" Ich werde niemals glücklich sein. Ich lebe nicht in Übereinstimmung mit mir selbst. Mit begrenzten und unvollständigen Fähigkeiten verbinde ich unermessliche Wünsche; mit einer schwachen Gesundheit ein unaussprechliches Bedürfnis nach Aktivität und großen Gefühlsregungen."
Die Zeitläufte und sein Charakter hatten den Franzosen früh zu einem Zerrissenen gemacht. Alexis de Tocqueville wurde am 29. Juli 1805 geboren, und er wuchs mit einem Trauma auf. Sein Vater war mit 22 Jahren im Kerker weißhaarig geworden. Seine Mutter sang unter Tränen Lieder auf den enthaupteten Ludwig XVI.. 1794 war das Elternpaar de Tocqueville nur wie durch ein Wunder, nämlich durch den Sturz Robespierres, um Stunden der Guillotine entronnen. Das Gedenken an den Blutzoll in der normannischen Adelsfamilie während der Revolution wurde auch unter Napoleon und in den Zeiten nach dessen Kriegen gepflegt.
Unter den bourbonischen Restaurationsregierungen wurde der Vater Präfekt in Metz.
Der hohe Verwaltungsbeamte registrierte gewiss nicht die Tragweite einer Erschütterung seines erst 16jährigen, jüngsten Sohns Alexis, der als Bücherwurm galt.
" Mein Leben war bis dahin mit einer Seele voller Glauben verlaufen, der nicht einmal den Zweifel in mein Herz hatte dringen lassen. Damals trat der Zweifel ein, oder richtiger, er brach mit unerhörter Gewalt herein, nicht nur der Zweifel an diesem oder jenem, sondern der universale Zweifel. Ich erfuhr plötzlich die Empfindung, von der Leute sprechen, die ein Erdbeben erlebt haben, wenn der Boden unter ihren Füßen nachgibt."
War dieser universale, anfänglich wohl eher diffuse "Zweifel" des Jugendlichen der Ur-Antrieb für ein Lebenswerk, das zu einer der wichtigsten Visionen über die Zukunft der Menschheit geworden ist?
1827 wurde Alexis de Tocqueville Hilfsrichter am Gericht von Versailles. Als er und sein Freund Gustave de Beaumont eine Reise in die USA planten, um eine Denkschrift über das amerikanische Gefängniswesen zu verfassen, die ihrer Karriere förderlich sein sollte, deutete nichts auf die Entstehung der beiden Bände "Über die Demokratie in Amerika" hin, eine fundamentale Betrachtung des demokratischen Zeitalters.
Die adligen Franzosen landeten am 15. Mai 1831 nach stürmischer Überfahrt in New York.
" Man sieht weder einen Dom noch einen Glockenturm, noch große Gebäude, so dass man dauernd den Eindruck hat, in einer Vorstadt zu sein."
Die USA waren um 1830 ein viel berauntes, aber unbekanntes Territorium.
Eine Republik, mit unermesslichem Hinterland. 13 Millionen Menschen bevölkerten 25 Staaten, der erste Präsident aus dem Westen, Andrew Jackson, brach gerade die Vormacht der mächtigen Ostküsten-Familien. Die erst 2000 Einwohner Washingtons, einer Regierungszentrale im Sumpf, erlebten regen Zustrom.
"Kaum hat man den Boden Amerikas betreten, befindet man sich inmitten einer Art von Getümmel; von überallher erhebt sich verworrener Lärm; ungezählte Stimmen dringen gleichzeitig ans Ohr; jede drückt irgendein soziales Bedürfnis aus. Alles um einen herum ist in Bewegung. "
Der 26jährige Tocqueville besichtigt Gefängnisse. Er schlägt sich mit seinem Freund durch die Wildnis bei der Siedlung Detroit. Der Franzose erlebt Indianer und er ertrinkt fast beim Schiffbruch auf dem Ohio. Tocqueville ahnt die Befreiung der Sklaven. Während eines Jahres notiert er sich an die 200 Gespräche und gerät zunehmend in den Sog eines einzigen und magischen Begriffs, der die Zukunft bestimmen wird.
