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Freiheit ist ein Wagnis

Am 14. Oktober wäre Hannah Arendt 100 Jahre alt geworden. Die streitbare Denkerin, Publizistin und Gelehrte, die 1933 nach Frankreich und dann in die USA emigrierte, passte in keine Schablone. Mit ihren unbequemen Gedanken und ihrem Verständnis von politischer Freiheit war sie sowohl links- als auch rechtsorientierten Kräften suspekt.

Von Michael Niehaus |
    "Ich fürchte, ich muss erst einmal protestieren. Mein Beruf, wenn man davon überhaupt sprechen kann, ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin, ich bin auch nicht, glaube ich, in den Kreis der Philosophen aufgenommen."

    Hannah Arendt in einem Interview des Zweiten Deutschen Fernsehens, das Günter Gaus mit ihr im Oktober 1964 geführt hat. Hannah Arendt beharrt darauf, eine politische Theoretikerin, aber eben keine Philosophin zu sein. Zwischen der Politik und der Philosophie gebe es ein Spannungsverhältnis; dieses Spannungsverhältnis bestehe zwischen dem Menschen als einem philosophierenden und dem Menschen als einem handelnden Wesen. Hannah Arendt spricht sogar von einer Feindschaft gegen die Politik bei den allermeisten Philosophen:

    "Ich will an der Feindseligkeit keinen Teil haben, das heißt, ich will Politik sehen mit gewissermaßen von der Philosophie ungetrübten Augen."

    Was also ist Politik? Der Sinn von Politik ist Freiheit, sagt Arendt. Ein Satz, der so leicht daher kommt, aber voller Tücken ist, wie Antonia Grunenberg, Professorin für Politische Theorie und Leiterin des Hannah-Arendt-Archivs an der Universität Oldenburg hervorhebt:

    "Ich muss lachen, weil es in der Tat so ist, dass dieser Spruch so abgenudelt ist, und selbst noch im - was weiß ich im - Text von Volkshochschulen. Er wird überall zitiert; und ich denke mal, dass nur wenige Leute wissen, was sie sich da eingehandelt haben. Der Sinn von Politik ist Freiheit meint, also ich kann jetzt nicht die ganzen Konnotationen offen legen, Freiheit ist natürlich Handeln in Freiheit. Handeln in Freiheit ist ein Wagnis.

    Es geht also nicht nur darum, dass man eine freiheitliche Verfassung hat und das ist es dann und das ist der Rahmen. Das Problem besteht darin, dass diese Freiheit immer wieder erneuert werden will. Und weil Institutionen erstarren zum Beispiel. Nun kann man nicht auf Befehl eine Revolution machen, also bleibt das Problem: Woher kommen diese Erneuerungspotentiale, wie wird die kollektive Erinnerung wach gehalten dass ein Gemeinwesen etwas Kostbares ist, was erhaltenswert ist?"

    Freiheit ist ein Wagnis. Das Ergebnis des politischen Handelns in Freiheit ist nicht vorhersehbar. Es gibt kein Heilsversprechen. Aber es gibt immer wieder die Möglichkeit des Neuanfangs. Für Hannah Arendt ist - so Horst Mewes, Professor für politische Theorie an der Universität Boulder in Colorado - die amerikanische Revolution immer wieder ein Bezugspunkt der Argumentation

    "Wenn man zum Beispiel ihr Buch "On Revolution" - "Über die Revolution" betrachtet, da kann man schon sehen, dass sie sehr viele Hoffnungen in die ursprüngliche amerikanische Revolution setzte. Sie war der Ansicht, dass die Prinzipien der öffentlichen Freiheit die Hauptrolle in dieser Revolution spielten. Obwohl sie dann die nachträgliche Politik sehr pessimistisch betrachtete, in dem Sinne, dass immer weniger Gewicht auf die politische Freiheit und das Mitwirken der Bürger gelegt wurde, dass sie trotzdem, auch in den sechziger und siebziger Jahren, als sie zu einer Zeit sogar an eine Auswanderung dachte, weil sie meinte, die amerikanische Republik sei in großer Gefahr, dass sie trotzdem die Hoffnung auf die Fortsetzung der freiheitlichen amerikanische Politik setzte."

    Hannah Arendt wird in Linden bei Hannover geboren, wächst in Königsberg auf, studiert unter anderem bei Martin Heidegger, in den sie sich verliebt und der sich in sie verliebt. In Hei¬delberg studiert sie ab 1926 Philosophie und promoviert 1928 bei Karl Jaspers über den Liebesbegriff bei Augustinus. Schon 1932 denkt sie daran, Deutschland zu verlassen, tut dies dann 1933, sie geht nach Paris und schließlich 1941 in die USA. Die Shoa, die Vernichtung der europäischen Juden, die Formen der totalitären Herrschaft überhaupt werden über mehr als 30 Jahre zum Gegenstand ihres Forschens und Schreibens. Sie will das politisch Böse nicht nur beschreiben, sondern verstehen.

