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Freies Theater - quer durchs Ruhrgebiet

Gespielt wird in Köln, Düsseldorf oder Mülheim - und zu sehen gibt es die besten Produktionen der freien deutschen Theaterszene. Das "Impulse"-Festival zeigt heute das, was morgen an den großen Stadttheatern aufgeführt wird.

Von Dina Netz |
    "Mein Vater respektiert Menschen, die immer ihre Freiheit bewahren. Egal ob sie in komplizierten Beziehungen oder in schwierigen Situationen stecken. Und sie haben keine Schuldgefühle. Wenn man sich den Respekt von meinem Vater sichern möchte, dann sollte man Bescheid wissen über die Dinge, die ihn auch interessieren. Zum Beispiel Theater, aber nicht alles: Peter Brook, Giorgio Strehler und Peter Stein."

    Mit "Testament" von She She Pop begannen die diesjährigen "Impulse", einer zu Recht auch schon zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Produktion. Die Darstellerinnen und Darsteller haben einen Abend zusammen mit ihren Vätern gestaltet, bei dem sie vor der Folie von Shakespeares "König Lear" den Generationswechsel vollziehen, gemeinsam überlegen, was geschehen soll, wenn der Vater pflegebedürftig wird, wie das Erben ablaufen soll. Sie streiten sich darüber, ob ihre Gefühle auf der Bühne zur Schau gestellt werden, verzeihen sich, erklären sich ihre Liebe – das Publikum ist zu Tränen gerührt, was im Theater nicht eben häufig vorkommt.

    "Willkommen, meine Damen und Herren, mein Name ist Inga. Ich bin für die Marathons zuständig. Falls Sie Fragen haben, können Sie mich jederzeit fragen. Allen eine gute Reise, habt Spaß."

    Damit die internationalen Kuratoren und Kritiker sich schnell einen Überblick über die deutschsprachige freie Theaterszene verschaffen können, haben die "Impulse"-Chefs Matthias von Hartz und Tom Stromberg die Marathons erfunden, bei denen man im Bus durch Nordrhein-Westfalen von Spielstätte zu Spielstätte gefahren wird. Erste Station: Köln, Studiobühne. Eine Frau sitzt allein an einem Konferenztisch und hält eine engagierte Rede:

    "I think we all come to this point where we say: What can I as an individual do?"

    Die österreichische Performerin Anna Mendelssohn befragt sich in "Cry me a River", wie sie ihrer weltpolitischen Verantwortung gerecht werden kann – wo sie sich doch im Grunde ihres Herzens auch bloß nach dem richtigen Mann, genug Sex und einer guten Beziehung zu ihrer Mutter sehnt. Aber irgendetwas in ihr schmilzt, sie weint um die schwindenden Polkappen – allerdings malt sie sich die Tränen mit einem weißen Lippenstift auf. Nach dieser eher spröden Performance sichtlich irritiert, greift das Publikum im Bus dankbar zu den gereichten Lunchbags:

    "Eine Tüte mit Stulle, Käse, Salat. Und ein Stadt-Land-Fluss-Spiel, dessen System ich noch nicht ganz verstanden habe."

    Schauspieler-, Schriftsteller- und Sängernamen soll man eintragen – die "Impulse"-Macher versuchen wirklich alles, um ihr Publikum bei Laune zu halten. An der nächsten Station spricht aber auch das Theater für sich. Im Düsseldorfer Forum Freies Theater ist wieder ein Konferenztisch aufgebaut. An ihm treffen sich in der Performance "Tagfish" per Video sechs Leute, die so nie zusammengesessen haben: ein Architekt, ein Grafikdesigner, ein Planungsdezernent, ein Lokaljournalist usw., die beteiligt waren an einer Großinvestition eines saudischen Scheichs auf Zeche Zollverein in Essen – die nie zustande kam. Das Performer-Duo Berlin hat mit allen einzeln Videointerviews geführt und diese geschickt und witzig zu einer Konferenzsituation montiert.

    "Weil die Kulturen unterschiedlich sind, gab es viele Verzögerungen, jetzt schon. Aber immer war die deutsche Seite verzögert. Ich kenn keinen einzigen Fall, wo der Scheich verzögert hat. Es ging ratzfatz mit dem Vorvertrag. Dann wurde verzögert, weil man nicht wusste, ob man so hoch bauen darf oder nicht so hoch..."

    "Tagfish" ist ein charmantes Lehrstück in deutscher Verwaltungsbürokratie, aber auch über unterschiedliche Wahrnehmungen und die Konstruktion von Wirklichkeit, nicht nur in der Politik.

    Formal trennen die beiden Produktionen zwar Welten, aber inhaltlich sind wir damit schon ganz nah bei "Trans-Europa-Bollywood" von God's Entertainment aus Österreich. Die Gruppe will die landläufigen Indien-Klischees dekonstruieren, indem sie sie bedient. Und dabei muss das Publikum mitspielen:

    "Guten Abend. Sie kennen doch alle das Spiel "1, 2 oder 3": eine Frage, drei Antworten. Und wenn Sie die richtige Antwort haben, haben Sie ein Ticket nach Indien mit God's Entertainment-Airlines."

    Die Verlierer sind allerdings viel besser dran, sie dürfen auf einem indischen Markt eine Tanzchoreografie einstudieren, die zur Begrüßung der Fluggäste aufgeführt wird – das alles wird gedreht für einen Bollywoodfilm. Danach wird das Publikum in einem Taxi-Corso durch Kölns Innenstadt zu einem indischen Restaurant chauffiert, wo es mit Abendessen und Bollywoodparty weitergeht.

    Nichts gegen eine Performance, die in einer Party gipfelt – aber das Performative kam doch ein bisschen kurz bei "Trans-Europa-Bollywood".