"L'Égalité - Die Gleichheit."
Danach, in Paris, in einer Mansarde beginnt er sein Werk, das ohne Vorläufer war: ‚Über die Demokratie in Amerika'.
" Dieses Buch wurde im beständigen Banns eines einzigen Gedankens geschrieben: des nahen, unaufhaltsamen, allgemeinen Aufstiegs der Demokratie in der Welt. Wer es wieder liest, wird auf jeder Seite eine feierliche Warnung finden, die die Menschen daran erinnert, dass die Gesellschaft ihre Gestalt, die Menschheit ihre Lebensweise verändert und dass neue Schicksale sich vorbereiten."
Der kränkelnde Aristokrat schilderte die Institutionen der USA. Er ließ persönliche Erlebnisse zwischen Sklaven und Farmern einfließen. Mit ebenso glanzvoller wie bisweilen erschütternder Logik vermittelte Tocqueville Gedanken zu einer neuartigen Welt. Insgesamt entstanden etliche hundert Seiten behutsamster Erwägungen zur modernen Gesellschaft und einem zukünftigen Menschenbild.
" Geht man die Blätter unserer Geschichte durch, so trifft man sozusagen auf kein einziges Ereignis, das sich nicht zum Vorteil der Gleichheit ausgewirkt hätte. Die Erfindung der Feuerwaffen macht Gemeine und Adlige auf dem Schlachtfeld gleich; der Buchdruck bietet ihrem Geist die gleichen Hilfsmittel; die Post trägt die Aufklärung zur Hütte des Armen wie an das Tor der Paläste; der Protestantismus lehrt, dass alle Menschen in gleicher Weise imstande sind, den Weg zum Himmel zu finden. Das sich entdeckende Amerika öffnet dem Glück tausend neue Wege und bietet dem unbekannten Abenteurer Reichtum und Macht. Die Demokratie aufhalten wollen, hieße dann gegen Gott selbst kämpfen."
Tocqueville, der zu einem der ersten Soziologen wurde, ringt lebenslang mit sich selbst:
" Ich habe für die demokratischen Einrichtungen eine verstandesmäßige Neigung, von Instinkt aber bin ich Aristokrat, d. h. ich misstraue der Masse. Die erste meiner Leidenschaften aber ist die Freiheit."
Auf dieser Grundlage entstehen die weit gefächerten und präzisen Abwägungen zwischen Wohl und Wehe der mutmaßlich gottgewollten Gleichheit unter den Menschen, denen der Melancholiker jedoch Richtlinien und Warnungen mitgeben möchte.
Dabei bleibt für Tocqueville, der 1830 und dann 1848 als Abgeordneter den Zusammenbruch zweier Monarchien in Frankreich erlebte, nach der Amerikareise ein Bekenntnis fraglos:
" Was immer man tun möge, wirkliche Macht unter den Menschen wird man nur im freien Wettstreit der Kräfte antreffen. Nichts ist fruchtbarer an Wundern, als die Kunst frei zu sein; aber nichts ist schwieriger als die Lehrzeit der Freiheit."
In den jungen USA wurde der Franzose von einem pulsierenden Gemeinwesen überwältigt, in dem die Wähler und deren Bedürfnisse die Politik bestimmten, wo Selbstbestimmung und Eigenverantwortung größte Bedeutung bekamen. Im Vergleich zu europäischen Untertanen traf Tocqueville auf Mitgestalter des öffentlichen Lebens. Als Randbemerkung seiner Beobachtungen von selbstbewussten Bürgern einer Demokratie hält er fest:
" Der Europäer sieht im öffentlichen Beamten häufig nur die Macht; der Amerikaner erblickt in ihm das Recht. So kann man sagen, dass in Amerika der Mensch nie dem Menschen, sondern der Gerechtigkeit oder dem Gesetz gehorcht."
