. Sheldons Ziel ist das Stammesgebiet der Massai und - der Einbruch in die männliche Domäne von Wissenschaft und Abenteuer.

    Tatsächlich ist es ein ungewöhnliches Unternehmen, wovon uns die Heldin in dem nun erstmals auf deutsch vorliegenden historischen Dokument mit großem Reichtum an Details erzählt. Es trägt den bezeichnenden Titel Bibi Bwana - was soviel wie Frau Häuptling heißt. Schließlich ist die unerschrockene amerikanische Lady - soweit bekannt - die erste weiße Frau, die eine afrikanische Karawane dieser Größenordnung eigenverantwortlich durch den Dschungel führt. Zu einer Zeit, wo es auf dem afrikanischen Kontinent tatsächlich noch weiße Flecken auf der Landkarte gab, wo Grenzstrreitigkeiten zwischen den englischen und deutschen Kolonialmächten an der Tagesordnung waren und die Stammestraditionen der Massai nicht nur unter Europäern für grauenerregende Vorstellungen sorgten.

    Die exzentrische Amerikanerin mit europäischem Bildungsweg - sie hat in Italien Kunst, Literatur und Medizin studiert - reist in großem Stil: mit viel Geld, gewaltigem Gepäck, einer Menge Personal und dem Ehrgeiz, wissenschaftlich verwertbare Entdeckungen mit nach Hause zu bringen. Das wird ihr auch gelingen. Unter anderem schlägt sie sich mit ein paar handverlesenen Begleitern zu dem geheimnisumwitterten Chala-See am Osthang des Kilimandscharo durch. Nur ganz wenige Europäer haben den Kratersee jemals zu Gesicht bekommen. Für ihre Arbeit als Geograpin und Geologin wird man sie später als eine der ersten Frauen überhaupt in den erlauchten Kreis der "Royal Geographic Society" aufnehmen.

    In den Dörfern, die sie im Zuge ihrer Expedition passiert, betätigt sich Bibi Bwana als Ethnologin, indem sie Schmuckstücke, Alltagsgegenstände und Fetische sammelt. Vor allem Kultgegenstände haben es ihr angetan. Für einen reich geschmückten Lendenschurz, der unter den Massai-Frauen nicht nur als Treuebeweis, sondern als unveräußerbar gilt, greift sie tief in die königliche Schatulle. Denn May Sheldon hatte nicht nur von den - wie sie sagt - "übertriebenen Maßnahmen der Möchtegern-Kolonisatoren" abweichende entwicklungspolitische Ideen, sondern sie trat auch überaus extravagant in Erscheinung: Als weiße Königin, ausgestattet mit der feinsten Tischwäsche und repräsentativer Garderobe. Die englische Originalausgabe vom August 1892 zeigt sie im paillettenbesetzten, weißseidenen Ballkleid mit blitzendem Schwert und blonder Langhaarperücke. So machte sie den Sultanen vor Ort ihre Aufwartung.

    Was dieses historische Dokument so lesenswert macht, ist nicht nur die außergewöhnliche Kühnheit, sondern auch die genaue Beobachtungsgabe und kritische Urteilskraft der Erzählerin. Die im übrigen nicht verschweigt, dass sie am Ende der Expedition sterbenskrank den Heimweg antritt und ihre Wissbegierde, aber auch ihre Maßlosigkeit, beinahe mit dem Leben bezahlt hätte.

    Ein wenig geschmälert wird die spannende Lektüre von Bibi Bwana durch editorische Nachlässigkeiten wie Druckfehler und - weniger verzeihlich - falsche biographische Angaben im Nachwort. Für die erste deutschsprachige Übersetzung hätte man sich mehr Sorgfalt gewünscht. Bedauerlich ist auch, dass der Lenos Verlag nicht wenigstens ein paar der von May Sheldon selbst geschossenen Fotografien aus der Originalausgabe übernommen hat, etwa von ihren Begleitern, von den vielen erworbenen Sammlerstücken und vor allem von den zahllosen Menschen, die ihr auf ihrer Safari begegnet sind.

    Für das Wagnis, dieses schillernde historischen Dokument endlich auch den deutschsprachigen Lesern zur Verfügung zu stellen, gebührt dem kleinen Schweizer Verlag dennoch ein großes Dankeschön.

    May Sheldon: "Bibi Bwana. Weiße Königin des Kilimandscharo"
    Aus dem Amerikanischen von Ruth Krügel Herrera und Giò Waeckerlin Induni
    Lenos Verlag Basel 2006 (gebundene Ausgabe)
    336 Seiten, 22,50 Euro