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Frau Merian! Eine Lebensgeschichte

Christel Wester: Maria Sibylla Merian hat Sie gut zehn Jahre beschäftigt. Bevor Sie das Buch "Frau Merian!" geschrieben haben, haben Sie ja auch einen Film über sie gedreht. Was fasziniert Sie so an dieser Figur?

Christel Wester | 01.08.2002
    Dieter Kühn: Als ich den Film gemacht hatte, der so halb Dokumentar-, halb Spielfilm ist, auch richtig mit Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt, war für mich so als Leitvorstellung die Frau, die Naturkundige oder Naturforscherin war, und die Malerin oder - wie man heute oft gegenüberstellt - Künstlerin war. Und diese Kombination von Kunst und Wissenschaft - mal grob gesagt - Kunst und Naturwissenschaft, um es zu präzisieren, ist ja heute ein Thema, was immer auf Tagungen, Konferenzen, Symposien und so weiter auftaucht. Immer wieder der Versuch, beide Bereiche zusammen zu führen. Und bei der Merian hatte ich den Eindruck, hier war das in Personalunion nach damaligen Maßstäben gelungen. Sie war Künstlerin und sie war - naturkundige Frau würde ich heute eher sagen als Naturforscherin. Und sozusagen ein Leitbild war sie da für mich. Das war der Punkt von dem ich ausging.

    Ihr Buch zeigt eine große Bewunderung für diese Figur, gleichzeitig demontieren Sie aber auch das Bild, was wir von ihr haben als großer Künstlerin und innovativer Wissenschaftlerin.

    Wenn man sich umschaut in der damaligen Zeit, und ich bin fast zum Stillebenexperten geworden, dann sieht man, dass eben schon ihre Großelterngeneration - speziell in Frankfurt mit Georg Flegel zum Beispiel - grandiose Stilleben, auch Pflanzen-, Blumenstilleben gemalt hat. Dass sie eigentlich eine Stillebenmalerin der bereits vierten Generation war, dass also vorher schon alles zur absoluten Perfektion gediehen war, die sie - man muss es deutlich sagen - nicht erreicht hat. Und in der Naturwissenschaft, da habe ich mich auch sehr umgesehen, ist eigentlich alles, was sie gesagt hat, schon halbe oder ganze Generationen vor ihr entdeckt worden. Und die Wissenschaften wurden schon sehr speziell. Aber sie hat sich auch selber nie so gesehen. Sie hat immer gesagt, sinngemäß, den Punkt müssen wir den Herren Gelehrten überlassen, oder: das kann ich nicht entscheiden, das sollen mal die Herren Gelehrten entscheiden. Also sie hat sich nie als Forscherin gesehen, sondern hat beobachtet - und gemalt.

    Sie war aber auch eine sehr selbstbewusste und selbständige Frau. Sie hat ihren Mann verlassen, sie hat eine große Reise nach Surinam unternommen...

    Das hat sich ergeben mit einem offenbar etwas schwächeren Ehepartner, mit dem Herrn Graff mit zwei ff, der auch ein Schüler ihres Stiefvaters war. Ein sehr ordentlicher Städte- und Landschaftsdarsteller, guter Zeichner. Aber sie war offenbar dann doch die Frau, die etwas mehr Power in der Beziehung hatte. Und es kam dann, wie Sie auch schon andeuteten, zur Trennung, was damals ein absolutes Novum war, dass die Frau sich vom Mann trennt. Aber das war nun eine so lange und komplizierte Geschichte, ich glaube, da würden wir unsere kurze Gesprächsdauer mit sprengen, wenn ich das jetzt im Einzelnen darlege. Das lief auch über die pietistische Kommune, in die sie sich mit ihrer Mutter und ihren beiden Töchtern zurückgezogen hatte, und wo er dann nachgereist war, und wo er auf den Knien um die Fortsetzung der Ehe gebeten hat. Und sie hat ihn dann sehr harsch zurückgewiesen. Eine lange und bittere Story. Aber sie hat sich befreit.

    Sie sind der Merian ja nicht nur ins 17. Jahrhundert gefolgt, sondern Sie haben sich auch in Ihrem eigenen Alltag von ihr inspirieren lassen. Sie haben Raupen beobachtet, Hornissen in Ihrem Haus geduldet...

