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Freilichtgedanken - Nietzsches dichterische Welterfahrung

Wissen, Reflexion und Informationsverarbeitung, das sind die unabdingbaren Voraussetzungen für ein Leben im globalen Dorf. Die Philosophie scheint just daher auch an ihrem Ende angelangt; denn verwertbares, konkretes Wissen, das ist ihre Sache nicht.

Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Vielleicht aber stoßen gerade deshalb heute eher jene Philosophen noch auf Interesse, die sich um solches Wissen gar nicht kümmern und die sich wie beispielsweise Friedrich Nietzsche auch noch als Dichter und Literaten erweisen. Der Erlanger Philosoph Manfred Riedel, Professor in Halle an der Saale, dem man durchaus auch literarische Neigungen nachsagen darf, stellt in seinem neuen Buch "Freilichtgedanken" Philosophie und Dichtung im Werk Nietzsches als notwendige Einheit vor - ein durchaus so einleuchtender wie origineller Gedanke, hat man doch bisher in der Nietzsche-Interpretation zumeist entweder den Dichter oder den Denker Nietzsche betont.

    Gerade weil das Wissen in modernen Gesellschaft aber bloß noch überlebenwichtig geworden ist, hat es jegliche metaphysische Dimension verloren. Manfred Riedel konstatiert:

    "Der Wissenstrieb verselbständigt sich durch die Entwicklung der Wissenschaften nach Hegel. Und Schopenhauer, Nietzsches Vorgänger, gelingt es nicht für die Philosophie wieder einen festen metaphysischen Boden zu gewinnen. Schopenhauer orientiert sich an der Kunst. Das ist Nietzsches Grundorientierung. Die Erkenntnis und die Kunst müssen zusammenspielen, um den neuen metaphysischen Gedankenmöglichkeiten gerecht zu werden."i

    Daher entfaltet Manfred Riedel in seinem neuen Buch, das den Untertitel 'Nietzsches dichterische Welterfahrung' trägt, die Nietzschesche Philosophie aus seiner Dichtung heraus. Er tritt damit allen jenen entgegen, die Nietzsches Ideen, beispielsweise den Willen zur Macht vitalistisch interpretieren, oder die in der Idee des Übermenschen eine konkrete historische Perspektive zu einer humaneren Gesellschaft erblicken:

    "Nietzsches Grundbegriffe sind Formeln, die als solche nichts anderes umschreiben als Denkmöglichkeiten. (. .) Der Wille zur Macht ist nichts anderes als eine Denkmöglichkeit, die sich auf ein Faktum der Erfahrung stützt, das gleichsam am Grunde der Natur- und Menschengeschichte immer schon spielt. (. .) Auch der Übermensch (. .) wird nicht gestützt durch ein Sittengesetz der praktischen Vernunft, sondern er ist eine Denkmöglichkeit, die ihrerseits ausgearbeitet, vorgearbeitet wurde in der Dichtung. Das Wort selber kommt von Goethe und von Herder her. Es findet sich bei Byron. Und das Gleiche ist mit der Wiederkehr des Gleichen, mit Nietzsches Zeitlehre der Fall. Auch das ist eine Denkmöglichkeit."

    Gegenüber jenen, die Nietzsche als einen Denker der Stärke, der Macht oder der Vornehmheit interpretieren, führt Riedel ein Konzept der Schwäche des Denkens an. Wenn das moderne Denken technisch wurde und damit den Bezug zu wesentlichen Lebensproblemen der Menschen verloren hat, dann muß es einerseits diese Schwäche erkennen, um andererseits auch wieder an Stärke zu gewinnen - eine Perspektive die Riedel aber mit Nietzsche nicht in der Ethik sucht, wie es heute zeitgemäß wäre, sondern in der Dichtung:

    "Ich wollte gleichsam die Stärke des schwachen Denkens ausprobieren. Denn das Dichten ist gegenüber dem Denken immer im Nachteil gewesen, weil es sich eben nur im Bereich der Möglichkeiten, der Phantasie bewegt hat. Ich wollte das neue Zusammenspiel des Denkens mit dem Dichten erkunden. D.h. ich wollte zugleich zeigen, wie das schwache metaphysische Fundament, das Nietzsche gewinnt in der Lehre vom Übermenschen, vom Willen zur Macht und der Wiederkehr des Gleichen gefestigt wird durch die Kunst. Durch die Kunst gewinnen nämlich diese Denkmöglichkeiten Anschauung."