Gewöhnt an einen Verlautbarungston königlicher Minister, hinter denen um 1840 allerdings keine geheiligte Macht mehr steht, bestaunt Tocqueville auch das Improvisationstalent, sowie den unerlässlichen, nur von der Verfassung und den Menschenrechten gezügelten Durchsetzungswillen von Bürgern zum Beispiel im amerikanischen Kongress:
" Ich kenne nichts Bewundernswerteres und Gewaltigeres als einen großen Redner, der im Schoß einer demokratischen Versammlung bedeutende Angelegenheiten zur Sprache bringt. Alle Menschen werden darin angesprochen, weil es sich um den Menschen handelt, der überall der gleiche ist."
Wie weit Tocqueville seine Betrachtung einer Gesellschaft der größtmöglichen Rechts- und Chancengleichheit
unter den Menschen bis in unsere Zukunft vorantreibt, bleibt verblüffend: Der Mensch jeder Rasse, jeden Glaubens, jeder Lebensart ist, gemäß Tocqueville, vom Glauben seiner Gleichberechtigung mit anderen Menschen nicht mehr abzubringen. Im Vergleich zu solcher Woge von Gleichheitsempfindung, die allein in der Demokratie verwirklicht werden kann, können Einzelherrschaften, Despotien sich nur noch flüchtig und befristet behaupten - mochten sie auch 70 Jahre währen wie in der Sowjetunion, oder 12 wie in Deutschland. Der finale Siegeszug der demokratischen Lebensform wird am Ende das hervorbringen, wofür wir - auch mit Erschrecken - den Begriff der Globalisierung gefunden haben. Tocqueville prophezeite diese Entwicklung 1840 mit anderen Worten:
" In demokratischen Zeitaltern bewirkt die gesteigerte Beweglichkeit der Menschen und die Ungeduld ihrer Wünsche, dass sie unaufhörlich ihren Standort wechseln und dass die Bewohner der verschiedenen Länder sich vermischen, sich sehen, sich anhören und nachahmen. Nicht nur die Angehörigen eines gleichen Volkes werden sich also ähnlich; die Völker selber gleichen sich wechselseitig an, und alle zusammen bilden für das Auge des Betrachters nur mehr eine umfassende Demokratie, in der jeder Bürger ein Volk ist. Das rückt zum ersten Male die Gestalt des Menschengeschlechts ins helle Licht."
Jedes Wort zur Durchsetzung der Menschenrechte in allen Erdteilen, zu modernen Weltorganisationen, der Vernetzung von Kulturen und Märkten, zu Wirtschaftsstrategien von Global Players wäre nur eine Ergänzung jenes Passus' der Tocqueville'schen Soziologie, in der auch Klassenkämpfe, letzte Religionsstreitigkeiten als eine Zwischenphase vor der endgültigen Angleichung der Staaten und Menschen gedeutet werden.
Tocqueville war in seinem immer dramatischer werdenden Buch über die Emanzipation der Einzelseelen nicht nur an der "Gleichheit" der Menschen interessiert, sondern vielleicht mehr noch daran, wie sich in der dann entstehenden "Massengesellschaft" - die erstmals er beschrieb - etwas Unverwechselbares, eine altertümliche Würde des einzelnen, der Individualismus bewahren lässt. Es sind die finsteren Kapitel seines Werks, in denen der Mann, der sich zur Freiheitlichkeit bekennt, auch bereits deren Gefahren vorzeichnet. Sie heißen: Vermassung und Gleichförmigkeit, die tyrannische Herrschaft der Mehrheit und damit die tyrannische Herrschaft der "Öffentlichen Meinung" (, die Tocqueville als erster in ein System einbezieht). Eine Gefahr für eine Gesellschaft in Freiheit und Gleichheit ist zudem die Gewinnsucht; - Habgier nämlich als das einzige Mittel, um sich durch flüchtigen Besitz noch vom Mitbürger zu unterscheiden.
