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Freie Bahn für das Blut

Medizin. - Auf der 75. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie in Mannheim haben Mediziner brandneue Studien vorgestellt mit zum Teil erstaunlichen Ergebnissen. Die Gefäßröhrchen, kurz Stents, sind weit besser als ihr Ruf, und die aufwendigen und teuren Bypass-Operationen sollten sehr schweren Fällen von Gefäßverschlüssen der Herzkranzgefäße vorbehalten bleiben.

Von Klaus Herbst |
    "Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass sich auch Herzchirurgen durchaus Stenst implantieren lassen."

    Stents sind auf dem Vormarsch. Oft haben sie bedeutende Vorteile im Vergleich zur aufwendigen und riskanten Bypass-Operation, sagt der Kardiologe Albert Schömig. Er ist Leiter des Deutschen Herzzentrums in München. Stents sind kleine medikamentenbeschichtete Gefäß-Röhrchen, die verschlossene Gefäße wieder öffnen. Bei den meisten Patienten, etwa 90 Prozent, bleiben sie dauerhaft offen.

    "Stentimplantation ist eine der wirklich fortschrittlichen Möglichkeiten, mit denen wir die koronare Herzkrankheit behandeln können. Und das ist klar, bei vielen Patienten reicht ein Stent aus, eine Verengung zu beseitigen. Manche Patienten mit längeren Veränderungen oder auch Veränderungen an mehreren Gefäßen brauchen, wenn man diese Methode aus gutem Grund einsetzt, dann eventuell mehrere Stents."

    Selbst wenn sich ein Stent verschließen sollte, kann er wieder geöffnet werden, der Patient muss nur einige Tage im Krankenhaus bleiben. Das sei im Vergleich zum Bypass nur eine Unbequemlichkeit, meint Schömig. Bei einer Bypass-Operation gäbe es lokale Folgen:

    "Die Patienten nach Bypass-Operationen haben natürlich häufig thorakale Beschwerden über viele Monate, unter Umständen sogar Jahre. Das ist für viele eine mehr als lästige Begleiterscheinung."

    Nach einer Bypass-OP mit geöffnetem Brustkorb und Herz-Lungen-Maschine ist der Patient mehrere Monate ein Fall für die Rehabilitation. Postoperative Schmerzen im Brustbereich oder Atembeschwerden gehören zu den eher harmlosen Komplikationen. Am gefährlichsten ist der Schlaganfall, dessen Folgen Menschen dauerhaft behindern, wenn sie ihn überleben. Nach einer Bypass-OP kommt der Schlaganfall viermal häufiger vor als nach dem Einsetzen der Gefäßröhrchen. Das haben Ergebnisse der so genannten SYNTAX-Studie gezeigt, die im März veröffentlicht worden ist. Noch selten untersucht sind so genannte psychokardiale Folgen. Patienten nach einer Bypass-Operation wirken häufig wesensverändert. Sie sind besonders empfindlich, oft leicht erregbar und können sich nicht mehr gut konzentrieren. 50 Prozent leiden an einer posttraumatischen Depression. So ist es nicht verwunderlich, dass in Deutschland pro Jahr 80 Tausend Operationen 280.000 Stents gegenüberstehen, was nicht nur am stark unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad liege. Jeder Fall ist ein Einzelfall, und deshalb müsse die Entscheidung in Ruhe besprochen werden, was sehr oft vernachlässigt werde – möglichst zusammen mit einem Kardiologen und einem Herzchirurgen, und an einem Zentrum, an dem beide Spezialisten präsent sind.

    "Die Aufklärung findet nicht am Tisch in dieser Zwangssituation statt. Die muss natürlich in einer Situation stattfinden, in der der Patient nicht unter Druck ist. Das hat man dann vorher schon geklärt. Es gibt natürlich Situationen, die sehr komplex sind, wo beide Möglichkeiten diskutiert werden müssen. Dann muss man sich die Zeit nehmen, eventuell einen zweiten Eingriff – oder eben die Bypass-Operation dann durchführen als zweiten Eingriff."

    Stent oder Bypass? Das ist immer auch eine individuelle Entscheidung des Patienten. Manchmal ist keiner der beiden Eingriffe nötig. Bei Gefäßverschlüssen unter zehn Prozent reichen die klassischen Medikamente, zum Beispiel Betablocker, ACE-Hemmer und blutverdünnende Substanzen aus, sagt der Kardiologe Karl Werdan vom Universitätsklinikum Halle Saale – der auf dem Kardiologentag in Mannheim sogar auf einen neuen Risikofaktor hingewiesen hat.

    "Hinsichtlich der medikamentösen Behandlung ist in den letzten ein bis zwei Jahren eine wichtige Erkenntnis dazugekommen, nämlich dass eine zu hohe Ruhepulsrate, eine Ruhepulsrate über siebzig Schlägen pro Minute bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit einen eigenständigen Risikofaktor darstellt. Das bedeutet, dass die Patienten, die eine Ruhepulsrate über siebzig Schläge pro Minute haben, dreißig bis fünfzig Prozent mehr Herzinfarkte, Todesfälle, Herzmuskelschwäche erleiden werden in den nächsten zwei Jahren als diejenigen, bei denen diese Ruhepulsrate unter siebzig Schlägen pro Minute liegt."

    Nur wenn der Ruhepuls mit Betablockern und einem neuen Medikament, das Werdan gerade klinisch testet, auf 60 Schläge eingestellt wird, sinke das Risiko deutlich. Ein Ruhepuls ab 80 Schlägen pro Minute sei für alle Menschen gefährlich – nicht nur für Herzpatienten.