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Freies Wort im Urania

Der vom Haus der Kulturen der Welt ausgeladene Thilo Sarrazin diskutierte nun im Bildungszentrum Urania in Berlin mit dem ehemaligen Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek seine umstrittenen Thesen.

Von Frank Hessenland |
    Nachdem Sarrazin am Vorabend seinen Austritt aus dem Bundesbankvorstand erklärt hatte, waren die Provokationserwartungen bei manchen besonders hoch. Sie wurden nicht erfüllt.

    Entgegen Befürchtungen, die sich in der massiven Polizeipräsenz vor dem Haus, den Sicherheitskontrollen und Sarrazins Personenschützern auf der Bühne ausdrückten, hatte der Noch-Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin gestern ein "Heimspiel" vor 800 Zuschauern in der Bildungsstätte Urania in Berlin. Linke Plakatträger gab es, jedoch ausschließlich "Pro Sarrazin":

    "Ich bin schon, wenn sie so wollen aus dem Arbeitermilieu und dementsprechend ist auch meine Einstellung, aber so kann's doch nicht weitergehen. Es können doch nicht Leute hierherziehen, die weder die Sprache sprechen, noch das Land mögen, die die Leute hassen, die hier wohnen und dann von Sozialhilfe sofort leben. Das kann doch nicht wahr sein, kann mir das einer erklären!"

    Minutenlanger Beifall des fast ausschließlich deutschen Publikums im Saal, wurde abgelöst durch Elogen von Publizist und ehemaligen Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek:

    "Er ist als Rassist beschimpft worden, als Antisemit und das ist ein Fallbeispiel wie man jemand tatsächlich mundtot machen kann.""Wissen Sie Herr Sarrazin, Sie erinnern mich an eine Theaterfigur von Botho Strauss: Kalledewey, Farce! Kalledewey ist einer, der in eine feine Gesellschaft rein platzt, da auf dem Teppich rumsteht und lauter unverschämte Sachen sagt. Und die Leute wissen nichts mit ihm anzufangen. Und das ist eine äußerst heilsame Figur und heilsame Wirkung.""

    Emotionalen Gegenwind bezog Sarrazin allerdings vom deutsch-iranischen Filmemacher Ali Samadi:

    "Ich hab das Gefühl, dass ich mein Deutschland nicht wiedererkenne. Ich mach mir Sorgen über das Deutschland von heute. Ich mach mir Sorgen, nicht nur 16 Millionen Menschen, sondern um mich und meine Familie und um unsere Unversehrtheit."

    Sachlich ging der Molekularbiologe und Darwin-Biograph Jürgen Neffe Sarrazins genetische Hypothesen an, indem er Thesen aus dem Buch kommentierte:

    "... Für einen Großteil dieser Kinder, sie meinen tatsächlich ... Unterschicht, das heißt Sie verfassen keinen Rassismus, wie man Ihnen vorwirft, sondern einen Klassismus. Für einen Großteil dieser Kinder ist der Misserfolg mit ihrer Geburt bereits besiegelt. Das ist biologisch falsch. Sie erben erstens gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern, auch falsch, wird Ihnen jeder Genetiker sagen, und werden durch deren Bildungsferne und generelle Grunddisposition benachteiligt: Richtig! Wenn Sie sich auf den Punkt konzentrieren würden, dann gibt es auch einen Hebel, wo wir was retten können.""

    Was der Moderator Christhard Läpple, Vizechef des ZDF Kulturmagazins Aspekte, jedoch vermied zu diskutieren, war der Forderungskatalog in Sarrazins Buch und den Titel der Veranstaltung, wie Zuschauer bemängelten:

    "Es landet immer bei den Genen und Genen und eigentlich wurde nicht darüber gesprochen: Migrationspolitik und politische Kultur in Deutschland."

    Folgt man Sarrazins Buch, muss auch die deutsche Politik wie die amerikanische den Familiennachzug von arbeitslosen Migranten in die deutsche Sozialhilfeversorgung unterbinden. Ein Reizthema für die Linke. Nach Sarrazin sollen Kindergärten für alle Kinder ab drei Jahren sowie Ganztagsschulen eingeführt werden. Reizthemen für die Union. Und: Eine einmalige Kinderprämie von 50.000 Euro pro Kind – welche dem 25-jährigen Kindergeldanspruch eines Kindes entspräche – würde akademisch gebildeten Eltern aus der selbst gewählten Unfruchtbarkeit helfen sollen. In diesen praktischen Ideen liegen Sarrazins Zumutungen, die er gestern für sich behielt. Nur gegen die Bundeskanzlerin sticheln wollte er doch:

    "Ich habe ja Frau Merkel auch gesehen, als sie den Preis vergab an den Kurt Westergaard. Der war als er vor fünf oder sechs Jahren diese Karikaturen zeichnete bestimmt auch nicht hilfreich für seinen Ministerpräsidenten. Und so warte ich darauf, dass in fünf oder sechs Jahren, wenn sie dann noch Bundeskanzlerin ist, von ihr einen Preis für Meinungsfreiheit überreicht bekomme."

    Den Verdacht übrigens, Sarrazin, könnte daran denken, im Stil Lafontaines eine neue Partei zusammen mit bestimmten an den Rand gedrängten oder schon ausgetretenen Spitzenleuten der Union, dementierte er:

    "Ich werde in der SPD bleiben."

    Weitere Informationen zum Thema auf DRadio.de:
    Sarrazin zieht von der Bundesbank ab- Debatte um umstrittene Migrantenthesen geht weiter, Aktuell vom 10.9.2010