" Auf die Dauer aber erscheint der Anblick dieser so betriebsamen Gesellschaft einförmig, und nachdem der Betrachter einige Zeitlang dieses so bewegte Bild angeschaut hat, langweilt er sich. In den aristokratischen Völkern verharrt jeder einigermaßen fest innerhalb seines Bereichs; die Menschen aber sind einander außerordentlich unähnlich; sie haben von Grund auf verschiedene Leidenschaften, Ideen, Gewohnheiten und Neigungen. Nichts rührt sich da, alles ist da ungleich. In den Demokratien hingegen gleichen sich die Menschen alle, und sie tun ungefähr dasselbe."
Wie dieses mögliche, am Ende weltweite "Mittelmaß", gepaart mit einem Mehrungs- und Konsumrausch ohne sonderliche Ideen oder Ideale, aussehen könnte, erklärt der Franzose überaus anschaulich:
" Als nur die Reichen Uhren besaßen, waren diese fast alle ausgezeichnet. Jetzt stellt man nur noch mittelmäßige her, aber alle besitzen welche. So drängt die Demokratie den menschlichen Geist nicht nur zu den nützlichen Künsten hin, sie veranlasst die Handwerker, sehr rasch viele unvollkommene Dinge herzustellen, und den Verbraucher, sich mit diesen Dingen zu begnügen. Da man nicht mehr auf das Große zielen kann, sucht man das Gefällige und Hübsche; man geht eher auf den Schein als auf das Echte aus."
Und das "Sensationelle" wird in der Massengesellschaft wichtig, um die Gemüter zu beleben.
Alexis de Tocqueville ließ sich schon während der Umbrüche im 19. Jahrhunderts von keinem Lager vereinnahmen. Und auf welche Seite sollte sich ein freiheitlich Konservativer zwischen den revoltierenden Arbeitern und dem bangenden Großbürgertum schlagen?
" Ich musste daran denken, dass wir in einer seltsamen Zeit lebten, in der man nicht sicher war, ob es zwischen der Einladung und dem Essen zu einer Revolution kommen würde."
Die dunkelste Vision der kulturpolitischen Zukunft des Menschen hielt der Privatforscher am Schluss seines in Frankreich, England und Amerika - weniger in Deutschland - sogleich viel beachteten Werks fest. Diese Prophetie hat der Skeptiker, der als aktiver Politiker wenig Charisma besaß, vielleicht nicht als sein Credo, aber als Warnung an das zukünftige Individuum im demokratischen Zeitalter verstanden:
" Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller fremd gegenüber. Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, die Genüsse zu sichern und das Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener; (Der selbstgewählte Souverän) bedeckt die Oberfläche (der Gesellschaft) mit einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher kleiner Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen; er tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er löscht aus, er stumpft ab, und schließlich bringt er jedes Volk soweit herunter, dass es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist."
Nach dem Staatsstreich Napoleons III. 1851 zog sich Tocqueville aus der Tagespolitik zurück.
In seinem zweiten großen historischen Werk "Der Alte Staat und die Revolution" ging er mit den französischen Königen und ihrer Bürokratie ins Gericht, die mit der Zentralisierung des Staates auch der Zentrifugalkraft von Revolutionen, und damit einem neuartigen und verwaltungsmäßig perfektionierten Totalitarismus vorgearbeitet hätten.
Tocqueville starb 54jährig 1859 in Cannes an einem Lungenleiden, das sich durch den Schiffbruch auf dem Ohio-River verschärft hatte. Als kurzzeitig amtierender Außenminister Frankreichs hatte er 1849 den Großherzog von Baden dahin gedrängt, von Willkür und von der Erschießung deutscher Revolutionäre abzulassen. Als Tocqueville zur selben Zeit das Schloss seiner Ahnen in der Normandie bezog, die leere Säle sah, bekannte der Visionär zwischen den Zeitaltern:
" An diesem Orte, in dieser Stunde begriff ich am besten die ganze Bitternis der Revolution."
