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Frauen im Dschihad
Die Geschichte einer Indoktrination

Als die in Berlin-Neukölln aufgewachsene Autorin und Journalistin Güner Yasemin Balci von der Radikalisierung eines Mädchens aus ihrer ehemaligen Nachbarschaft erfuhr, begann sie zu recherchieren. In ihrem Buch "Das Mädchen und der Gotteskrieger" zeigt sie, wie und warum so viele junge Frauen in den letzten Jahren zum IS gekommen sind.

Von Ralph Gerstenberg | 15.08.2016
    Arabische Muslima mit Burkas spazieren in der Innenstadt von München.
    Auch wenn der Anstoß zum Buch konkret war: Balcis Protagonistin ist keine real existierende Person. Die Autorin hat sie vielmehr aus verschiedenen Einzelfällen und Charakteren zusammengesetzt. (imago / Ralph Peters)
    Nimet ist 16 und lebt in Berlin. Ein ganz normales türkischstämmiges Mädchen, das nach der Scheidung ihrer Eltern mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester in einer Zweieinhalbzimmerwohnung lebt. Mit ihrer Freundin Cayenne geht sie in Clubs und flirtet mit Jungs, die sie, lange bevor es ernst wird, selbstverständlich abblitzen lässt. Denn auch wenn sie kein Kopftuch trägt und nicht regelmäßig in die Moschee geht, ist Nimet Muslimin und einem bestimmten Regelwerk unterworfen, erklärt Güner Yasemin Balci, die in ihrem Buch "Das Mädchen und der Gotteskrieger" Schritt für Schritt die Geschichte einer Indoktrination erzählt.
    "Nimet ist so ein klassisches Beispiel für eine Generation von Einwandererkindern, die so eine Identitätskrise leben, die ihnen noch gar nicht so bewusst ist. Auch wenn Nimet sich schminkt, mit offenen Haaren herumläuft, sich mit ihrer Freundin trifft, dann ist doch relativ klar, dass die Eltern es nicht vorgesehen haben, dass sie jetzt ein völlig emanzipiertes Leben lebt. In der Erziehung schwang schon immer mit, dass sie Jungfrau bleibt bis zur Ehe, dass sie jetzt nicht sofort einen deutschen Freund hat, dass das alles nicht so ganz easy ist. Das ist schon mal etwas, was das Leben dieser Mädchen hier sehr erschwert. Das unterscheidet sie schon immer von den andern."
    Auch wenn der Anstoß zum Buch konkret war, Balcis Protagonistin ist keine real existierende Person. Die Autorin hat Nimet vielmehr aus verschiedenen Einzelfällen und Charakteren zusammengesetzt. So ist das Buch zwar das Ergebnis einer langjährigen Recherche, doch handelt es sich keineswegs um eine Reportage, wie es noch im Umschlagtext heißt.
    "Für mich ist es ein Roman, der auf realen Geschichten basierend entstanden ist. Ursprünglich war aber die Idee, das in Form einer Reportage zu machen. Ich bin dann aber sehr schnell davon abgekommen, weil ich ganz gerne junge Leute damit erreichen wollte, die sich dann in diese Geschichte auch hineinsteigern können und das auch spannend finden und am Ende eine gesamte Geschichte in einer Einheit erzählt bekommen und nicht kleine Einzelteile von einzelnen Personen als Reportage. Das war dann nicht das, was ich machen wollte, am Ende."
    "Bei Saed war alles echt (...), er hatte diese Magie in seinen Worten"
    Die Geschichte ist schnell erzählt: Nimet lernt die vollverschleierte Konvertitin Nour kennen, die sich in einer streng religiösen Gemeinschaft von Frauen bewegt. Nach und nach findet Nimet Gefallen an religiösen Riten und den klaren Antworten auf die drängenden Sinnfragen der Heranwachsenden. Ihr bisheriges Leben erscheint ihr plötzlich oberflächlich und unmoralisch. Zeitgleich beginnt der nach Syrien gereiste Gotteskrieger Saed über WhatsApp Kontakt mit ihr aufzunehmen. Was Nimet nicht weiß: Ihre Nummer hat er von Nour, die als "Seelenfängerin" für den IS gezielt junge Frauen und Mädchen anwirbt. In seinen Kurzmitteilungen bezeichnet er Nimet als "Geschenk Gottes" und seinen "Morgenstern". Er bringt ihr bei, wie man richtig betet und gibt ihr das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein - auserwählt von Allah für ein Leben an seiner, Saeds, Seite.