    Ja, es wird einem ja immer wieder die Frage gestellt, wie kommst du oder wie kommen Sie zu dieser Person. Und da wollte ich mal deutlich machen, das ist keine ganz freie Entscheidung. Da spielen sehr viele Faktoren mit, und deshalb habe ich in dieser Biografie etwas gemacht, was glaube ich noch nie in einer Biografie gemacht wurde. Ich habe drei große Kapitelsequenzen eingeführt. Das Buch heißt "Frau Merian", und die Kapitel hatten noch die Überschrift "Frau Merian und ich". Das war jetzt keine Demonstration von Eitelkeit, sondern erstmal: Wie komme ich dahin, und habe dann entdeckt, dass ich schon in relativ frühem Alter mich für Naturwissenschaften interessiert hatte. Und dann ist natürlich auch die Frage, wie wirkt sich eine so lange Beschäftigung mit solch einer Naturwissenschaftlerin oder Naturkundigen und Malerin aus. Und da habe ich festgestellt - was Sie eben so andeuteten - ich bin ganz anders umgegangen mit Tieren, also mit Kleintieren, mit Insekten als vorher. Mir kriecht meinetwegen, wenn ich einen Salat mache, aus einem Radieschenbündel eine Raupe entgegen, die hätte ich in Vor-Merian-Zeiten auf ein Kehrblech getan und höflich in den Wald expediert, und hier fing ich an, die dann zu füttern und zu beobachten und so. Also da hat sich eindeutig was übertragen. Und das wollte ich auch mal mit erzählen.

    Und das fließt ja alles in Ihr Buch ein. Sie breiten nicht nur ein Panorama des 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts aus, sondern erzählen ganz viel über Flora und Fauna, und man hat zwischendurch den Eindruck, dass Sie da doch eine Universalenzyklopädie vorlegen wollten.

    Ich versuche bei einer Biografie immer eine Form zu entwickeln, die der Person entspricht und der Zeit entspricht. Und was damals ganz en vogue war und was heute wieder entdeckt wird, sind die sogenannten Kunst- und Naturaliensammlungen oder Kunst- und Universalkammern oder wie auch immer das hieß. Das heißt, man hatte da Naturobjekte, und man hatte da auch Büsten, man hatte da auch Bilder. Also Kunst und Wissenschaft waren gleichrangig vertreten, und das waren meistens riesige Sammlungen mit Tausenden von Objekten, wo man immer was Neues entdecken konnte. Und so ein bisschen wie eine Natur- und Wunderkammer oder Kunstkammer sollte auch das Buch werden.

    Insgesamt ist es aber so, dass es doch sehr wenige Originalquellen von der Merian gibt. Und ist es da nicht auch ein riskantes Unterfangen, eine Biografie zu schreiben bei dieser Quellenlage.

    Na, es gibt immerhin 19 Briefe von ihr. Und es gibt eben ihre zum Teil ja ganz persönlich eingefärbten Aufzeichnungen zum Raupenbuch, zum Surinambuch, wo sie auch von sich erzählt, wie sie da von Eingeborenen oder von ihren Sklaven, die sie ja gekauft hatte, seltene Pflanzen oder seltene Insekten gebracht kriegt. Also sie vermittelt schon einiges von sich selbst, aber ein Kapitel, was zum Beispiel total unüberliefert ist, ist die Seereise nach Surinam. Da war sie zwei bis drei Monate unterwegs mit ihrer jüngeren Tochter, die damals Anfang zwanzig war. Und aus ihren Briefen ist nichts darüber zu entnehmen. Trotzdem habe ich es nicht übers Herz gebracht, zu schreiben: Sie ist dann 1699 dann und dann abgereist und 1700 dann und dann angekommen in Paramaribo in Surinam, sondern ich will die Seereise vergegenwärtigen, um klar zu machen, was die Frau auf sich genommen hat. Und da gibt es eben, wenn man sich umschaut, Berichte von Zeitgenossen, meinetwegen von einem Dominikanerpater, der als Missionar auch in die Gegend gefahren ist. Wie ging es damals auf den Schiffen zu, die 30 Meter lang waren, und auf die dann nachher vor Afrika noch 600 Sklaven zugeladen wurden. Das alles ist reichlich überliefert, und wenn man dann das zusammen montiert erzählerisch, ergibt sich dann doch ein ganz konkretes Bild auch von dem, was diese Frau erlebt hat. Auch wenn das in der Form jetzt nicht von ihr sozusagen beglaubigt und abgestempelt ist. Aber im Schnitt ist eine Reise so und so verlaufen. Und das erzähle ich.

    Und es war Ihnen wichtig, die Vergangenheit, die Sie erzählen, an die Gegenwart anzubinden.

    Ja: Aber um deutlicher zu machen, wie unsere Gegenwart beschaffen ist. Und das ist für mich ja auch der Hauptpunkt, weshalb ich mich überhaupt in diese fernen Zeiten begebe. Ich habe das früher immer verglichen so, wenn jemand einen Befund an irgendeinem Organ hat, und man will das röntgentechnisch genauer feststellen, dann wird da eine Kontrastmittellösung injiziert. Und so ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit so etwas wie eine Kontrastmittellösung mental, die uns deutlicher macht, wie wir heute leben, fühlen, denken, arbeiten und so weiter. Das heißt, wir gehen immer von der Gegenwart aus, gehen in die Vergangenheit und kehren zu der Gegenwart zurück. Sonst wären diese Expeditionen vollkommen witzlos. Jedenfalls in meinen Augen. Wenn wir nicht deutlicher erkennen würden, wie wir heute sehen, denken, hören, fühlen.