Die Zeitläufte und sein Charakter hatten den Franzosen früh zu einem Zerrissenen gemacht. Alexis de Tocqueville wurde am 29. Juli 1805 geboren, und er wuchs mit einem Trauma auf. Sein Vater war mit 22 Jahren im Kerker weißhaarig geworden. Seine Mutter sang unter Tränen Lieder auf den enthaupteten Ludwig XVI.. 1794 war das Elternpaar de Tocqueville nur wie durch ein Wunder, nämlich durch den Sturz Robespierres, um Stunden der Guillotine entronnen. Das Gedenken an den Blutzoll in der normannischen Adelsfamilie während der Revolution wurde auch unter Napoleon und in den Zeiten nach dessen Kriegen gepflegt.
Unter den bourbonischen Restaurationsregierungen wurde der Vater Präfekt in Metz.
Der hohe Verwaltungsbeamte registrierte gewiss nicht die Tragweite einer Erschütterung seines erst 16jährigen, jüngsten Sohns Alexis, der als Bücherwurm galt.
" Mein Leben war bis dahin mit einer Seele voller Glauben verlaufen, der nicht einmal den Zweifel in mein Herz hatte dringen lassen. Damals trat der Zweifel ein, oder richtiger, er brach mit unerhörter Gewalt herein, nicht nur der Zweifel an diesem oder jenem, sondern der universale Zweifel. Ich erfuhr plötzlich die Empfindung, von der Leute sprechen, die ein Erdbeben erlebt haben, wenn der Boden unter ihren Füßen nachgibt."
War dieser universale, anfänglich wohl eher diffuse "Zweifel" des Jugendlichen der Ur-Antrieb für ein Lebenswerk, das zu einer der wichtigsten Visionen über die Zukunft der Menschheit geworden ist?
1827 wurde Alexis de Tocqueville Hilfsrichter am Gericht von Versailles. Als er und sein Freund Gustave de Beaumont eine Reise in die USA planten, um eine Denkschrift über das amerikanische Gefängniswesen zu verfassen, die ihrer Karriere förderlich sein sollte, deutete nichts auf die Entstehung der beiden Bände "Über die Demokratie in Amerika" hin, eine fundamentale Betrachtung des demokratischen Zeitalters.
Die adligen Franzosen landeten am 15. Mai 1831 nach stürmischer Überfahrt in New York.
" Man sieht weder einen Dom noch einen Glockenturm, noch große Gebäude, so dass man dauernd den Eindruck hat, in einer Vorstadt zu sein."
Die USA waren um 1830 ein viel berauntes, aber unbekanntes Territorium.
Eine Republik, mit unermesslichem Hinterland. 13 Millionen Menschen bevölkerten 25 Staaten, der erste Präsident aus dem Westen, Andrew Jackson, brach gerade die Vormacht der mächtigen Ostküsten-Familien. Die erst 2000 Einwohner Washingtons, einer Regierungszentrale im Sumpf, erlebten regen Zustrom.
"Kaum hat man den Boden Amerikas betreten, befindet man sich inmitten einer Art von Getümmel; von überallher erhebt sich verworrener Lärm; ungezählte Stimmen dringen gleichzeitig ans Ohr; jede drückt irgendein soziales Bedürfnis aus. Alles um einen herum ist in Bewegung. "
Der 26jährige Tocqueville besichtigt Gefängnisse. Er schlägt sich mit seinem Freund durch die Wildnis bei der Siedlung Detroit. Der Franzose erlebt Indianer und er ertrinkt fast beim Schiffbruch auf dem Ohio. Tocqueville ahnt die Befreiung der Sklaven. Während eines Jahres notiert er sich an die 200 Gespräche und gerät zunehmend in den Sog eines einzigen und magischen Begriffs, der die Zukunft bestimmen wird.