    In Aufsätzen wie "Die vollendete Sinnlosigkeit" und "Die Organisierte Schuld" spricht sie zunächst davon, der Holocaust sprenge die Vorstellungskapazität, das Böse erscheint ihr radikal, beispiellos und unverstehbar, also monströs. Erst später 1961 nachdem sie den Prozess gegen Eichmann in Israel als Berichterstatterin für die Zeitschrift "New Yorker" verfolgt hat, spricht sie von der "Banalität des Bösen". In ihren Augen ist Eichmann weder dumm, noch notorisch verlogen, weder besonders rassistisch verhetzt noch unzurechnungsfähig. Seine Monstrosität liegt in seiner Banalität.

    Der Ausdruck Banalität im Zusammenhang mit einem der schlimmsten Massenmörder der Geschichte erscheint vielen - wie zum Beispiel dem Philosophen Hans Jonas - unzumutbar und unzulässig. Der Aufruhr um das "Eichmann-Buch" ist erheblich. Nicht nur wegen des Begriffs der Banalität des Bösen, sondern auch, weil sie in diesem Buch die Rolle der Judenräte kritisiert: Sie hätten zum Beispiel im Konzentrationslager Theresienstadt mitgeholfen, Deportationslisten zu erstellen und somit also Anteil an ihrer eigenen Vernichtung

    In den sechziger und siebziger Jahren bis weit in die achtziger spielt Hannah Arendt in der akademischen und in der Öffentlichkeit keine große Rolle. Bei vielen Linken hat sie sich verdächtig gemacht, weil sie zumindest im Ansatz einen Strukturvergleich der Herrschaftsordnungen und -praktiken in der Sowjetunion mit dem nationalsozialistischen Deutschland vorgenommen hatte; und das passt natürlich überhaupt nicht ins Bild. Ganz anders im so genannten Ostblock, wie Antonia Grunenberg hervorhebt.

    "Ich denke, dass das im Ostblock einen Rieseneindruck gemacht hat, dass sie 1956 für die ungarische Räterepublik theoretisch und ganz prinzipiell Partei ergriffen hat. Und das muss natürlich eine ungeheure Breitenwirkung gehabt haben, dass jemand aus dem Westen so dezidiert auch für die Räteidee - wie meine Vermutung ist, aus dem Königsberg ihrer Kindheit mitgebracht hat - dass sie diese Räteidee so favorisiert hat und zwar gegen die Besetzung durch die Sowjets gegen die totalitäre Besetzung diese Idee des "Menschen tun sich zusammen" und bringen aus dem, was zwischen ihnen stattfindet, etwas hervor, nämlich die Idee zu einem demokratischen Gemeinwesen."

    Und noch etwas kommt zu der erheblichen Bedeutung Arendts bei den Dissidenten im Ostblock hinzu. Um es vereinfacht zu sagen, Arendt hält nichts von der Idee Maos, dass die Macht aus den Gewehren kommt. Arendt vertritt einen kommunikativen Machtbegriff, oder um es wiederum vereinfacht zu sagen: Die Macht kommt aus den Mündern.

    "Mit diesem Machtbegriff konnte man hier in der Akademia überhaupt nichts anfangen. Wir haben in den Kopf gekloppt bekommen den Machtbegriff von Max Weber. Macht ist, wenn ich die Chance habe, jemandem gegen seinen Willen Sachen aufzudrücken, meinen Willen aufzudrücken. Der Machtbegriff von ihr ist ja etwas ganz anderes. Der geht ja darauf, dass sich Macht entfaltet, wenn sich Leute zusammentun, um zusammen zu handeln. Und das ist natürlich eine gewaltige Legitimation für alle demokratischen und republikanischen Bewegungen."