    "Bei Saed war alles echt (...), er hatte diese Magie in seinen Worten, die nur einer haben kann, der Schönheit in seinem Herzen trägt. Sie bebte jedes Mal innerlich, wenn sie seine Zeilen las, und fühlte sich im selben Moment unzulänglich, nicht gut genug für jemanden wie ihn. Sie würde noch viel lernen müssen, das war ihr bewusst, und es fiel ihr oft schwer, den Koran, dieses unendlich heilige, einzigartige Buch, zu lesen und zu verinnerlichen. Es war gut, dass es Nour und die anderen Frauen gab, die sie regelmäßig in die Moschee und den kleinen Schleiermodenladen mitnahmen."
    "Wenn da dann jemand kommt, der auf einmal alles über diese Religion weiß und so belesen und gelehrt ist, dann imponiert das diesen Mädchen. Sie möchten nämlich auch richtige Musliminnen sein und wissen gar nicht, wie das geht. Und dann kommt einer und sagt: Also wenn du eine Richtige sein willst, musst du diese Regeln befolgen, die ich dir jetzt hier erzähle. Und da ist eine ganz große Lücke bei uns in der Gesellschaft, dass genau dieses Bedürfnis nach Spiritualität von muslimischen Jugendlichen in keiner Weise irgendwo auf eine akzeptable Art befriedigt wird. Und das ist das große Problem."
    Güner Yasemin Balci zeigt auf nachvollziehbare Weise, wie Nimet in dem Gefühl, endlich ihre wahre Bestimmung gefunden zu haben, sich mehr und mehr von ihrer Familie und ihren Freunden entfernt und Saed, der inzwischen bei Kampfhandlungen verwundet wurde, an die syrisch-türkische Grenze folgt. Neben dem unbefriedigten Bedürfnis nach Religiosität und dem patriarchalischen Reglement in vielen Einwandererfamilien sieht Balci als weitere Ursache für die Radikalisierung muslimischer Mädchen deren unterdrückte Sexualität.
    "Ich glaube, wenn diese Mädchen eine befreitere Sexualität erfahren würden, könnten die gar nicht mehr empfänglich sein für diesen Mist. Also dafür, dass da ein Mann irgendwo in der Walachei sitzt, andere Menschen umbringt und behauptet: Du bist dann die Königin an meiner Seite, weil du bist rein und einzigartig, du bist meine Jungfrau. Also das könnte gar nicht mehr funktionieren, wenn diese Mädchen und auch die jungen Männer einen gesunden Umgang mit Sexualität erlernen würden."
    "Das Mädchen und der Gotteskrieger" ist ein im besten Sinne aufklärerisches Stück Literatur. Ohne erhobenen Zeigefinger zeigt Güner Yasemin Balci darin, welche Mechanismen bei der Anwerbung junger Mädchen für den IS ineinander greifen. Bei jedem Wort, jedem Satz dieser Autorin, die lange Zeit in einem Neuköllner Mädchentreff gearbeitet hat, spürt man, dass sie die Menschen und die Milieus kennt, über die sie schreibt - dass sie weiß, wie diese Mädchen ticken. Und genau das macht dieses Buch so wichtig, dass es einen Ton findet, der diejenigen anspricht, um die es geht: junge Mädchen wie Nimet, die auf einem ähnlichen Weg in die Fänge des selbsternannten "Islamischen Staates" geraten könnten, aus dem nur wenigen die Rückkehr gelingt.
    Güner Yasemin Balci: "Das Mädchen und der Gotteskrieger"
    320 Seiten, 19,99 Euro