"L'Égalité - Die Gleichheit."
Danach, in Paris, in einer Mansarde beginnt er sein Werk, das ohne Vorläufer war: ‚Über die Demokratie in Amerika'.
" Dieses Buch wurde im beständigen Banns eines einzigen Gedankens geschrieben: des nahen, unaufhaltsamen, allgemeinen Aufstiegs der Demokratie in der Welt. Wer es wieder liest, wird auf jeder Seite eine feierliche Warnung finden, die die Menschen daran erinnert, dass die Gesellschaft ihre Gestalt, die Menschheit ihre Lebensweise verändert und dass neue Schicksale sich vorbereiten."
Der kränkelnde Aristokrat schilderte die Institutionen der USA. Er ließ persönliche Erlebnisse zwischen Sklaven und Farmern einfließen. Mit ebenso glanzvoller wie bisweilen erschütternder Logik vermittelte Tocqueville Gedanken zu einer neuartigen Welt. Insgesamt entstanden etliche hundert Seiten behutsamster Erwägungen zur modernen Gesellschaft und einem zukünftigen Menschenbild.
" Geht man die Blätter unserer Geschichte durch, so trifft man sozusagen auf kein einziges Ereignis, das sich nicht zum Vorteil der Gleichheit ausgewirkt hätte. Die Erfindung der Feuerwaffen macht Gemeine und Adlige auf dem Schlachtfeld gleich; der Buchdruck bietet ihrem Geist die gleichen Hilfsmittel; die Post trägt die Aufklärung zur Hütte des Armen wie an das Tor der Paläste; der Protestantismus lehrt, dass alle Menschen in gleicher Weise imstande sind, den Weg zum Himmel zu finden. Das sich entdeckende Amerika öffnet dem Glück tausend neue Wege und bietet dem unbekannten Abenteurer Reichtum und Macht. Die Demokratie aufhalten wollen, hieße dann gegen Gott selbst kämpfen."
Tocqueville, der zu einem der ersten Soziologen wurde, ringt lebenslang mit sich selbst:
" Ich habe für die demokratischen Einrichtungen eine verstandesmäßige Neigung, von Instinkt aber bin ich Aristokrat, d. h. ich misstraue der Masse. Die erste meiner Leidenschaften aber ist die Freiheit."
Auf dieser Grundlage entstehen die weit gefächerten und präzisen Abwägungen zwischen Wohl und Wehe der mutmaßlich gottgewollten Gleichheit unter den Menschen, denen der Melancholiker jedoch Richtlinien und Warnungen mitgeben möchte.
Dabei bleibt für Tocqueville, der 1830 und dann 1848 als Abgeordneter den Zusammenbruch zweier Monarchien in Frankreich erlebte, nach der Amerikareise ein Bekenntnis fraglos:
" Was immer man tun möge, wirkliche Macht unter den Menschen wird man nur im freien Wettstreit der Kräfte antreffen. Nichts ist fruchtbarer an Wundern, als die Kunst frei zu sein; aber nichts ist schwieriger als die Lehrzeit der Freiheit."
In den jungen USA wurde der Franzose von einem pulsierenden Gemeinwesen überwältigt, in dem die Wähler und deren Bedürfnisse die Politik bestimmten, wo Selbstbestimmung und Eigenverantwortung größte Bedeutung bekamen. Im Vergleich zu europäischen Untertanen traf Tocqueville auf Mitgestalter des öffentlichen Lebens. Als Randbemerkung seiner Beobachtungen von selbstbewussten Bürgern einer Demokratie hält er fest:
" Der Europäer sieht im öffentlichen Beamten häufig nur die Macht; der Amerikaner erblickt in ihm das Recht. So kann man sagen, dass in Amerika der Mensch nie dem Menschen, sondern der Gerechtigkeit oder dem Gesetz gehorcht."