    Diese Fragestellung bleibt in Manfred Riedels Buch aber keineswegs abstrakt. Vielmehr führt er essayistisch und trotzdem mit der gebotenen wissenschaftlichen Strenge vor, wie sich Nietzsches dichterische wie gedankliche Perspektive mit hochaktuellen Fragestellungen überschneidet. Denn im Zentrum von Nietzsches dichterischer Welterfahrung steht die Natur im Zeitalter der Industrialisierung:

    "Aus dem Naturgefühl stiftet sich eine neue Sicht auf die Natur durch die Kunst. Die Kunst rettet gleichsam, was die Wissenschaft in Frage zu stellen vermag, was sie zu zerstören vermag. Und Nietzsche hat (. .) von der umgestürzten Säule der Geschichte gesprochen. Das ist Natur für ihn. D.h. die Natur ist umgestürzt für ihn. (. .) Der Mensch vergegenständlicht sich selbst durch die Wissenschaft. Seine Seele wird wissenschaftlich seziert. Die Natur selbst wird zum Gegenstand industrieller Ausbeutung. Und von dieser Grunderfahrung ist der junge Nietzsche ausgegangen, der ja aufwächst in der Zeit des großen industriellen Aufschwungs in Deutschland."

    Die Dichtung ist also keine zufällige Flucht vor einer fatalen Gegenwart. Sie präsentiert sich nicht als Ersatz für eine verloren gegangene Hoffnung - eine beliebte Perspektive im 20. Jahrhundert. Statt solcher Fluchtgedanken erweist sich die Dichtung als das zentrale Bindeglied zwischen dem Denken und der Naturerfahrung. Wie anders sollte man der technischen Beherrschung von Natur denn sonst begegnen als in einer anderen Sprache, eben in der Sprache der Dichtung? Wie anders als dichterisch sollte sich im Zeitalter der modernen Wissenschaft die Naturerfahrung jenseits wissenschaftlicher Naturerkenntnis formulieren? Diesem Anspruch, das führt Riedel auf bisher nicht begangenen Wegen vor, ist Nietzsche nicht nur theoretisch, also denkerisch gerecht geworden, sondern praktisch als Dichter:

    "Das war eines der Ziele in meinem Buch. Ich wollte die Stärke von Nietzsche als Dichter aufweisen und ich wollte ihn dadurch an die Seite von Goethe und Hölderlin rücken, also die Seite der Weimarer Klassik, dort wohin er gehört und bin dabei einen anderen Weg gegangen als den der gewöhnlichen Nietzsche-Interpretation, die sich immer am tragischen Kunstwerk, an der Tragödie, also an der Wagner-Konstellation orientiert hat. Ich orientiere mich mehr an einer Goethe-Hölderlin-Nietzsche Konstellation und führe sie zurück auf die antiken Ursprünge der Dichtung und ich orientiere mich auch nicht am Dithyrambus. (. .) Ich orientiere mich am Epigramm und an der Elegie. Also wenn man so will an apollinischen Formen des Dichtens. Im Epigramm ist schon in der Zugespitztheit, in der Kürze des Rhythmus der Gedanke enthalten. Die Elegie ist die Kunstform höchster Besonnenheit."

    In der dichterischen Form spiegelt sich also das Denken unmittelbar - spiegelt es sich als Verlusterfahrung von Natur. Damit schließt sich der Kreis wieder, den Riedels Buch in Nietzsches dichterischem Denken eröffnet. Nietzsche ist weder ein gelegentlicher Dichter noch ein abseitiger Denker. Er konzentriert sich auf zentrale Fragestellungen seiner Zeit, nämlich auf den Verlust der Natur im Industriezeitalter, vielmehr gerade dadurch, daß er diese Erfahrung dichterisch zum Gedanken formt.

    "In diesem Zusammenhang habe ich die großen Gedichte aus der Zarathustra-Zeit gedeutet, also das Südgedicht, 'Nach neuen Meeren', verbunden dem Nordgedicht 'Aus hohen Bergen' und gezeigt welche Rolle das Zarathustra-Epigramm spielt, das 'Sils-Maria'-Gedicht. All das habe ich getan um eine neue Sicht auf Nietzsche zu ermöglichen, die nicht verstellt ist durch die Dionysos-Theoreme und die Dithyramben-Kunst des spätesten Nietzsche."

    Gerade aber in diesen Gedichten öffnet sich nicht nur eine neue Perspektive der Nietzsche-Interpretation. Wie kann man denn Naturerfahrung in den dichterischen Gedanken erheben, wenn dieser - wie in der traditionellen Philosophie des Geistes - keinen Ort und keine Zeit hat? Wenn von ihm keine Himmelsrichtung und keine Höhe über dem Meeresspiegel angegeben wird? Nietzsches Vermittlung von Denken und Dichten kann sich nur um Natur drehen, wenn diese auch konkret ausgewiesen ist, wenn sie einen Ort hat. Dieser Erfahrung Nietzsches, mit der er das Denken revolutioniert, ist Riedel nachgegangen. Derart begreift er 'Nietzsches dichterische Welterfahrung' als "Freilichtgedanken". In deren Zentrum stellt Manfred Riedel den Werdegang von Nietzsche Gedicht 'Sils-Maria':

    "Hier saß ich, wartend, wartend, doch auf Nichts,/ Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts/ Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,/ Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel./ Da plötzlich, Freundin! Wurde Eins zu Zwei -/ - Und Zarathustra ging an mir vorbei. . ."