Wie bei Ibsen ruft auch bei Ostermeier Thorwald seine Frau mit lächerlichen Kosenamen. Unter der coolen Lockerheit, mit der dieser Mann von heute Nora als sein Vögelchen und Eichhörnchen tituliert und dirigiert, oder neu und mehrdeutig als seine Schnecke, klingt ostinat die alte Macho-Melodie. Deshalb begehrt Nora später mit den Worten auf: "Ich bin nicht deine Barbiepuppe". So feiern in diesem loftigen Heim bei der jungen Erfolgsgeneration von heute alte spießige Rollenmuster unfröhlich Urständ. Nicht von ungefähr muss man an die erfolgreich gespielten oder wirklich gefühlten Rollen von Verona, Naddel und Dieter Bohlen denken. Und während Nora bei Ibsen von ihrem Mann für eine Tarantella gedrillt wird, kommt sie bei Ostermeier halbnackt und blutig mit Pistolenhalftern vom Ball, bei dem sie so von ihrem Mann präsentiert wurde. Zitiert wird ein Frauenbild, in dem, wie bei der Internetfigur Lara Croft und wie in Madonnas neuem Video, die sexuell attraktive Frau zwar mit Waffen ausgestattet ist, aber zugleich weiter blutiges Opfer bleibt. Was Thorwald so stark animiert, dass er ihr sofort an die wenige Wäsche will. Wobei die wunderbare Anne Tismer die Nora keineswegs als ein berechnendes Dummerchen spielt. Tismers Nora ist eine Figur mit vielen Wahrheiten und Möglichkeiten. Voller Stolz, aber auch, wie alle in diesem Stück, voller sozialer Besitzängste. Wie Anne Tismer die naiv-trotzige, ängstlich-selbstbewusste, fügsam mitspielende Nora zu einer Figur macht, die unter ihrer angenommenen Rolle der Angepasstheit unterdrückte, aber auch selbst weggedrückte Möglichkeiten ahnen lässt, das macht diese Inszenierung so aufregend. Die Unfähigkeit zu wahrem Dialog und echter menschlicher Wahrnehmung eines anderen Menschen werden in dieser Figur sinnlich wahrnehmbar. Jörg Hartmann dagegen spielt ihren Mann recht eindimensional, und Kay Bartholomäus Schulze versucht die unterdrückten Emotionen des gescheiterten, Nora zunächst erpressenden Krogstadt maniriert aufgesetzten Ausbrüchen zu verdeutlichen.
Jenny Schily als illusionslose Jugendfreundin Noras, die sich mit Krogstad in einer pragmatischen Beziehung zusammenfindet, lässt dagegen ihre Frau Linde mit schöner Nüchternheit patent und heutig wirken. Während Lars Eidinger dem todkranken Hausfreund Doktor Rank allzu viel spielerische Schrillheit gibt. Er sagt in Hinrich Schmidt-Henkels elegant in einen heutigen Sprachsound gebrachter Übertragung auch mal Sätze wie "du droppst aber auch ganz schön fashion". Nun ja... Am Schluss, wenn die Gefahr gebannt ist, die aus Noras gefälschter Unterschrift unter einen Wechsel drohte, mit dem sie das Geld für eine lebensrettende Reise für ihren kranken Mann ohne dessen Wissen besorgt hatte, und wenn ihr Mann, der sie verstoßen wollte, mit Begeisterung über die soziale Rettung mit ihr weiterleben will wie bisher, mutiert die Schaubühnen-Nora zu einer Automatenfrau. Die ihre emanzipatorischen Entdeckungen so steinern unecht aufsagt, als sei dieser Umschwung in die Bewusstheit, der ja auch ein Fall aus aller erkauften Sicherheit ist, dem Regisseur und seiner Hauptdarstellerin unheimlich.
Während Ibsen seine Nora ihre Familie für eine unsichere Freiheit selbstbewusst hinter sich ließ, und sie in frühen Entwürfen auch schon mal im Selbstmord enden ließ, und während Elfriede Jelinek in ihrem Stück "Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte" Nora in einem Berufsleben scheitern ließ, dass wiederum die Prostitution verlangte, scheitert Ostermeiers Nora in der Revolte. Sie erschießt ihren Mann. Nachdem sie ein ganzes Magazin auf ihn leergefeuert hat, putzt sie die Pistole spurenlos blank, legt sie aufs Sofa und verlässt das Haus. Doch schon vor der Tür packt sie die Ratlosigkeit: sie lehnt sich an die geschlossene Tür, sinkt in die Knie und weiß nicht weiter. Ein starker offener Schluss in einer inszenatorisch kräftigen und schauspielerisch heterogenen Inszenierung, die ihr zu Recht umjubeltes Zentrum in der famosen Anne Tismer besitzt.
Link: mehr ...
393.html