    Sich zusammen zu tun, um zu handeln, etwas zu verändern, etwas Neues zu schaffen. Das ist im Kern der Grundgedanke der Arendtschen politischen Handlungstheorie. Damit ist aber keine "spontihafte", sich in unüberüberlegten Aktionen äußernde Revolte gemeint. Kritisch daher - wie Antonia Grunenberg anmerkt - Arendts Beurteilung der deutschen Studentenbewegung

    "Sie war eine sehr dezidierte Kritikerin aller Gewaltaktionen, nicht, weil sie etwa auf dem Standpunkt gestanden hätte: Ich bin gegen jede Gewalt, sondern weil ihre Position ja ist, im Lauf der Politischen Geschichte kommt es bei Gründungakten immer auch zu Gewaltakten. Diese sind aber immer gebunden an dieses Projekt der Gründung Und diese etwas ausufernde Gewalt, in Deutschland unter dem Namen Regelverletzung begonnen, hatte im Grunde - und ich denke, dass man ihr da im Nachhinein Recht geben muss - keine Anbindung an ein wirklich großes kollektives Projekt."

    Die politische Beobachterin Hannah Arendt sieht sehr genau hin. Ganz anders hat sie beispielsweise die Studentenbewegung in den USA beurteilt, die sich - so Horst Mewes - aus dem Protest gegen den Vietnamkrieg entwickelt hat

    "Arendt hat interessanterweise die Studentenbewegung, beziehungsweise die Anti-Vietnamkriegsbewegung unterstützt. Zwar war ihr sehr daran gelegen, dass diese politische Bewegung die Universitäten nicht zerstören würde, die Unabhängigkeit der Universitäten nicht zerstören würde, aber andererseits war deshalb ihr Begriff und ihre Überzeugung von der außerordentlichen Wichtigkeit des politischen Handelns für uns persönlich sehr sehr bedeutend. Uns wurde immer mehr bewusst, dass der Vietnamkrieg der falsche Krieg war und dass wir sehr darauf bedacht waren, mit zu handeln und nicht einfach diese wichtige amerikanische Politik ohne Mitwirkung sich fortsetzen zu lassen."

    Hannah Arendt muss eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein. Zu tiefer Freundschaft fähig, streitbar und unbequem, wenn es um die Sache geht. Sie war aber auch eine wohl großartige Lehrerin. Horst Mewes, heute selber Professor für politische Theorie an der Universität Boulder im Bundesstaat Colorado, kam Ende der sechziger Jahre nach Chicago und studierte bei Leo Strauss und eben Hannah Arendt.

    "Wir waren alle von ihr begeistert. Ich hatte sehr viele jüdische Freunde aus der Chicagoer Umgebung und aus New York. Wir haben sie einerseits selbstverständlich respektiert, andererseits war sie auch eine Art - Mutter wäre übertrieben - eine alte freundliche Tante. Wir haben sie tatsächlich persönlich Tante - Tante auf Deutsch - Tante Hannah genannt, was sie natürlich nie hörte. Es war eben eine Mischung von äußerstem Respekt und persönlicher Note in ihrer Beziehung zu uns. Sie war eine sehr warme Person. Man hat immer wieder auch mit dem Hintergrund der Eichmann-Kontroverse von ihrer angeblichen Arroganz gehört. Davon war überhaupt keine Spur in ihrer Beziehung zu den Studenten."

    Nach ihrem Tod im Jahre 1975 wird sie sowohl in den USA als auch in Westeuropa - außer in einigen akademischen Kreisen - kaum mehr beachtet. Anders nun aber als in den USA hat sie in vor allem Deutschland den "inner circle" der Wissenschaftsgemeinschaft verlassen und ist rund 30 Jahre nach ihrem Tod zu einer öffentlichen Person geworden: Schulen und Straßen werden nach ihr benannt, ein ICE trägt ihren Namen, in Festtagsreden wird gerne auf sie verwiesen. Aber auch die politische Theorie ist fasziniert von ihr: Hunderte von Aufsätzen und Dissertationen sind erschienen und werden weiterhin erscheinen, Institute werden nach ihr benannt. Warum? Antonia Grunenberg:

    "Ich glaub, ein ziemlich deutlicher Grund ist das Jahr 1989, die Folgen, die das hatte auch im Westen, nämlich das Auseinanderbrechen der alten Lager, der alten intellektuellen Lager, und das Durcheinanderwirbeln der Ideologie und ihren Niedergang."

    Für Horst Mewes bleibt ganz besonders ihr Plädoyer für politisches Handeln in Freiheit zentral, ein Plädoyer, das gerade in Zeiten von Politikverdrossenheit nötig ist.

    "Sie war also der Überzeugung - und das kann man eigentlich ganz einfach verstehen - dass die politisch Handelnden diejenigen sind, die unsere Welt prägen, unsere gemeinsame Welt prägen. Und dass man, wenn man an der Politik nicht teilnimmt, dass man dann offensichtlich und automatisch von diesen politisch Handelnden abhängig ist; und deswegen war die politische Freiheit für sie von außerordentlicher Bedeutung."