Gewöhnt an einen Verlautbarungston königlicher Minister, hinter denen um 1840 allerdings keine geheiligte Macht mehr steht, bestaunt Tocqueville auch das Improvisationstalent, sowie den unerlässlichen, nur von der Verfassung und den Menschenrechten gezügelten Durchsetzungswillen von Bürgern zum Beispiel im amerikanischen Kongress:
" Ich kenne nichts Bewundernswerteres und Gewaltigeres als einen großen Redner, der im Schoß einer demokratischen Versammlung bedeutende Angelegenheiten zur Sprache bringt. Alle Menschen werden darin angesprochen, weil es sich um den Menschen handelt, der überall der gleiche ist."
Wie weit Tocqueville seine Betrachtung einer Gesellschaft der größtmöglichen Rechts- und Chancengleichheit
unter den Menschen bis in unsere Zukunft vorantreibt, bleibt verblüffend: Der Mensch jeder Rasse, jeden Glaubens, jeder Lebensart ist, gemäß Tocqueville, vom Glauben seiner Gleichberechtigung mit anderen Menschen nicht mehr abzubringen. Im Vergleich zu solcher Woge von Gleichheitsempfindung, die allein in der Demokratie verwirklicht werden kann, können Einzelherrschaften, Despotien sich nur noch flüchtig und befristet behaupten - mochten sie auch 70 Jahre währen wie in der Sowjetunion, oder 12 wie in Deutschland. Der finale Siegeszug der demokratischen Lebensform wird am Ende das hervorbringen, wofür wir - auch mit Erschrecken - den Begriff der Globalisierung gefunden haben. Tocqueville prophezeite diese Entwicklung 1840 mit anderen Worten:
" In demokratischen Zeitaltern bewirkt die gesteigerte Beweglichkeit der Menschen und die Ungeduld ihrer Wünsche, dass sie unaufhörlich ihren Standort wechseln und dass die Bewohner der verschiedenen Länder sich vermischen, sich sehen, sich anhören und nachahmen. Nicht nur die Angehörigen eines gleichen Volkes werden sich also ähnlich; die Völker selber gleichen sich wechselseitig an, und alle zusammen bilden für das Auge des Betrachters nur mehr eine umfassende Demokratie, in der jeder Bürger ein Volk ist. Das rückt zum ersten Male die Gestalt des Menschengeschlechts ins helle Licht."
Jedes Wort zur Durchsetzung der Menschenrechte in allen Erdteilen, zu modernen Weltorganisationen, der Vernetzung von Kulturen und Märkten, zu Wirtschaftsstrategien von Global Players wäre nur eine Ergänzung jenes Passus' der Tocqueville'schen Soziologie, in der auch Klassenkämpfe, letzte Religionsstreitigkeiten als eine Zwischenphase vor der endgültigen Angleichung der Staaten und Menschen gedeutet werden.
Tocqueville war in seinem immer dramatischer werdenden Buch über die Emanzipation der Einzelseelen nicht nur an der "Gleichheit" der Menschen interessiert, sondern vielleicht mehr noch daran, wie sich in der dann entstehenden "Massengesellschaft" - die erstmals er beschrieb - etwas Unverwechselbares, eine altertümliche Würde des einzelnen, der Individualismus bewahren lässt. Es sind die finsteren Kapitel seines Werks, in denen der Mann, der sich zur Freiheitlichkeit bekennt, auch bereits deren Gefahren vorzeichnet. Sie heißen: Vermassung und Gleichförmigkeit, die tyrannische Herrschaft der Mehrheit und damit die tyrannische Herrschaft der "Öffentlichen Meinung" (, die Tocqueville als erster in ein System einbezieht). Eine Gefahr für eine Gesellschaft in Freiheit und Gleichheit ist zudem die Gewinnsucht; - Habgier nämlich als das einzige Mittel, um sich durch flüchtigen Besitz noch vom Mitbürger zu unterscheiden.
" Auf die Dauer aber erscheint der Anblick dieser so betriebsamen Gesellschaft einförmig, und nachdem der Betrachter einige Zeitlang dieses so bewegte Bild angeschaut hat, langweilt er sich. In den aristokratischen Völkern verharrt jeder einigermaßen fest innerhalb seines Bereichs; die Menschen aber sind einander außerordentlich unähnlich; sie haben von Grund auf verschiedene Leidenschaften, Ideen, Gewohnheiten und Neigungen. Nichts rührt sich da, alles ist da ungleich. In den Demokratien hingegen gleichen sich die Menschen alle, und sie tun ungefähr dasselbe."
Wie dieses mögliche, am Ende weltweite "Mittelmaß", gepaart mit einem Mehrungs- und Konsumrausch ohne sonderliche Ideen oder Ideale, aussehen könnte, erklärt der Franzose überaus anschaulich:
" Als nur die Reichen Uhren besaßen, waren diese fast alle ausgezeichnet. Jetzt stellt man nur noch mittelmäßige her, aber alle besitzen welche. So drängt die Demokratie den menschlichen Geist nicht nur zu den nützlichen Künsten hin, sie veranlasst die Handwerker, sehr rasch viele unvollkommene Dinge herzustellen, und den Verbraucher, sich mit diesen Dingen zu begnügen. Da man nicht mehr auf das Große zielen kann, sucht man das Gefällige und Hübsche; man geht eher auf den Schein als auf das Echte aus."
Und das "Sensationelle" wird in der Massengesellschaft wichtig, um die Gemüter zu beleben.
Alexis de Tocqueville ließ sich schon während der Umbrüche im 19. Jahrhunderts von keinem Lager vereinnahmen. Und auf welche Seite sollte sich ein freiheitlich Konservativer zwischen den revoltierenden Arbeitern und dem bangenden Großbürgertum schlagen?
" Ich musste daran denken, dass wir in einer seltsamen Zeit lebten, in der man nicht sicher war, ob es zwischen der Einladung und dem Essen zu einer Revolution kommen würde."
Die dunkelste Vision der kulturpolitischen Zukunft des Menschen hielt der Privatforscher am Schluss seines in Frankreich, England und Amerika - weniger in Deutschland - sogleich viel beachteten Werks fest. Diese Prophetie hat der Skeptiker, der als aktiver Politiker wenig Charisma besaß, vielleicht nicht als sein Credo, aber als Warnung an das zukünftige Individuum im demokratischen Zeitalter verstanden:
" Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller fremd gegenüber. Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, die Genüsse zu sichern und das Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener; (Der selbstgewählte Souverän) bedeckt die Oberfläche (der Gesellschaft) mit einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher kleiner Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen; er tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er löscht aus, er stumpft ab, und schließlich bringt er jedes Volk soweit herunter, dass es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist."
Nach dem Staatsstreich Napoleons III. 1851 zog sich Tocqueville aus der Tagespolitik zurück.
In seinem zweiten großen historischen Werk "Der Alte Staat und die Revolution" ging er mit den französischen Königen und ihrer Bürokratie ins Gericht, die mit der Zentralisierung des Staates auch der Zentrifugalkraft von Revolutionen, und damit einem neuartigen und verwaltungsmäßig perfektionierten Totalitarismus vorgearbeitet hätten.
Tocqueville starb 54jährig 1859 in Cannes an einem Lungenleiden, das sich durch den Schiffbruch auf dem Ohio-River verschärft hatte. Als kurzzeitig amtierender Außenminister Frankreichs hatte er 1849 den Großherzog von Baden dahin gedrängt, von Willkür und von der Erschießung deutscher Revolutionäre abzulassen. Als Tocqueville zur selben Zeit das Schloss seiner Ahnen in der Normandie bezog, die leere Säle sah, bekannte der Visionär zwischen den Zeitaltern:
" An diesem Orte, in dieser Stunde begriff ich am besten die ganze Bitternis der Revolution."